10 Yahre AVA. Records (AVA.)
AVA. Records bläst zehn Kerzen vom Plattenteller – für yedes yahr, yeah! Zur Sause gibt’s vier Platten, Schlüsselanhänger, ein Magazin, haufenweise Sticker und ein hässliches T-Shirt. Sei’s drum, das Label um Damiano von Erckert muss nicht zum Urban Outfitter der Houseszene werden. Gute Mukke reicht schon! Die liefert AVA. seit einem Jahrzehnt wie ein DHL-Fahrer auf Kokain. Für das runde Ding wird trotzdem nicht gekleckert. Zum Geburtstags-Bukkake stellt sich der Labelroster auf, der Chef macht mit, bum: 22 Tracks zwischen Andy Hart und Paingel, Am Kinem und Cinthie, Tito Wun und Wolfey platzen in den Technokeller.
Manchmal klappern die Bongos, dann wieder die Zähne. Die Synthesizer versammeln sich beim Jahreskongress für Vintage-Möbelstücke auf Ibiza. Ab und zu glimmt ein Räucherstäbchen in der Dunkelheit. Die 90er spechteln heimlich durchs Schlüsselloch. Huch! Hauptsache die Kickdrum pendelt sich auf zeitgenössisches Stoßtempo ein. Wer dazu nach zehn Years immer noch abjackt wie ein Bibelfreak bei der Eucharistiefeier, ist gekommen, um zu bleiben. Happy Birthday AVA. Auf die nächsten zehne! Christoph Benkeser
Buganda Royal Music Revival (Nyege Nyege Tapes)
Es ist ein Wunder, dass sich die Klänge nicht zu einem nicht zu bändigenden Chaos aufbäumen. Streichinstrumente, Trommeln, Blasinstrumente wie Flöten oder Trompeten, Schlaginstrumente wie Xylophone erzeugen versetzte Töne, deren unterschiedliche Rhythmen sich kunstvoll verzahnen. Mal ist es nur eine Art von Instrument, dann sind es viele unterschiedliche, die sich gemeinsam hochschrauben. Bei manchen Stücken kommt Gesang dazu, der sich in ein Wechselspiel mit den Instrumenten begibt. Der polyrhythmische Sog, den die Musiker*innen bei den Stücken auf Buganda Music Revival erzeugen, ist vergleichbar mit den kraftvollen Wiederholungen von Rave-Tracks.
Diese Compilation hält diese einnehmenden Sounds fest, gibt einen Einblick in die Musikgeschichte des Königreichs Buganda, die heute fast vollständig in Vergessenheit geraten ist.
Am Hof des Königs von Buganda, das in der Zentralregion des ostafrikanischen Staates Uganda liegt, in dem sich auch die Hauptstadt Kampala befindet, spielte seit seiner Entstehung im 14. Jahrhundert Musik eine wichtige Rolle. Hofmusiker*innen spielten die zeitweise wohl über 300 Instrumente, über die der Hof verfügte. Aufnahmen einiger dieser Musiker*innen aus den 1940er- und 1950er-Jahren, als Uganda britische Kolonie war, sind auf der Compilation zu hören. Mit der Unabhängigkeit 1962 und der Abschaffung des Königreichs 1966 verstreuten sich die Musiker*innen. In den folgenden Jahrzehnten bis zur Wiedereinsetzung des Königreichs 1993 als kulturelle Institution ging ein großer Teil der Musiktradition verloren. Manche Musiker*innen sind mittlerweile gestorben, andere stark gealtert. Nur wenige haben ihr Wissen und die Instrumente weitergeben können.
