Pole (Foto: Ben Biel)
Mit Basic Channel, T++ oder Shed gehört Pole zu den Begründern der Berliner Elektronikszene. Alle genannten Produzenten wurden entscheidend vom Plattenladen, Vertrieb und angeschlossenen Masteringstudio Dubplates & Mastering geprägt. Pole, bürgerlich Stefan Betke, nimmt da eine besondere Stellung ein, da er zugleich als Produzent und Mastering Engineer tätig ist. Dieser zweifachen Leidenschaft versuchen wir gerecht zu werden, indem wir unser Gespräch mit ihm in zwei Teilen veröffentlichen. Im zweiten Teil geht es um seine Arbeit als Mastering Engineer. Im Ersten taucht unser Autor Simon Geiger in Poles Musikerbiographie ein, die im Umfeld des Kölner Kompakt-Vorläufers Delirium beginnt und über das turbulente Berlin der 1990er zur erwähnten Doppelrolle als Musiker und Mastering Engineer im eigenen Studio führt.
Der in Düsseldorf geborene Musiker hat eine über zwei Jahrzehnte lange Karriere in abstrakter elektronischer Clubmusik geschmiedet. Elemente der Improvisation spielen für Betke bei Live-Auftritten eine ebenso konstante und zentrale Rolle, sowohl in kleinen Clubs als auch auf großen Festivalbühnen. Zusammen mit Barbara Preisinger gründete Betke 1999 das Label Scape Records und eröffnete bald darauf sein eigenes Masteringstudio Scape-Mastering. Sein aktuelles Album Fading, über das wir auch in diesem Interview sprachen, erschien am 6. November auf Mute Records. Betke wird regelmäßig eingeladen, sein Wissen mit Student*innen, Musiker*innen und Produzent*innen in Workshops auf Festivals und an Universitäten zu teilen, beispielsweise auf dem Unsound in Krakau oder im Zuge der AKG Scholarship of Sound in Berlin.
Betke bittet an einem regnerischen Tag Ende Oktober in sein Masteringstudio in Berlin-Friedrichshain. Dieses ist relativ minimalistisch aufgebaut, jedoch geschmückt mit einigen Schätzen. Highlight? Die eigene Vinyl-Schneidemaschine an der hinteren Wand, von der man nur schwer die Augen lassen kann. Am Studiotisch spricht Pole über Musik, Inspiration, Digitalisierung und sein Verständnis von Mastering.
Wie kamst du zur elektronischen Musik?
Das ist lange her. Als ich in Düsseldorf anfing, Musik zu machen, war es noch relativ stark Band-orientiert. Das kippte dann immer mehr in Richtung Elektronik ab Mitte der 80er. Irgendwann kam der Minimoog, die 808 stand auf dem Tisch und der erste Sampler kam dazu. Es war ein relativ natürlicher Prozess, elektronisch zu komponieren, und am Anfang noch mit der Band umzusetzen. Wir haben damals in Düsseldorf rumexperimentiert. Obwohl ich etwas auf der Rhythmusmaschine schrieb, spielte dann doch noch ein Drummer dazu. Die Synthesizer wurden zwar auf der Bühne benutzt, aber es gab trotzdem immer noch den Gitarristen, es war so eine Mischung aus Elektronik und Bandgeschichte. Das geriet aber im Lauf der Zeit immer mehr in den Hintergrund, und als ich dann nach Köln gezogen bin, war ich relativ schnell vom lokalen Elektronik-Umfeld inspiriert. Zum Beispiel von Künstlern, die mit Groove Attack oder Kompakt, damals Delirium, verbunden waren. Ich bin da gar nicht so in diese Kölner Bandszene reingekommen – oder habe das auch gar nicht versucht.
Warst du immer schon der Mann hinter den Synthesizern in einer Band?
Das war immer meine Rolle. 1981 oder ’82 habe ich mit einem E-Piano von Fender Rhodes angefangen, in der Schule kam eine Farfisa dazu. Ich habe immer Tasteninstrumente gespielt. Ich kann auch gar kein Instrument außer Tasteninstrumente. Blockflöte noch, aber das ist nicht so spannend.
