Es gibt Musiker*innen, über deren Namen stolpert man immer wieder im Laufe der Jahre, auf Cratedigger-Compilations, als Einfluss, als wertgeschätzte Referenz oder als Beteiligte, die aber doch nie groß (nichtmal klein) herauskamen. Der Franzose Thierry Müller ist so einer. Seit den mittleren Siebzigern aktiv, hat er vorahnend mit so manchem experimentiert, das später mal populär oder zumindest in gewissen Kreisen zum Kult würde. Etwa verspielter Industrial-Prog mit Crash, forcierte Gender-Verwirrung im Post-Wave-Industrial-Projekt Ruth oder das, was heute als Neoklassik und Dark Ambient bekannt ist, mit Ilitch. Unter letzterem Alias gibt es mit White Light (Bisou Records, 2. Dezember) nach längerer Pause wieder ein Album, dem es tatsächlich sehr gut gelingt, zwischen früher und heute, zwischen Ambient, Electronica und Weirdo-Prog zu vermitteln und dabei noch alte Weggefährten wie Jac Berrocal und Quentin Rollet sowie Generationen jüngere wie Mushy, Aaron Moore und Nick Littlemore von Empire of the Sun einzubinden.

Für das bereits im Okober erschienene Starlight and Still Air (Beacon Sound) von Starlight Assembly ist es Dominic Appleton, der die integrative Figur darstellt, die seit den frühen Achtzigern an den entscheidenden Stellen mitgewirkt hat. Etwa als Sänger auf dem Album, das für diese Kolumne und alles, was mit ihr zusammenhängt, einmal stilistisch definierend war, nämlich Filigree and Shadow von This Mortal Coil. Für Starlight Assembly hat sich Appleton den Laptop-Elektroniker und Produzenten Matteo Uggeri und viele Gäste, jung und alt, dazu geholt. An das nicht wiederholbare Momentum der neuen Sanftheit, das die besten This-Mortal-Coil-Stücke bis heute unvergleichlich macht, kann das Album nicht heranreichen, will es aber auch gar nicht. Ein gut experimentelles, leicht trauriges, leicht avantgardistisches elektronisches Pop-Album ist mehr als genug.

Der 2015 gestorbene Japaner Susumu Yokota mag vielleicht nicht zum ganz großen Namen der Szene geworden sein, der Einfluss, den er auf die elektronische Musik insgesamt hatte und bis heute hat, ist allerdings kaum zu unterschätzen. Auf der Basis der Erfahrung als DJ und Produzent von Techno und House seit den beginnenden Neunzigern hatte Yokota eine spezifische Ästhetik der Electronica entwickelt, die sich auf klassische japanische Ästhetik und Eigenheiten bezog, darin aber doch stets global und anschlussfähig blieb. Diese spezielle Sensibilität wirkt bis heute frisch und inspirierend. So wundert es nicht, dass es rund um den Globus noch zahlreiche Menschen gibt, die sich mit seinem Erbe beschäftigen. Zum Beispiel in der Schweiz, wo auf dem Genfer Label Mental Groove nun eine Nachfühlung und Neuerfindung von Yokotas japanischstem und wohl schönsten Album Sakura erscheint. Eingespielt auf der akustischen Gitarre von der klassisch geschulten Ayane Shino, wird Sakura nicht im engeren Sinne gecovert oder dekonstruiert, ebenso wenig geremixt. Im Gegenteil, Shino fühlt sich ein, komponiert den Klassiker neu und setzt ihn auf spezifische eigene Weise auf seinem Instrument der Wahl um, weswegen sich Sakura [The Timbre Of Guitars #1: Susumu Yokota 横田 進] (Mental Groove/We Release Whatever The Fuck We Want Records) nicht weniger zeitlos anfühlt als das Original von 1999.

Allgemein ist es allerdings nicht gerade die leichteste Übung, so heikle wie schwer fassbare Begriffe wie Identität, Nationalität, Geschichte oder gar Heimat in Klängen unterzubringen, ohne auf etablierte Muster wie Volksmusik oder Folk, Traditional und Klassik zurückzugreifen. Also eine wie auch immer verstandene Identität ästhetisch zu fassen versuchen und nicht inhaltlich, etwa über Lyrics oder Kontext. Wie so etwas doch gelingen kann, ist besonders häufig in Japan gezeigt worden, von den Pop-Dekonstruktionen des Yellow Magic Orchestra zu den Synthesizer-Minimalismen der Environmental Music Kankyô Ongaku der Achtziger Jahre. Einen anderen spannenden und total eigenwilligen Ansatz auf der Basis von geloopten Samples verfolgt aktuell Meitei / 冥丁 aus Hiroshima. Seine digitalen Klangcollagen von mürben Archivaufnahmen und vergilbten Tapes schaffen es binnen Sekunden ein Gefühl vom Alten Japan hervorzurufen, obwohl alles an Meiteis Sound modern ist und eindeutig vom instrumentalen Hip Hop kommt. Die dekonstruierte Nostalgie und die brüchige Melancholie von Kofū II / 古風 II (Kitchen Label, 10. Dezember) ist eben keineswegs rückwärtsgewandt, die Identität, die hier gesucht wird, nicht reaktionär, sondern vielfach gespiegelt und gebrochen modern.

Der Ansatz des Sound-Art-Produzenten Yolabmi ist da schon näher an der Kankyô Ongaku und übersetzt sie in die Jetztzeit. Die Soundscapes des Tapes Before Your Past Lives (Muzan Editions) verbinden Feldaufnahmen von Natur, Wind und Wasser mit minimalen Modularsysnthesizerklängen, gerne pure Sinuswellen, die von den Field Recordings aufgeraut werden, manchmal in ihnen aufgehen, manchmal mit ihnen kontrastieren. Jeweils in einer Klangästhetik, die ihre Herkunft nie verleugnet immer und unmittelbar „Japan” sagt.

Chie Otomi aus Osaka kommt dem originalen Kankyô Ongaku mit dem Tape Touch Again (Muzan Editions) noch näher. Die behutsame Modernisierung der Sounds eines einfachen FM-Synthesizers, wie sie etwa von Hiroshi Yoshimura in meditativ-simplistischer Reinform praktiziert wurde, gelingt Otomi in lässiger Perfektion. Eleganter hat japanischer Ambient in Nachfolge der Environmental Music selten geklungen.

Das dritte Tape der Herbst-Winter-Kollektion der Muzan Editions aus ehemals Nara und inzwischen Osaka baut noch mehr gobale Brücken von einem dezidiert japanischen Verständnis von Ästhetik zur globalen (Post-)Clubmusik. Der Kanadier Chad Munson unterzieht seine gefundenen und synthetisierten Sounds auf Sources (Muzan Editions) einer tiefen Dub-Techno-Behandlung, die sich eventuell von rauschend knisterndem Ambient zu einem geraden Beat verdichten kann, aber nie muss.

Der in Berlin lebende Produzent und Mastering-Studiobetreiber Yu Miyashita, der es geschafft hat, im Künstlernamen Yaporigami mehr als ein Japan-Klischee ironisch zu verarbeiten, greift die Post- oder Meta-Club-Ästhetik auf und fügt noch einige aktuell beliebte Elemente wie Breakbeat und Terror-Bass hinzu, ohne den guten alten Dub zu vergessen. Die Sounds des Tapes IDMMXXI-R (The Collection Artaud, 10. Dezember) bleiben jenseits aller Rave-Abstraktion immens körperlich und direkt.

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