Die 2020 erschienene Dokumentation Buganda Royal Music Revival porträtiert einige der verbliebenen Musiker*innen und junge Nachfolger*innen. Es ist ein teilweise sehr persönlicher Einblick in die Trauer und das Unverständnis darüber, dass ihre Instrumente und die Musik im heutigen Buganda kaum eine Rolle spielen und in Vergessenheit geraten. Am Ende kommen die geknickten Musiker*innen zu einem Schluss: Sie wollen ihr Wissen an die nächste Generation weitergeben, so lange es noch geht. So enthält die auf Nyege Nyege erschienene Compilation Buganda Royal Music Revival auch neue Aufnahmen, die während der Arbeit an der Dokumentation entstanden sind. Sie zeigen, dass noch Leben in der königlichen Musik von Buganda steckt, das vielleicht wieder aufblühen kann. Philipp Weichenrieder
fabric presents Sherelle (fabric)
Verrückt! Jungle war nie weg, ist jetzt aber wieder da. Für den Mix sucht sich fabric mit Sherelle den gerechten Hype der vergangenen Monate, und siehe, es footworkt, es funkt & funzt. Los geht es gleich ohne Tempolimit, mit famosen 160er-Fantasmen, nur dass es eben bis Dev/Nulls „DarkPhase“ und daher bis zum dritten Track braucht, auch wirklich mal in der Halbzeit zählen und tanzen zu können, denn Cloud9 mit „You Got Me Burnin‘“ sowie „Globex Corp. Vol. 1“ von Dwarde & Tim Reaper haben diese Warehouse-Straightness bei voller Abfahrt. Sherelle macht ihr Ding in London, betreibt das Label Hooversound und gehört zur Club-Music-Crew 6 Figure Gang, hatte einen Aufsehen erregenden Gig bei Boiler Room und landete so auch auf einem Gast-Spot bei BBC Radio One.
All dies mit ihrem erwachsenenfreien Spielen-und-Tobe-Spirit. Für zwei Minuten schaltet sie auch mal einen runter, via Midzones „The Path, Pt. 2“ etwa, doch beinahe als Geste der Entschuldigung folgt dann auch wieder Aphrodites „Feel Real“ mit Lindwurm-Bass und verstärktem Bauchgrummeln. Sie schafft es gar, in diesem ganzen, langen Mix ihr eigenes Stück „Jungle Teknah“ unterzubringen, dicke Empfehlung, auch wenn er sehr klassisch angelegt ist mit hochgepitchtem Amen-Break und Abendhimmel-Flächen.
Denn klaro finden sich auch die Neuerungen der Breakbeat-Musik in Sherelles Mix, Footwork etwa: DJ Rashad wird mit Addison Groove und Basic Rhythm mit RP Boo in den Topf geworfen und scharf angebraten. Zeit, diese englische Feuermusik neu zu entdecken, oder: wieder. Christoph Braun
Infinite Machine 10 Years Compilation (Infinite Machine)
10 Jahre ist es bereits her, dass xWOLFx, der bist dato für seine Label im Hardcore/Screamo-Bereich geschätzt wurde, sich an das Dance-Imprint Infinite Machine heranwagte. Gutes Timing, denn sein digitaler Approach des Internetzeitalters verband sich mit dem DIY-Ethos der früheren Projekte und schuf ein Dance-Label, dass gleichzeitig ultra-modern und doch grassroot geblieben ist.
10 Jahre down the road, Zeit eine erste Compilation zu veröffentlichen. Wer Infinite Machine noch nicht auf dem Radar hatte (kein Wunder, da sich der Sound abseits der ausgetretenen Pfade abspielt), bekommt jetzt die Chance zum Nachhören.
Infinite Machine war anfangs zwar stark auf Dance-Tracks spezialisiert, und das hört man den hier vertretenen 19 Nummern auch noch an, allerdings sind sie ausgereift – es sind eigenständige Konzepte, Soundcollagen und Soundtrack-hafte Skizzen geworden, die ein frenetisch die Form änderndes, aber dennoch ganzheitliches Etwas geschaffen haben.
Die Rhythmen oft synkopiert und teils am UK Underground ausgerichtet, die Synths oft schräg und vielleicht noch am ehesten aus Grime & Co. bekannt – so scheint der Sound von Infinite Machine eher einem digitalen Blueprint der Zukunft entnommen, anstatt sich an Genre-Begrifflichkeiten der Vergangenheit zu orientieren.
Klar, es gibt Reminiszenzen an schwergewichtigen Dubstep, z.B. „Forged” von Only Now, ein metallisch scheppernder und schwankender Tune à la Tectonic oder das Triphop-esque „Motorcycle Angel” von Gaul Plus mit seiner streetwisen Atmosphäre. Aber wieder sind dies nur annähernde Vergleiche aus einer Dance-Vorlage der Gegenwart. Cyberpunk trifft es dann doch am besten, möchte man das Gefühl dieser Compilation auf den Punkt bringen.
