Das wundervolle 2020er Album Waken von Cuushe hat einen vergleichbare Vollverzauberung auf dem Fundament von J-Pop und Synthesizer-Shoegaze erreicht. Die Waken Remixes (Flau, 10. März) von Kate NV, Yu Su, Suzanne Kraft, Loraine James und vielen tollen Menschen mehr nehmen meist den Beat raus, dekonstruieren, verstärken, modernisieren oder retrofizieren den unzerstörbaren J-R&B Cuushes. Es ist eine Freude.

Ebenso erfreulich in unerfreulichen, gefährlichen Zeiten sind die Fernkollaborationen auf Rone & Friends (Infiné, 26. März), in deren Zuge Erwan Rone Castex seinen musikalischen Freundeskreis auffächert und abfeatured. Mit den vorwiegend französischen und selbstverständlich exzellenten Vokalist*innen aus Hip Hop, R’n’B, French-Pop und Post-Punk-Avantgarde bis hin zu Ambient-Jungstar Malibu interpretiert Castex Bekanntes neu und fügt manches Neue in sein brillant perlendes Sounddesign. Das hat durchgehend eine Qualität – im Songwriting wie technisch –, die selbst im Rahmen der Großraum-Rave-kompatiblen Multifunktionstelektronik, ein Universum also, das Rone mit Playern wie Moderat oder Bonobo bespielt, einzigartig und außergewöhnlich bleibt.

Das Wiener Duo HVOB spielt mittlerweile in derselben Festival/Stadion-Premium-Klasse, sowohl vom kommerziellen Erfolg wie vom Niveau der Inspiration ihres exzellent gemachten Techno-Pop her. Live in London (Tragen, 11. März) ist so nicht nur das Dokument eines der letzten prä-pandemischen Mega-Events, sondern mindestens ebenso eine weitgefasste Übersicht über die Hits und Tanzbarkeiten des Duos. Die Live-Aufnahme bietet zudem noch den Flow des An- und Abschwellens der Energie, im steten Wechsel von Aufbau, Explosion und Luftholen.

Die Norwegerin Jenny Hval hat die faszinierende Fähigkeit, noch die abgefahrensten Experimente irgendwie nach Pop klingen lassen zu können. Das gibt ihren Projekten in aller Unvorhersehbarkeit immer eine gewisse Nahbarkeit und Intimität. Lost Girls, ihr Duo mit Håvard Volden, praktiziert das seit einer Dekade erratisch wie vorbildlich. Nur zu einem Album hat es bislang nicht gereicht, was sich mit Menneskekollektivet (Smalltown Supersound, 26. März) zum Glück geändert hat. Die Gemeinschaft der Menschheit, wie sich der Titel übersetzen lässt, mäandert frei zwischen zarten Ambient-Texturen, murmelndem Spoken-Word und Hvals glockenhellem Gesang, bratzender E-Gitarre und mal mehr oder minder heftig reingrätschenden Bässen und Beats – ganz zwanglos und oft in ein und demselben Stück. Ganz toll.

Die Tuning Scapes (NeMu) der Mailänder bzw. Berliner Komponistin Effe Effe (Federica Furlani) sind so evasiv wie massiv. Ausweichend und kaum greifbar, weil die Soundart-Künstlerin die klanglichen Abgrenzungen von Synthesizer bis Viola zur digitalen Field-Recording-Collage gerne so verwischt und unkenntlich macht wie die Grenzen von Genres oder Stilistik. Die EP ist einerseits streng konzeptuelle Elektroakustik, kann aber jederzeit in Ambient oder sogar einem dunkel-energetischen Techno-Track münden.

Die Brooklyner Combo Pas Musique um Robert Pepper ist weit davon entfernt keine Musik zu machen, wie der Name suggerieren mag. Ganz im Gegenteil, sind sie doch seit Mitte der Neunziger von experimentellem Synthesizer-Krautrock zu energetisch-rockigem Synthesizer-Krautrock zum leichten, vorwiegend beatlosen Synthesizer-Krautrock von Psychedelic Talismans (Alrealon Musique) gelangt, ohne größere Anzeichen von Müdigkeit zu zeigen. Das ist immer oldschool, selten retro und selbst in den tiefsten psychedelischen Trips freundlich. Ältere-Gentlemen-Krautrock halt.

