Steve O’Sullivan – Dimensions 1&2 (Sushitech)
Seit den Neunzigern ist Steve O’Sullivan eine feste Produzentengröße. Inspiriert von Basic Channel und Maurizio schuf er mit seinem eigenen Label Bluetrain dubbige, minimalistische Clubtracks, die mal ravig oder housig daherkamen, dann wieder ultra-deep vor sich hin groovten.
Nun meldet er sich mit einem 16 Tracks starken Kollabo-Album. Darauf finden sich prominente Mitstreiter wie Ricardo Villalobos, Lawrence oder Markus Suckut. Wie wirkt sich dieses Aufgebot im Zusammenspiel mit dem individuell gereiften Sound eines Artists wie Sulllivan aus? Kann es überhaupt ein kohärentes Werk werden bei so vielen unterschiedlichen Mit-Produzent*innen?
In Tradition seiner langen Arbeit mit Mosaic findet sich O’Sullivan auch auf Dimensions und mit seinen Produktions-Partnern irgendwo im verschwommenen Grenzbereich zwischen House und Techno wieder. Dabei liefert er selbst gefühlt stetig eine Art Blaupause, einen Hintergrund, eine Farbpalette und eine Grundstimmung. Deep, bouncend, nicht zu verträumt – sondern immer auch mit einem Drive zum Tanzen. Und dabei doch stets pulsierend und dubbed out. Die Gäste streuen dann wiederum jeweils ihre eigene, besondere Note mit in die Tracks und zeigen so die ganze Bandbreite an Sounds auf Dimensions.
Der französische Produzent Brawther etwa bringt einen ziemlich reduzierten, schweren Groove mit gelegentlichen Vocalsamples ein, Perlon-Mainstay Thomas Melchior dagegen den Minimal-Vibe der 2000er. Der Hamburger Lawrence infiziert den O’Sullivan-Stil mit seinen warmen Synths, und Markus Suckut bastelt gemeinsam mit dem Gastgeber eine erstaunlich unaufgeregte Arpeggiator-Nummer. Am nächsten dran am Ur-Sullivan ist vielleicht die Kollabo mit dem Isländer Exos – kein Wunder, sind beide Produzenten ja bekennende Fans von Moritz von Oswald und Mark Ernestus. Den Rahmen auf Track 1 und 16 spannen übrigens die eindeutig von der Russin Soela beigetragenen, spacigen Synth-Sounds. Damit wird klar, wieviel Raum O’Sullivan seiner Riege von Gast-Artists auf diesem Album gibt. Es bleibt am Ende vielleicht gar nicht so viel von seiner eigenen Handschrift übrig. Aber gerade dieses Kunststück – sich selbst bescheiden zurückzunehmen, den Gästen das Feld zu überlassen und am Ende doch ein in sich geschlossenes Album vorweisen zu können – ist ihm bestens gelungen! Leopold Hutter
Sven Väth – Catharsis (Cocoon Recordings)
Katharsis: seelische Reinigung als Wirkung der antiken Tragödie; psychische Reinigung durch das Ausleben von inneren Konflikten und Emotionen. Die letzten beiden Corona-Jahre waren in der knapp 40-jährigen Karriere von Deutschlands einflussreichstem DJ sicherlich nicht die leichtesten. Dennoch ist Catharsis nicht einfach eine Ersatzbaustelle. Ursprünglich zur gemeinsamen Produktion der Feiern-EP zusammengekommen, hatte das Gespann aus Gregor Tresher und Sven Väth in den vergangenen Monaten einen echten Lauf und zelebriert zusammen das sechste reguläre Studioalbum von Babba Väth.