Vielleicht noch eine Drummachine?
Das ist auch ein Tasteninstrument. (lacht) Spiel’ ich eigentlich ganz gut. Man hat früher immer gesagt, ich würde Keyboard spielen wie ein Schlagzeuger. Ich habe immer sehr rhythmisch gespielt, nicht melodisch.
Ist aber auch nicht unbedingt schlecht, gerade für elektronische Musik.
Für mich war das definitiv ein Vorteil. Ich war ja nicht besonders gut im Melodien schreiben oder mit Songstrukturen, weil es mich einfach nicht interessiert hat. Das war auch nie das, wo ich versucht habe, hinzukommen. Eine rhythmische Struktur auf dem Keyboard zu spielen, war für mich sehr befreiend und hilfreich – was man ja später auf den Pole-Alben hört.
Was war der Grund, von Köln nach Berlin zu ziehen?
Das Rheinland ist halt relativ klein und sehr begrenzt. Düsseldorf war musikalisch Ende der Achtziger überhaupt nicht mehr interessant, deshalb bin ich auch erst nach Köln gezogen. Ich will jetzt nicht über Köln meckern, es ist eine superschöne Eine-Million-Einwohner-Stadt. Aber auch nicht gerade so multikulturell und musikalisch vielseitig aufgestellt gewesen, dass ich gesagt hätte: ‘Okay, ich will da Zeit meines Lebens bleiben.’ Mich hat interessiert, mal in einer Metropole zu leben. Ich wollte ursprünglich nach London. Das konnte ich mir aber nach dem Studium nicht leisten, weil London auch damals schon teuer war. Und die einzige deutsche Metropole, die wir nunmal haben, ist Berlin. Ich bin erst gependelt über drei Jahre und habe dann irgendwann die Zelte in Köln ganz abgebrochen. Es war schon so ein schüchternes Annähern. Ich war unsicher, ob ich das in Berlin aushalte. Mein ehemaliger Schlagzeuger ist irgendwann nach Berlin gezogen und vier Jahre später verzweifelt wieder zurück, der hat es hier überhaupt nicht hingekriegt. Ich hatte natürlich auch ein bisschen Schiss davor, in so eine Stadt zu ziehen, auch weil Berlin so auseinandergezogen ist. Mein erster Proberaum war mit dem Fahrrad eine Stunde vom Prenzlauer Berg entfernt, am anderen Ende der Schlossstraße, kurz vor dem Nirgendwo. Und die Arbeit war in Kreuzberg. Das war alles auf einmal so riesengroß, aber trotzdem hab ich es irgendwie geschafft und bin geblieben.
Wie haben diese Umstände und Berlin deinen Sound beeinflusst?
Berlin hat meinen Sound grundlegend verändert. Also die blaue Platte, die erste, ist ja noch zur Hälfte in Köln entstanden und die andere Hälfte hier in Berlin. Auf dem roten Album hört man das dann schon relativ stark. Das ist die erste Arbeit, die ich komplett in Berlin gemacht habe. Das hat mich sehr beeinflusst, gerade auch bestimmte Leute zu treffen und eine Clubszene zu erleben, die vielseitiger war als Köln. Köln hatte auch gute Clubs, aber ein paar weniger. Und die internationale DJ-Präsenz war da auch nur etwas weiter gestrickt. In Berlin bin ich halt Mittwochabend ins WMF, am Wochenende in den Tresor. Dann hast du den Friseur [Szeneclub im Berlin-Mitte der frühen 1990er Jahre, der von Musiker*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen frequentiert wurde, der Initialfunktion hatte für vieles, was danach passierte, d.Red.] gehabt und die ganzen anderen Läden drumherum, das war ein ganz anderer Flow. Das hat mich mental befreit.
Wie ist deine Herangehensweise, wenn du einen Track machst? Hast du eine Idee im Kopf oder passiert das intuitiv?