Ein anderes langjähriges Projekt von Robert Pepper sind The JazzFakers, die sich die Überforderung durch kleinste Klangpartikel zum Prinzip gemacht haben. Das hört sich an wie überkandidelter Free Jazz oder mindestens drei Free-Jazz-Combos gleichzeitig übereinander gelegt, kommt aber mit der Präzision und Wucht von Math-Rock daher. Ein Tape wie Little Water Radio Recordings (Alrealon Musique, 15. März) ist daher vielleicht nicht das optimale Vehikel für diese Klänge. Hier macht ein hochauflösendes Digitalformat eventuell zusätzlichen Sinn.

Werden wir vollends synthetisch. Die britische Komponistin Barbara Ellison arbeitet multimedial und konzeptuell zum Thema „Phantom Sounds”, also zu Illusionen von Textur und Inhalt, die das Gehirn unbewusst zu den gehörten, vorhandenen Klängen hinzufügt oder ergänzt – ein Prinzip, auf das sich Minimal Techno, Miminal Music und Drone seit jeher verlassen. Oft genug wiederholt, wird einfach (fast) jeder Loop interessant. Ellisons CyberSongs (Unsounds, 15. März), kurzformatige Stücke, die auf den gleichen Prinzipien basieren wie ihre massive dreistündige CyberOpera von 2019, wenden die Idee der geisterhaften Präsenzen eingebildeten Klangs auf digitale Sprachsynthese an. Software-generierte Textphrasen in enge Schleifen verzwirbelt, endlos wiederholt, und doch hört man mit jeder Iteration immer andere, immer neue Wörter. Faszinierend.  

Es ist ja grundsätzlich schon mal super, sich einfach so zwischen alle Szenen und Erwartungshaltungen zu setzen und einfach loszulegen. Die Kölner Produzentin Melani Wratil hat mit dem mit Lena Willikens gegründeten, nun solo fortgeführten Projekt Titanoboa das Debütalbum Porphyr (A-Musik, 19. März) vorgelegt, das genau dieses Prinzip in schwindelerregende artistische Höhen führt. Formal auf elektroakustischen Kompositionsprinzipien und moderner Kammermusik als Nicht-Neoklassik basierend, praktizieren ihre fantastisch-plastischen Tracks doch extremen Power-Noise, Neo-Industrial und Dark Ambient, jederzeit allerdings mit einer Restahnung von Schönheit appliziert. Oder ist das doch eher Shoegaze, eingefangen mit einem kaputten Kontaktmikrofon auf der zerrissenen Speaker-Membran bei 130 Dezibel? Beeindruckend massiv, exzessiv und doch wunderbar evasiv sind ihre Klänge in jedem Fall.

Obsession gefällig? Die in Las Vegas lebende Ester Kärkkäinen alias Himukalt reibt sich an den nicht nur im Industrial immer gern genommenen Klassikern der guten Laune: Krankheit, Sex und Tod, Depression, Schmerz und Verfall sowie Begehren, Wahnsinn und Sexarbeit. Die edel gestaltete Vinyl-Veröffentlichung ihres bislang nur als ultralimitiertes Tape erschienenen Albums Between My Teeth (The Helen Scarsdale Agency, 12. März) lässt jedenfalls keine Fragen offen und lohnt sich allein schon wegen des brutalstmöglich verzerrten Disco-Stompers „Mine”.

Der Russe Leps Dubasov alias Dirty Pictures erreicht auf Segregation (Mille Plateaux) eine ähnlich verstörende Qualität. Mit Industrial, Noise und polarem Ambient als Kraftquellen sind die Sounds jedoch zu disorientierend und abschweifend, um ihr Genre direkt zu bedienen. Erstaunlich genug.

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