Wer sich an dystopischen Zukunftsvisionen im Sci-Fi-Universum nicht sattsehen kann, findet hier den passenden, perkussiv getriebenen Soundtrack als Gegenstück zur episch-ambienten Version von Vangelis. Battle Angel Alita, die kürzliche verfilmte Mangareihe, mit seiner asiatisch angehauchten, Cyborg-bevölkerten Schrottstadt scheint der perfekte Schauplatz für diese Compilation, die sich wie ein unwiderstehlicher Flickenteppich aus Bildern und Emotionen im eigenen Bewusstsein ausbreitet.
Viel Kopfnicken, Beats und Grooves sind inklusive, keine Frage. An der richtigen Stelle in einem Set platziert, würden diese abseitigen Dance-Floor-Hybride immer noch gut einschlagen; sei es die 4/4-getaktete, von langsamen Stabs und Cowbells getragene „Virtual Rave Destruction“ von Sistema Aero oder das steppige „Volcanic December“ von Ma Sha Ru, das mit seinen Vocals wie Nina Kraviz auf Digi-Dubstep klingt.
Schlussendlich muss man diesem Label seine sture Eigenheit und den strikten DIY-Ethos zu Gute halten. Auch wenn nicht jedes Release der letzten 10 Jahre ein Treffer gewesen sein mag, so attestiert diese Werkschau dem außerhalb seiner Kreise eher unbekannten Künstlerstamm eine gewisse Reife und vor allem ein bemerkenswertes Vorantreiben dieser stilistischen Nische. Eine hochaktuelle Reflektion unserer kulturellen Entwicklungen im Zeitalter des Internets und Cyberspaces – dem Metaverse und seiner Musik – die sich erfrischender Weise zu hundert Prozent nach vorne richtet, anstatt auf ausgelutschte Tropen und Nostalgie zurückzugreifen. Leopold Hutter
No More Shitty Years (Tax Free)
Zum Ende eines shitty year noch mal aus dem Vollen schöpfen: Tax Free Records, eines der wenigen Berliner Labels, das tatsächlich noch nach neuer, ungewöhnlicher Musik forscht und keinem Businessplan folgt, bringt einen 42 Stücke starken Bandcamp-Sampler ins WWW, der den in diversen Genres beheimateten Sound des Labels hochaktuell vorstellt. Alle voran Max Graef, der hier mit Pseudonymen wie Employee und Iris oder als Teil von Projekten wie Abdul, Byproduct oder GRRRR gleich mehrfach unterstreicht, dass seine künstlerische Sprache weit von dem entfernt ist, für das er vor ein paar Jahren noch gefeiert wurde. Sample-House war gestern. Heute lieber handgemachte Exotica, Digi-Dancehall, Minimal-Electro, Avantgarde Surf, experimenteller Gitarrentrance und Westcoast-Funk aus dem Osten!
Aus Köln stoßen seine Kumpels von Montel Palmer hinzu und bringen ungeschliffenen Fun-House mit. Ihr Mitglied TBZ ist auch solo mit psychedelischem Dub-Trance und bekifften Grooves zu erleben. Ebenfalls aus der Domstadt: Montel Palmer Genosse Peter Graf York, der hier nicht mit dubbiger Electronic triumphiert, sondern Acid um die Ecke denkt, sowie Hipólito und sein exzellenter, an den frühen Craig Leon erinnernder Synth-Funk. Was die Hauptstadt angeht, so präsentiert No More Shitty Years extrem viele Facetten der lokalen Musikkultur. Die Hypnotiseurin Laure Boer, sonst eher in der analog-elektronisch angetriebenen Avantgarde zuhause, betört mit fabelhaftem Metalblues.
Jürgen Ratan, kreativer Kopf hinter dem Berliner Label Beatbude, lässt freudestrahlend schmunzelnde Melodien funken, die Produzentin Yosa Peit kratzt manisch charmant das Dubgenre auf und die in Berlin ansässige New Yorkerin Wilted Woman drückt Acid einen weiteren, bizarren Stempel auf. Mit Robert Bergman, Lyckle De Jong, Innocent Moratorium, O.G. Jigg und Lord Tusk sind auch befreundete Künstler aus den Niederlanden und Großbritannien zu hören, die originell Techno, Industrial und experimentelle Elektronik gegen den Strich bürsten. 42 musikalische Fantasien, perfekt geeignet für den Einstieg in die launenhaft entfesselte Abenteuerwelt von Tax Free Records und zugetanen Labels wie Beatbude oder Termina aus Berlin, Planet Rescue aus Köln und Brew aus Amsterdam. Michael Leuffen