Dadurch, dass ich kein Singer/Songwriter bin, hab ich keine textliche Aussage. Mein Musikmachen ist schon eher atmosphärisch getrieben. Ich hab eine bestimmte strukturelle Vorstellung, wie ein Track aussehen soll oder eine atmosphärische Vorstellung, was er beschreiben soll. Ich hab schon eine klare Idee davon, was ich wiedergeben will, ob das jetzt so eine dunklere Geschichte ist oder architektonisch beeinflusst über irgendwelche harten Kanten oder Räumlichkeiten. Es passiert auch mal, dass der Bass als erstes kommt, mit einer fragmentarischen Rhythmusfigur drunter. Und dann addiert man da irgendwas drauf und guckt, ob der Chord eine bestimmte Figur spielt, die spannend bleibt. Oft ist es aber so, dass der Beat wieder ganz gelöscht und was komplett Neues darunter programmiert wird.
Wie weißt du, dass ein Track fertig ist?
Wenn ich diesen Moment erreiche, wo die Atmosphäre, die ich im Kopf habe, anfängt, sich in diesem Loop widerzuspiegeln. Wenn ich an diesen Punkt komme, dann ist es gut. Dann fängt das an, irgendwann zu laufen. Und es passieren viele Sachen von alleine. Aber bis dahin, dieser Prozess des Wartens, der kann manchmal schon ganz schön schmerzvoll sein. Dann programmiert man irgendwas und denkt: Das ist es halt einfach nicht. Es ist aber noch nicht mal irgendetwas anderes, sondern es ist einfach nur blöd. (lacht) Man muss die Zeit, bis man in diesen komischen Flow reinkommt, abwarten und aussitzen. Es kann auch Tage dauern, aber es ist wirklich immer diese Idee, der Anfang mit irgendwas. Dann ist es auch nicht wichtig, ob es der Akkord ist oder der Bass. Es wird sowieso irgendwann alles umgepflügt.
Wie lange dauert dieses Warten?
Es dauert bei mir immer relativ lange, bis der Track im Kopf fertig ist. Ich muss immer erst an diesen Punkt kommen, wo ich den Loop habe, der über einen längeren Zeitpunkt für sich alleine gelassen funktioniert. Wichtig ist bloß, dass ich ihn laufen lassen kann und es mir nicht langweilig wird, sitzen zu bleiben und ihn anzuhören. Dann vielleicht mal rausgehen und drei Stunden später wieder zurückkommen. Und dann finde ich ihn immer noch spannend. Wenn ich an den Punkt gekommen bin, weiß ich auch, wie ich diesen Loop strukturieren muss, damit daraus ein Track wird. In den meisten Fällen zumindest, weil ich ihn dann so verinnerlicht habe und so gut finde, dass ich mit ihm weiterarbeiten will.
Und wie geht es von da weiter?
Schlimm ist es immer, wenn ich einen Loop habe, wo ich denke: ‘Den kenn’ ich schon, den habe ich schon mal auf einer anderen Platte gehört, der langweilt mich nach drei Minuten.’ Dann denkt man: ‘Ich bau’ den halt ein bisschen um.’ Das wird nichts. Dann hört man am besten einfach auf und schmeißt ihn in Müll. Ich finde das nicht so schlimm.
Es gibt also auch Tage, wo du sagst: „Ne, heut nicht.”
Ich habe mehr davon als welche, an denen ich das Gefühl habe, dass alles richtig gut klappt. Je älter ich werde, desto seltener habe ich Arbeitstage, die für mich Bestand haben. Früher gab es eine andere Triebkraft, ich hatte noch nichts geschaffen. Mittlerweile schaue ich auf so einen bestimmten Bereich zurück und weiß: ‘Okay, das kann ich, das habe ich gemacht. Und jetzt versuche ich, da noch einen drauf zusetzen.’ Dadurch ist die eigene Kritikschwelle höher geworden.
Wie genau wurde dein neues Album Fading von der Krankheit Demenz inspiriert?
