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Oktober 2022: Die essenziellen Alben (Teil 4)

Steffi – The Red Hunter (Candy Mountain)

Ihr viertes Studioalbum ist gleichzeitig das erste, das Steffi auf ihrem neuen, gemeinsam mit Virginia betriebenen Label Candy Mountain herausbringt. Gleichzeitig fungiert Candy Mountain auch als Name für das Studio der beiden, das sie in Portugal betreiben, und wo, folgerichtig, das Album entstanden ist.

Gewidmet hat Steffi es ihrer verstorbenen Mutter – was man den zehn Tracks durchaus anmerkt. Denn es ist eine getragene Melancholie, die die Platte vom sich sanft ausbreitenden Opener „Irreversible Cessation” bis zum ähnlich sehnenden Schlussstück „Casting Lovers” durchweht. Nicht falsch verstehen: ein Ambient-Album ist dies nicht. Vielmehr ein dunkel schimmernder, schwarzer Diamant aus verwobenen Atmosphären, schweren Beats, irgendwo zwischen Bass, Electro, Techno und Electronica, die durch verhallte Kavernen rollen. Melodien sind vorhanden, aber eher versteckt im Soundgeflecht, immer wieder gebrochen von archaischen Rhythmus-Artefakten.

Tracks also, die tanzen und sich in somnambulen Tiefen verlieren lassen. Eine dunkle Schönheit, die ihre Entdeckungsreise wert ist. Tim Lorenz

Steffi – The Red Hunter (Candy Mountain)

Suburban Knight – Hi8tus (Deeptrax)

Dieses Album ist ein Phänomen. Ohne Hintergrundwissen gehört klingt es wie ein inspiriertes US-Techno-Album, verwurzelt in der Detroit-Schule, aber frei von sturem Eins-zu-eins-Aufkochen der bekannten Sounds und Schemata. Liest man sich aber in die Vita des Projekts ein, verschiebt sich der Blickwinkel noch einmal erheblich. Hinter Suburban Knight steckt James Pennington, der zum erweiterten Kreis von Underground Resistance gehört, laut Presse-Info als Mentor von Mike Banks gilt und zum Komponist:innen-Team von einem der erfolgreichsten Stücke, die je aus dem Umfeld von Detroit-Techno gekommen sind, zählt: Inner Citys „Big Fun”! Und diese Liste könnte noch um einige Namen, Labels und Tracks erweitert werden. Als Solo-Künstler hat sich Pennington aber vergleichsweise zurückgehalten und seit 1987 nur ein gutes Dutzend Maxis und zwei Longplayer herausgebracht. Laut Info veröffentlicht er eben nur dann Musik, wenn es etwas zu sagen gibt. Stichwort: Zeitrelevanz.

Und tatsächlich könnten die Tracks auf Hi8tus genau so gut von einem 23-jährigen Freigeist erdacht worden sein, der sich irgendwo in einem Provinznest seinen Reim auf die Welt und 40 Jahre Techno macht, egal, ob das Ergebnis stilistisch auf House, Techno, Electro oder – wie eigentlich meistens – auf eine Fusion von all dem hinausläuft. Nichts wirkt museal, selbstreferentiell oder – wie gerne bei Altergenoss:innen Penningtons – augenzwinkernd. Genau so fehlt den Produktionen aber auch der vermaledeite sakrale, sich selbst viel zu wichtig nehmende Ernst eines Großteils seiner Weggefährt:innen – was für eine Wohltat. Mathias Schaffhäuser

Suburban Knight – Hi8tus (Deeptrax)

Theo Parrish – Cornbread & Cowrie Shells For Bertha (Sound Signature)

Das Herz schlägt links, und das Herz schlägt in Synkopen. Die Welt eiert halt ein wenig. Es ist die Meisterschaft des Theo Parrish, dieses Unrunde hörbar, nein, erfahrbar zu machen.

„Cleo’s Theme” etwa ist gleichzeitig die Vergangenheit des Jazz und seine Zukunft: klingt wie Ragtime, swingt wie wild, funktioniert jedoch auf mehreren Zählzeiten, mehrere Motive führen ein Eigenleben in Rhythmus. Eine Existenz in Beat! Wie auch „Play Thru Moon” mit seinen auseinandergenommenen Salsa-Programmierungen. Oder „Dance Alone”: das 18-Minuten-Stück taumelt umher und um sich selbst und gerät immer mehr in ein angenehmes Nichts. Denkbar weit entfernt ist es dabei jedoch von den üblichen tranceinduzierenden Stilmitteln. Es gibt keinen Hall, keine Delays, oder nur ganz spärlich Eingesetzte, alles ist staubtrocken, alles lebt von den minimalen Verschiebungen des Fender-Rhodes-Keyboards, punktuellen Bass-Dopplungen von Hauptmotiven, und diesem so schwer hinzukriegenden, eindrücklichen Nebeneinanderher an Mustern.

Parrishs Tracks „paradox” zu nennen, wäre ja schon die falsche Sprache, denn er liefert sie mit größter Selbstverständlichkeit aus. Das beatfreie „Real Deal” etwa gießt in großer Langsamkeit Soundflächen pastenartigen Zustands aus und klingt entspannt, vermittelt mit der Entspannung jedoch eine innenstadthafte Rauheit. „Hieroglyphen” halt, wie er selbst seine Tracks nennt.

