Wenn sich ein (sich meist männlich identifizierender) Künstler dazu entschließt, nicht im gewählten Genre aufzugehen, sondern ihm eine persönliche, wiedererkennbare Sound-Signatur aufzudrücken, spricht der (sich meist männlich identifizierende) Rezensent gerne von Autoren-Irgendwas. Zum Beispiel im Indie-Pop Kontext von Autoren-Electronica, wie Sascha Ring sie betreibt, wenn er nicht den Techno-Stadionrocker bei Moderat gibt. Auf dem speziell gegründeten, von Indie-Major Morr/ANOST vertriebenen Label It’s Complicated veröffentlicht Ring nun seine Soundtracks. Also Auftragsarbeiten, in denen er sich als Autor ein wenig zurücknimmt und seine Stücke in den Dienst des entsprechenden Films stellt. Dennoch sind die bislang zwei unter dem Alias Apparat erschienenen Soundtracks Capri-Revolution und Stay Still (beide: It’s Complicated Records) Autoren-Indie-Electronica in diesem Sinne. Jede einzelne Sequenz ist unmittelbar als Apparat wiedererkennbar, jedes Detail im Sounddesign unverkennbar das von Sascha Ring. Dazu muss er nicht mal anfangen zu singen, was er auf der Laufzeit von zwei Alben zwar vereinzelt doch tut. Aber eben mit der gewissen Zurückhaltung, die die Soundtracks zumindest für den männlich identifizierten Rezensenten dieser Kolumne zu Rings besten Arbeiten der letzten fünf bis zehn Jahre macht – und zwar ganz ohne Ironie oder Sarkasmus.
Der Berliner Matthias Grübel, den man eher als Phon°noir kennt, ist ebenfalls Experte für Soundtracks, vor allem für das hiesige Theater. Auf Matters Of Stability (TruthTable) bringt er allerdings die Autoren-Electronica zurück in den Big Room, als Mainfloor-Electro-Techno, der dann wieder ziemlich Moderat klingt – oder in den verstreuten Vocal-Tracks sogar deutlich nach Apparat –, mit vergleichbar durchschlagskräftiger Produktion und ähnlichem Hit-Anspruch.
Auf letzteren verzichtet Chester Raj Anand schon in der Namensgebung. Der New Yorker, der als Lord Raja House und Rauchwaren-freundlichen Instrumental-Hip-Hop produziert, nimmt sich auf seinem Debüt unter bürgerlichem Eigennamen teilweise aus der Gleichung mit dem Bindestrich heraus und spielt entlang von Field Recordings, die er bei einem Besuch in Tokio aufgenommen hat. Strawberry (Quiet Time, 29. Mai) spielt sich so im Bereich sanfter Electronica und klöppelndem Oldschool-Ambient ab. Es wirkt wie eine Befreiung, einmal nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen zu müssen, sondern als aufmerksamer Beobachter vom Rand des Geschehens seine persönlichen Eindrücke einfließen zu lassen. Anti-Autoren-Autoren-Electronica, sozusagen.
Wo Chester Raj Anand Feldaufnahmen dazu nutzt, um als Persönlichkeit hinter ihnen zu verschwinden und dadurch kreative Energie freizusetzen, ist der umgekehrte Weg genauso möglich: sich mit und über gegebene Field Recordings als Künstler*in zu definieren. Das im ganz großen Rahmen angelegte Projekt Field Works zeigt auf Ultrasonic (Temporary Residence), wie aus Nature Recordings von Stuart Hyatt, dem National Geographic Grantee 2019, Electronica, Ambient oder Neoklassik werden kann. Die zahlreichen, fast durchgehend im Genre hochprominenten und von Motherboard geliebten Gäste spielen entlang von Hyatts Aufnahmen der Kommunikation von Fledermäusen eine Art Best-Of Sampler ein, der tatsächlich zum besten gehört was das Genre in den vergangenen Jahren zu bieten hatte.
Daniel Herrmann lässt sich inzwischen wohl ebenfalls gerne in die Reihe der Autoren-Entrepeneure einreihen. Als Fotograf wichtiger Dokumentarist der hiesigen Clubszene zwischen Offenbach und Köln, ist er in jüngster Zeit als eher als Musikproduzent aktiv, wie etwa mit dem Herrmann-Kristoffersen-Projekt (Motherboard berichtete) und mit einem eher cluborientierten Sound als Flug 8. Wobei sein jüngstes und mit Abstand augefeiltestes Album Electric Field (Ransom Note, 19. Juni) gar nicht mehr so sehr auf tanzfreundliche Club-Dysfunktionalität abzielt, sondern die psychedelisch-krautigen Analogsynthesizer-Explorationen zu neuer Meisterschaft führt. Brillante Electronica im wollpullovrigen Moebius/Roedelius-Soundgewand mit einer scharf modernen Produktion. Ja, das geht, und niemand kann das gerade so gut wie Herrmann.
Höchstens eventuell der anonym bleiben wollende französische Newcomer-Produzent, der sich Synthesizer-gerecht Aārp nennt. Propaganda (Infiné) ist ein Füllhorn an zeitgenössischen Electronica Sounds auf der Basis alter analoger Synthesizer. Einer, der hinter dem Genre verschwindet, in ihm aufgeht, ein Best-Of-Ever abliefert und doch ganz neu und frisch rüberkommt.
Oder das jugendliche Boy-Girl Duo JiK aus Polen. Die beiden machen auf Cnidae (Bytes, 26. Juni) ganz zarte, flickerige, lichtbunte Electronica mit Stachel, wie der Name sagt: Cnida ist der lateinische Begriff für die harpunenartigen Giftstachel, die Nematoden wie Seeanemonen zu ihrer Verteidigung gegen Fressfeinde benutzen. Also findet Nemo, von der anderen Seite her. Look, don’t Touch.
Mehr von analoger Technik getriebene Synthetik gibt es heuer zum Beispiel von dem in Brüssel lebenden Spanier Miguel Gil Tertre, der sich als Electro/Bass-Produzent Strand nennt. Sein persönliches Debüt Carpintero (Fuego En Casa) geht, was den üppigen Schönklang alter Synthesizer (oder deren digitaler Nachbildung) anbetrifft, jedenfalls von ganz unten in Richtung Zimmerdecke. Wie Vangelis zu Blade-Runner-Zeiten oder Jean-Michel Jarre eigentlich immer.
Land (Lamour Records) von Niels Gordon aus Gävle klingt dagegen unverkennbar nach guter alter Handarbeit an Modular-Rack, Oszilloskop und Potentiometer. Nach frühen Kraftwerk, Cluster und anderen motorischen Soundstöpslern der (vorwiegend deutschen) Krautsiebziger in die schwedische Provinz von heute verpflanzt, wo das Synth-Gestrüpp bestens grünt und wuchert.
Der Kanadier T. Gowdy hat mit einer Hypnose induzierenden audiovisuellen Mind Machine gelernt, Bewusstsein aktiv zu kontrollieren und negative Zustände wie Stress und Aufmerksamkeitsdefizite besser im Zaum zu halten. Therapy With Color (Constellation) empfindet die Entwicklung und die Fortschritte dieser Selbstheilung via Licht und Sound am Synthesizer nach. Was nicht bedeutet, dass seine flirrenden synthetischen Soundscapes nur meditativ und New-Age-affin daherkommen. Im Gegenteil dürfen sie, wie im Titelstück exemplarisch vogeführt, sogar ziemlich hibbelig und hektisch werden, entspannen auf einer höheren Ebene dann aber doch.