Der Lateinische Begriff Latibulum bedeutet so etwas wie Rückzugsort, Zuflucht, Schutzgebiet. Der Labelsampler Latibula des Berliner Labels Marionette bietet solche Safe Spaces in Mehrzahl. Improvisierte und modulare Elektronik von Label-Künstler*innen und darüber hinaus mit einigen prominenten Berliner Namen im Gepäck. Durchgehend experimentelle wie schöngeistige Kleinteil-Elektronik in Top-Qualität und Label-typisch edelst aufgemacht.
In einer der ältesten und musealisiertesten Städte Japans, Nara, sitzt eines der aufregendsten neuen Ambient-Labels, nämlich Muzan Editions. Ihr ausführlicher Labelsampler The Sound of Mountains (Muzan Editions) zitiert den ähnlich benannten Klassiker von Yasunari Kawabata und zeigt personelle Überschneidungen mit dem Marionette-Label. Eher auf Field Recordings fokussiert und insgesamt etwas düsterer und karger als Latibula, ergänzen sich die Zusammenstellungen doch perfekt.
C. Lavender, ebenfalls aus New York und ebenfalls an Spatialität, and der Räumlichkeit elektronisch produzierter und reproduzierter Klänge interessiert, arbeitet mit einem Soundverständnis, das eher von Industrial her kommt (ein früheres Alias von Lavender war Paid in Puke) oder vom Dark Ambient denn aus der Akademie. Das gibt Myth Of Equilibrium (Editions Mego), ihrer ersten Vinyl-Veröffentlichung auf einem Label mit hoher Reichweite, eine unmittelbar körperliche derbe Qualität mit, die nach einer treuen Wiedergabe verlangt. Also mindestens einem guten Kopfhörer, noch besser aber einer richtig guten, lauten Anlage. Wie bei so vielen Veröffentlichung gerade ist allerdings noch unklar, wann die physikalischen Tonträger tatsächlich erscheinen.
Die Sängerin, Produzentin, Tänzerin, Coderin und einiges mehr, die sich Abyss X nennt, wechselt Bedeutungsebenen und Sound auf Innuendo (Deep Matters Of The Heart, 26. Juni) völlig selbstverständlich. Industrial, Gothic Pop mit archaisierten Gesängen (Abyss X stammt aus Kreta und wertschätzt die pre-antike minonische Kultur) fließen in hyperurban bassigen R’n’B, der mehr als einmal am finsteren Ende der Techno-Keller Darkrooms geschnüffelt hat.
Was sich mit einer Stimme jenseits üblicher Popsongs, aber auf ihnen aufbauend, so anfangen lässt, erforschen gerade nicht wenige Künstler*innen in einem elektronischen Zusammenhang. Etwa Cucina Povera & ELS. Die in Glasgow lebende Finnin Maria Rossi hat ihr strenges Konzept, nur ihre Stimme und nichts anderes zu nutzen, für die Kollaboration The Oystercatcher (Editions Mego) minimal aufgeweitet. Was sie mit Edward Simpson erreicht hat, ist allerdings nicht weniger experimentell, klangphysisch und kopfstark als ihre Soloarbeiten.
Mit Frédéric D. Oberland & Irena Z. Tomažin haben sich zwei distinkte musikalische Persönlichkeiten getroffen, die seit Dekaden in diversen Konstellationen und Ausdrucksformen arbeiten. Oberland in Paris, zum Beispiel mit dem Improv/Postrock-Kollektiv Oiseaux-Tempête, und Tomažin bei Borghesia, der nach Laibach wohl bekanntesten slowenischen Band überhaupt. Solo agiert Oberland in weniger stürmischen Gewässern und experimentiert mit dem Timbre ungewöhnlicher Instrumente, wie etwa der von Mittelalter-Rockbands schändlich missbrauchten Drehleier. Tomažin hat via klassischer Tape-Manipulation und elektronischer Verfremdung ihre Sprech- und Singstimme zum Instrument entwickelt. Ihre Zusammenarbeit auf ARBA, DÂK ARBA (Hallow Ground, 5. Juni) geht erfreulich geringe Kompromisse ein. Tomažins Vokalartistik und Oberlands Hurdy-Gurdy belauern und beharken sich, kabbeln sich in teils derb atonalem Quietschen und Kreischen und verschmelzen doch immer in intensiven Drones.
Der britische Pianist und Komponist Christopher Chaplin arbeitet ebenfalls gerne mit Stimmen, die mal schwer prozessiert, mal klar und direkt in elektroakustisch inspirierte Ambient- oder Neoklassik-Stücke münden. Auf M (Fabrique, 19. Juni) sind es Texte von Ovid, Shakespeare und Shelley, die Gast-Vokalisten einsingen, die damit ihren üblichen Kontext in Rock und Pop weit hinter sich ließen. Etwa der britische Reggae-Sänger Finley Quaye, Mira Lu Kovacs von My Ugly Clementine und Aurélia Thierrée. Auf einen physikalischen Tonträger muss man hier ebenfalls bis September warten.