Dieser Gedankengang, dass jemand Zeit seines Lebens Wissen anhäuft, Erfahrung und Verhaltensmuster. Was bedeutet der Gedächtnisverlust am Ende des Lebens? Die Festplatte wird wieder gelöscht, aber blöderweise nicht ganz, sondern nur in Teilen. Da bleiben immer so kleine Loops hängen, die bei Demenzkranken oft an die frühere Jugend gekoppelt sind. Die blenden halt ziemlich viel aus. Sachen im Kopf zu verlieren und nur diese Schnipsel zu haben, die übrig bleiben, fand ich sehr interessant. Ich fand einfach diesen Aspekt des Verlustes der eigenen Identität spannend und beängstigend, das war Inspirationsquelle für dieses Album. Erst baut man das alles mühselig auf, was man im eigenen Hirn speichert. Zeit seines Lebens entscheidet man sich, was man behält und was nicht. Teils bewusst, teils unbewusst. Die Platte reinigt sich sowieso permanent selber. Man vergisst Sachen oder verschönt sie im Rückblick, erinnert sich auf einmal komplett anders an sie, als sie tatsächlich gewesen sind. Dann kommt sowas obendrauf und die Festplatte wird partitioniert mit Schreibfehlern. Auf was konzentriert man sich am Schluss wirklich? Was bleibt hängen?
Wie bist du auf die Thematik gekommen?
Über meine Mutter. Bei ihr gab es immer jemanden, der sie Röschen genannt hat, deswegen heißt einer der Titel auch so. Der hat ihr mal ein Bild gemalt, dieser Röschenloop war aufeinmal immer drin. Es ging immer nur um diesen Maler und dieses Bild und um Röschen. Das hat sie über Wochen immer erzählt. Das ist im Grunde genommen das Gleiche, was ich in dem Stück mache. Ich habe eine Grundidee, ein sehr schönes Bild, das Röschen-inspiriert ist. Einer der schönsten Tracks auf dem Album meiner Meinung nach.
Wie ist Wald entstanden?
Ich bin kein Wald-Mystiker. Niemand, der in den Wald rennt, die Bäume anbetet und sich nur von Pilzen ernährt. Ich finde einfach die unterirdische Rhizomatik, die wahnsinnig vielen Wurzeln und Äste toll. Diese Komplexität war das, was mich am Wald interessiert hat. Es ist immer nur so eine Zündung und nie der Grund.
Würdest du sagen, auf dem neuen Album gibt es Elemente oder Sounds, die den ein oder anderen Pole-Fan überraschen im Gegensatz zu den früheren Alben?
Ich denke, dass es viele Elemente gibt, die an die frühere Trilogie erinnern werden. Aber bei zwei oder drei Stücken werden die relativ klaren chord- und strukturbedingten Jazz-Anteile, die bisher noch nie so deutlich von mir ausgeführt wurden, vielleicht überraschen. Länger stehende Töne gab es bei mir eher selten. Teilweise bestimmt auch, so empfinde ich das, eine Lebendigkeit in der Rhythmusstruktur, die eigentlich schon lange nicht mehr in meinen Platten drin gewesen ist. Jetzt ist es wirklich sehr warm gespielt. Das ist auch ein Element, das es so in der Ausprägung auf meinen Platten noch nicht gab.
Die Platte wurde wieder auf Mute veröffentlicht. Wie ist die Beziehung zwischen dir und dem Label?
Wir arbeiten ja schon sehr lange zusammen. Ich bin seit langer Zeit bei Mute Publishing als Verlagspartner. Ich mastere auch viel für Mute Records, da gibt es eine lange Geschichte. Mute ist ja seit einigen Jahren wieder das Independent-Label, das es ganz früher mal gewesen ist. Mit wenigen Mitarbeitern, mit Daniel [Daniel Miller, Gründer von Mute, d.Red.] an der Spitze und mit sehr guten Leuten, die mit ihm zusammenarbeiten. Es ist ein kleines, feines Team, das ich extrem schätze, wo ich jeden einzelnen seit langer Zeit persönlich kenne.