Vermutlich werden nicht wenige der hier erwähnten digital-elektronischen Produzentinnen und Produzenten nicht direkt von ihrer Musik leben können und ihre Existenz zum Beispiel mit Programmieren oder Systemadministration absichern. Dass sie ihre musikalische Inspiration direkt aus diesem Broterwerb ziehen, dürfte dagegen eher selten passieren. Der Berliner Produzent und False-Industries-Labelbetreiber Yair Etziony hat auf ENXIO (Lamour Records, 5. März) seine Erfahrungen als IT-Experte in einem Berliner Startup verarbeitet, einer dieser grandiosen Ideenschmieden, die relativ flott grandios gescheitert sind. Das Album ist also ein Nachruf, ein Nekrolog, Elegie einer sterbenden Softwareschmiede mit den Mitteln von orchestralem, neoklassisch inspiriertem Dark Ambient. Ein ungewöhnlicher und interessanter Ansatz, um mit Musik persönlich zu werden. 

Die vielseitige norwegische Komponistin Maja S. K. Ratkje hat über die Jahre ebenfalls eine Art von Offenheit kultiviert, die zwischen harschem elektronischem Power Noise, filigranen Stimmexperimenten und beinahe-Neoklassik keine qualitiativen Unterschiede machen will. So ist jede neue Arbeit im Kontext von Ratkjes Eigenwilligkeit jedesmal wieder überraschend, anders und neu. Vannstand (Motvind Records, 12.März) etwa, eine Sammlung von Klanginstallationen, collagiert Field Recordings von Stränden und Kinderstimmen, Flöten und Tröten, setzt Geschrei und Ruhe, Natur und Kontemplation, Noise und Stille in Eins.

Die musikalische Freundschaft von Noise und Free Improv, von E-Gitarre und Kontrabass, von Norman Westberg & Jacek Mazurkiewicz endet bei aller notwendigen Dunkelheit auf First Man in the Moon (Hallow Ground , 12. März) doch meist in Herz- und Bauchgegenden erwärmenden Drones, die in aller spielfreien Experimentalität und ungewöhnlichen Verwendung ihrer Instrumente doch immer geplant, strukturiert und damit zugängllich, ja, freundlich sind.

Pop und Apokalypse sind nie Antipoden gewesen, in diesen Tagen passen sie allerdings wieder mal besonders gut zusammen. Die von Elvin Brandhi kuratierte Compilation Apocope (C.A.N.V.A.S) lebt das Wechselspiel der Gegensätze in experimenteller Elektronik aus. Die Produzentin des extravaganten wie transnationalen Londoner Labels C.A.N.V.A.S. spielt hier wiederholt die starke Verbindung des Labels mit der jungen elektronischen Avantgarde der ägyptischen Metropole Kairo aus. Pop meint hier von Feedback verzerrten, in kleinste Teile geschredderten EDM-Mainstream, der mehr als einmal in den Abgrund gestarrt hat und als Improv-Weltuntergang überlebt, einfach weitermacht mit Kreation und Kreativität.

Die ähnlich diverse und internationale Kompilation Intermission (Unsound, 5. März) des polnischen Unsound-Festivals und -Labels (nicht zu verwechseln mit, aber vergleichbar interessant wie das niederländische Label Unsounds) gibt nicht nur die stilistische Breite und experimentelle Tiefe der Live-Sets des Festivals in einem Mix von Nicolas Jaar in konzentrierter Form wieder, es dokumentiert die Konzerte zusätzlich in Buchform. Das Doppel-Vinyl gibt den assoziierten Künstler*innen ebenso Platz für exklusive neue Stücke. Stilistisch ebenso umgreifend geht das Programm von arrangierten Vogelstimmen und Field Recordings über elektroakustische Komposition, Free Improv, polnische Avantgarde-Folklore und orchestrale Neoklassik bis hin zu einem abstrakten Wiederhören von SOPHIE. Die Mitspieler*innen sind mal extrem bekannt, mal komplette Newcomer, von Reykjavik über Nairobi bis nach Hongkong und darüber hinaus reicht diese Welt, nicht nur musikalisch.

Der Freitag vor der Tagundnachtgleiche im Frühjahr jeden Jahres ist seit 2008 der World Sleep Day, an dem die Freuden des gesunden Schlafs gefeiert werden sollen. Und den Problemen gedacht, die aus dessen Abwesenheit folgen. Heuer am 19. März hatte der Tag nicht nur ein Motto – „Regular Sleep, Healthy Future” –, sondern auch einen Soundtrack, eingespielt an ebenjenem Tag vor zwei Jahren von Johanna Knutsson & Sebastian Mullaert. Die achtstündige (!) Live-Improvisation Live At De Waalse Kerk 2019 (Circle of Live, 19. März) in einer mit Matratzen und Decken ausgelegten Kirche führt im Rahmen der – in diesem Zusammenhang tatsächlich zwingenden – wegdämmertauglichen Ambient-Klänge vor allem zwei Dinge vor Augen: Die bewährten schwedisch-berliner Techno-Player Knutsson und Mullaert können sogar im Rahmen einer großen Nacht- und kleinen Schlafmusik ihre Ideen von Loop und Rhythmus realisieren. Selbst wenn der unterliegende Beat nie explizit wird, ist er immer mitgedacht und wird früher oder später von Kopf und Bauch ergänzt. Der im Wortsinn gemeinte Soundtrack zum Träumen ist also ebenfalls ein Phantom im Sinne Ellisons. Was bei diesem Mammutwerk aber vor allem auffällt, ist, wie viel Inspiration und Können notwendig ist, um die acht Stunden mit gleichbleibend flächig sanft anbrandenden Sounds zu füllen, ohne je langweilig oder vorhersehbar zu werden. Also immer ruhig und gelassen zu bleiben, aber nie öde zu werden. Das ist schon eine beachtliche Leistung. Eine perfekte Dramaturgie in An- und Abschwellen, im Anwärmen und wieder Runterkühlen, hat das Album zudem.

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