Der Opener „What I Used to Play” ist dabei durchaus als Programm zu verstehen, „my musical footprints from different decades” oszillieren durch den Klangraum, und ja, dabei darf auch wieder Sven Väths bassbetonte Stimme die besonderen Wiedererkennungswerte setzen. In diesem Sinne hatten schließlich auch die Vorauskopplungen „Mystic Voices” und vor allem „Feiern” das Feld bestellt, aber damit ist das Spektrum des Dreamteams aus Väth und Tresher im Jahr 2022 nur angerissen. Auch hochfrequente Schädeldeckenbearbeitungen wie „The Worm”, futurisch acidinspirierte Noiseattacken („Nyx”) oder tribale Vollbedienung mit orientalem Einschlag („Catharsis”) etablieren sich auf modernistischen Tanzflächen mit weniger Hang zum Song. Und nicht zuletzt machen Listening-Juwele wie die romantische Electro-Liebeshymne „The Inner Voice” oder der gravitätische Ambient-Traum „Panta Rhei” ein rundum gelungenes Album komplett. „We are what our thoughts have made us” – in der Tat, besser hätte es niemand zusammenfassen können. Jochen Ditschler
Tangerine Dream — Raum (Kscope/ Eastgate)
Kscope, dessen Geschichte mit der Veröffentlichung von Werken vor allem aus der Feder Steven Wilsons, Kopf der Band Porcupine Tree, begann, veröffentlicht nun die bereits zweite Platte der Formation Tangerine Dream. Um den Kreis künstlerischer Verbindungen zu schließen: Wilson, selbst Enthusiast elektronischer Musik, veröffentlichte im Jahr 2019 eine Ladung Remixe der Band auf selbem Label. Namentlich die Alben Phaedra, Ricochet und Rubycon, die neben dem ebenfalls in den 1970ern erschienenen Stratosfear zu den Höhepunkten der Geschichte von Tangerine Dream zählen. Alles etwas älter, aber alles gut gealtert und zeitlos schön und wert, weiter gehört zu werden. Die Zeit der Band reicht weit zurück ins Jahr 1970, und trotz des Todes von Edgar Froese, Gründungsmitglied und einzige menschliche Konstante, im Jahr 2015 scheint sie längst nicht vorbei. Genug an Material, musikalisch und visuell, hat er hinterlassen, um der derzeitigen Besetzung aus Ulrich Schnauss, Thorsten Quaeschning, Hoshiko Yamane und Paul Frick Grundlagenmaterial zu bieten für weitere Alben in der bereits jetzt schon unendlich langen Liste.
Raum klingt wie Tangerine Dream, was schon mal gut ist. Doch spürt man klar den Sound der neuen Mitglieder, der frischen progressiven Wind in die Progressive Electronic bringt. „Continuum”, die erste Nummer, beginnt mit Drums, die an die mittleren Talk Talk erinnern, und gleitet dann in warme Sphären weiter, vom minimal-melancholischen Schnauss-Sound hörbar geprägt. „Portico” zum Beispiel erinnert in seinem Klang entfernt an Jon Hopkins. Mag aber auch Projektion sein, vermutlich hat der das ja auch von Tangerine Dream selbst. „In 256 Zeichen” ist – neben „Raum” eins der epischen Stücke des Albums. Die Vergangenheit von Tangerine Dream, die nie bloß Knöpfedreher waren, sondern stets auch Band mit „richtigen Instrumenten”, hört man hier in der akustischen Instrumentierung, die besonders zum Warmen des Sounds beitragen. Der Titeltrack ist Tangerine-Dream-Peak-Performance. Wie ein Soundtrack zu einem Film, der auch ohne physische Bilder auskommt, eine Reise unter Wasser und durch die Lüfte, kitschig schön, zartseiden und profund zugleich, heftig episch-brutal und wie eine Wolke alsbald sich auflösend.
Man kann sich, wie Simon Reynolds, intellektuell mit der wahnsinng einflussreichen und weitreichenden Geschichte der Band beschäftigen. Man kann sich aber auch einfach eine beliebige Platte der Band schnappen – die im Übrigen auch zuhauf second hand für ein Taschengeld zu haben sind und so gut wie immer ein Traum – und sich dieser ganzkörperlichen Erfahrung hingeben. Nicht jeder Song ist immer ein Überhit, aber jeder betört doch auf seine Art, allein durch seinen unverkennbaren Klang. Lutz Vössing
Teno Afrika – Where You Are (Awesome Tapes From Africa)
Gegen Teno Afrika kann selbst der gute alte Minimal Techno überladen wirken. Was der südafrikanische Produzent mit seinem Amapiano-Stil an Reduktion vormacht, ist bemerkenswert aufgeräumt. Seine Fortentwicklung von Kwaito lässt reichlich Luft zwischen den Klängen, schafft Komplexität aus spärlich programmierten Beats, erlaubt lediglich kaum als solche zu erkennende Melodieansätze.