Auf der Seite von Parrishs eigenem Label Sound Signature gibt es ein Mission Statement aus dem Jahr 1997. Dort hält Parrish die Rede vom radikalen Individualismus, denn jeder kennt nur die eigene Erfahrung – „No one else has walked your path, lived your vision.” Diesem auf die Spitze getriebenen Individualismus zu folgen und diese Hieroglyphen individueller Expression dennoch tanzbar zu machen, und feierbar, das ist Parrishs Verdienst. Christoph Braun

Theo Parrish – Cornbread & Cowrie Shells For Bertha (Sound Signature)

Vril & Rødhåd – Out Of Place Artefacts II (WSNWG)

Ein paar Jährchen kennen sich Mike Bierbach und Ulli Hammann nun schon, schrauben immer wieder an Tracks, kultivieren Ideen, driften weg im Studio. Unter ihren Aliassen Rødhåd und Vril zählen sie mittlerweile zur Speerspitze vorwärtsdenkender Techno-Musik – längst schon nicht mehr nur in Deutschland. Die entrückten Sets und Solo-Arbeiten der beiden werden weltweit geschätzt, gerade wegen ihrer idiosynkratischen Machart, die sich maßgeblich aus eigens entwickelten Samples, Shots und Sounds sowie einem unerhörten Gespür für Sequenzierung speist. Dabei mal mehr, mal weniger dem Zeitgeist entsprechend, hat auch ihr kollaboratives Projekt Out Of Place Artefacts offenbar von dieser langjährigen Zusammenarbeit profitiert und entwickelt sich nach dem grandiosen eponymischen Debüt von 2020 nun zu einer Wall Of Sound, auf der sich das Duo mit einer irrwitzigen Palette an Klangfarben austobt. Von aufwändigen Hochglanz-Produktionen wie „Nimbus MM” bis zu reduzierten Beat-Experimenten der Marke „Security Loop”.

Auf II pulsiert jeder Track als radioaktiver Monolith, zitternd aus der Wüste Gobi gegraben, voll subliminaler Botschaften und Blueprints für Myzeltechnologien. Höhen, Mitten, Tiefen – alles zeugt von genussvollen Jam-Sessions, klingt aber dennoch durchdesignt und unterm Strich zu menschlich, um nicht auch außerirdische Wurzeln zu haben. Wie beim Vorgänger zeichnet sich das überlebensgroße Kopfkino dieser Platte durch eine Produktion aus, die in kolossalen Texturen von hier bis Zeta Reticuli ragt und bei aller Grandeur trotzdem ganz ohne Worte auskommt – nun ja: fast.

Bemerkenswert bleibt nämlich, wie effektiv die beiden mit Artworks und wenigen Tracktiteln á la „Weltron”, „Astrolabium” oder „Kosmogenesis” das kryptische Narrativ ihrer Musik unterfüttern. Resultat ist eine zutiefst futuristische Ästhetik, deren Verästelungen durch Dub Techno hindurch in Richtung Ambient und Breakbeats wachsen, sich sanft um Drone und Dub schlingen, am Ende aber in etwas gänzlich Eigenwilligem aufgehen. Nils Schlechtriemen

Vril & Rødhåd – Out Of Place Artefacts II (WSNWG)

Waajeed – Memoirs of Hi-Tech Jazz (Tresor)

Beim Detroiter Produzenten Waajeed kann es für sein aktuelles Album nicht schaden, seinen bürgerlichen Namen zu erwähnen. Immerhin nennt er ihn selbst in der Nummer „The Ballad of Robert O’Bryant”. Kein Verächter von House- und Techno-Kreationen, die eine Spur drüber sind, hat er in diesem Titel gleich einen kompletten Bläsersatz untergebracht, um zu verdeutlichen, wie er das mit dem „Hi-Tech Jazz” meint. Auch in anderen Tracks wie „Motor City Madness” mit solider Acid-Basis gibt es als weitere Elemente ein gelegentliches Klavier im Hintergrund und Bläser, besonders prominent eine Soloposaune. „Acid Jazz” meint ja eigentlich etwas anderes, es ließe sich in diesem Fall aber auch auf Waajeeds Kombination anwenden.

Die politische Funktion seiner Musik könnte man durch die slicke Produktion fast überhören, doch wer sagt, dass Protest bloß in herausgebrüllten oder sonst wie eindeutig lauten Signalen artikuliert werden müsse? Am stärksten ist Waajeed gleichwohl in den Momenten, wo er zunächst an sich hält und seine Stücke langsam aufbaut wie in „Right Now”, in dem Beat und Akkordrhythmen vom Keyboard sich nach und nach verdichten, bevor in der zweiten Hälfte ein Saxofon für eine Art Drop sorgt, nach dem es dann wieder energisch weitergeht. Wie auch immer man zu der Mischung stehen mag, hat Waajeed bei alldem einen Swing, der so gar nichts mit dem zu tun hat, was gern mit dem Zusatz „Electro-” versehen wird. Resistance that you can sway to. Tim Caspar Boehme

Waajeed – Memoirs of Hi-Tech Jazz (Tresor)

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