Dass in der Titelnummer, mit der sein zweites Album Where You Are einsetzt, sogar zurückhaltend gesungen wird, darf darüber nicht hinwegtäuschen. Bleibt die Ausnahme. Die Klänge werden bei ihm auch nicht, anders als im eingangs genannten Minimal, einer stetigen Verfeinerung unterzogen, sondern sind schlicht präzise platziert und verrichten, einmal in Gang gesetzt, zuverlässig ihren Dienst, Variation durch übermäßige Effekte nicht erforderlich. Pochende Bässe gestattet sich Teno Afrika hin und wieder, doch selbst die bleiben sonst lieber im Hintergrund. Überhaupt ist seine Musik von einer dringlichen Sanftheit, die entwaffnet. In „Halaal Flavour” huldigt er mit einem klassischen Drumfill (Carlton Barrett in Bob Marleys „Three Little Birds”?) sogar kurz dem Reggae als Einfluss, eine knappe Sekunde lang. Das muss langen. Tim Caspar Boehme
The Detroit Escalator Company – Soundtrack [313] + 6 (Musique Pour La Danse) (Reissue)
Der Markt für Wiederveröffentlichungen von vergriffenen Klassikern ist nach wie vor groß. Immer schwieriger dagegen wird es für Labels, unter den echten Klassikern die zu finden, die noch immer vergriffen sind und denen noch immer keine Wiederveröffentlichung zuteil wurde.
1996 erschien auf dem von Russ Gabriel ins Leben gerufenen Label Ferox dieses Ambient-Detroit-Techno-Meisterwerk von Neil Ollivierra, einem multidisziplinär aktiven Künstler aus dem Umfeld des legendären Detroiter Afterhour-Clubs The Music Institute Ende der Achtziger. Kaum zu glauben: Das war sein Debütalbum!
Zum 25-jährigen Jubiläum verpasst das schweizer Label Musique Pour La Danse diesem Meilenstein eine wohlverdiente Luxusfrischzellenkur. Neu gemastert wurde natürlich von den originalen Files und mit der sogenannten Half-Speed-Mastering-Methode. Bei dieser laufen sowohl die Zuspielung von der Bandmaschine oder dem Computer als auch die Schneidapparatur mit halber Geschwindigkeit. Auf diese Weise lassen sich Grenzen des analog Machbaren noch weiter ausreizen und klangliche Vorteile erzielen.
Das Klangmaterial dieses damals schon fantastisch klingenden Albums ist wie geschaffen für diese Masteringmethode und schafft trotz noch mächtigerer Klangfülle eine noch größere Transparenz. Weitere Boni sind vier Tracks extra auf Vinyl, sechs auf CD und digital, Liner Notes vom Komponisten selbst, eine fotografische Collage, 180 Gramm Vinyl auf 45RPM geschnitten.
Die einnehmende Wärme aller Stücke ist bis heute unerreicht und spiegelt einen der absoluten Höhepunkte der aus Detroit stammenden, futuristisch bis leicht dystopisch anmutenden Melancholie wieder. Kopfhörer auf und wegtauchen. Richard Zepezauer
Your Planet Is Next – Mr. Music (Studio Barnhus)
Größenwahn, dein Name sei Your Planet Is Next. Was der Stockholmer Arvid Wretman unter dem schiefen Nom de Plume verantwortet, ist auf gar nicht mal unsympathische Art und Weise vollkommen selbstüberschätzend. Die Figur, die er als Vehikel für seine kokette Ausschweifungen geformt hat, nennt sich dann auch Mr. Music; drunter macht er es nicht mehr.
Als Alien mit dem Auftrag die Erde zu erobern kommt er nun mit dieser Untertasse eines Albums daher – zur Welteroberung fehlt noch das ein oder andere Körnchen. Tanzflächen sollte er dennoch einnehmen können. Ab vom ganzen Lore, der mit dieser Platte frei Haus geliefert wird, ist das – je nach Zählweise bereits siebte Album – eine ganz schöne Reise durch die elektronische Tanzmusik. Da wird sich auch gerne mal von Digi-Dub bis zu Chicago House, Wave und Leftfield alles angeeignet, was sich nicht wehrt.
Electro-Jack-Beats treffen fürderhin auf Ambient-Flächen, Boogie auf Motorik-Beat: Mr. Music lässt nichts aus. Eine wirklich große Leistung ist derweil, dass die Platte nie droht, auseinanderzubrechen. Was das bewirkt, ist gar nicht so klar; eine gewisse Handschrift hält immer wieder alles zusammen. Der bereits benannte Größenwahn ist hier in gewisser Weise eben auch ein guter Autor – off ist das neue Normal. Und das hier folglich gewöhnliche, schräge Tanzmusik. Lars Fleischmann