Fusion 2008 (Foto: Retinafunk.)
Keine Großveranstaltungen bis Ende August – spätestens seit der Pressekonferenz vom 15. April ist klar: Die Festivalsaison 2020 ist (größtenteils) abgesagt. Was Veranstalter*innen jetzt umtreibt und warum kleine Festivals jetzt vielleicht sogar im Vorteil sein könnten, hat GROOVE-Redakteurin Laura Aha recherchiert.
„Liebe Fusionist:innen, wir schreiben diesen Newsletter in einer Situation, in der die Welt Kopf steht und ein Virus grassiert, das das Potenzial hat, in wenigen Monaten unser Leben dauerhaft negativ zu verändern.” Mit diesen Worten eröffnete das Fusion-Organisationsteam seinen Newsletter vom 9. April. Betreff: Fusion2020 FINDET NICHT STATT. Die Fusion war damit eines des ersten deutschen Sommerfestivals, die bereits so früh mit einer Absage herausgegangen sind.
Viele Veranstalter*innen hatten bis zum 20. April gehofft, dem Stichtag, ab dem die Regelungen zu den zukünftigen Ausgangsbeschränkungen neu verhandelt werden sollten. Nach der Pressekonferenz vom 15. April wurde klar: Großveranstaltungen werden in Deutschland bis Ende August keine mehr stattfinden – wobei es aktuell noch keine länderübergreifende Festlegung gibt, ab welcher Größe ein Event als Großveranstaltung gilt. Berlin meint damit konkret Veranstaltungen mit über 1000 Leuten. Anfang letzter Woche kündigte der Berliner Senat zudem an, bis zum 24. Oktober alle Veranstaltungen mit über 5000 Leuten zu verbieten. Der Festivalsommer 2020 fällt damit nun endgültig flach.
„Gefährdet sind prinzipiell erstmal alle. Da gibt es niemanden, der sagt: ,Da komm ich total gut raus’.”
Johannes Jacobi, Höme
Etwa 350 bis 400 Musikfestivals mit mehreren Bühnen und Campingoption finden in Deutschland jeden Sommer im Zeitraum zwischen Mai und Ende September statt, schätzt Johannes Jacobi. Er muss es wissen, schließlich ist Jacobi Gründer und Chefredakteur des 2016 gestarteten Onlinemagazins Höme, das sich ganz der Festivalkultur widmet. In der Hauptsaison von Juni bis August können somit schon mal 60 Festivals gleichzeitig an einem Wochenende stattfinden – allein in Deutschland. Auf Höme findet sich schon seit ein paar Wochen eine interaktive Karte, die die bereits abgesagten Festivals in ganz Europa gesammelt darstellt. Zudem hat die Redaktion für den Artikel „Sommer Ohne” mit verschiedensten Akteur*innen aus der Festivalszene gesprochen. Für Jacobi ergibt sich aus seinen Gesprächen das generelle Fazit: „Gefährdet sind prinzipiell erstmal alle. Da gibt es niemanden, der sagt: ,Da komm ich total gut raus’.”
Laufende Kosten und trotzige Hoffnung
Wie die meisten Veranstalter*innen zweifelt Kira Taige, künstlerische Leiterin des Berliner Festivals Feel, die staatlichen Maßnahmen in ihrer Notwendigkeit nicht an. Das Feel Festival hätte eigentlich vom 9. bis 13. Juli mit 20.000 Besucher*innen am Bergheider See zwischen Berlin und Dresden stattfinden sollen. „Natürlich finden wir die Beschlüsse der Bundesregierung richtig”, sagt Taige. „Trotzdem haben wir Kosten, die wir tragen müssen, auch wenn das Festival jetzt nicht stattfindet.” Welche genau, das kann man auf der Homepage des Festivals nun bewusst transparent aufgeschlüsselt nachlesen. Aktuell seien die laufenden Personalkosten für das Organisation- und Bauteam in der Kalkulation die größte Position. Trotz Kurzarbeiterregelung obliege die Fortzahlung der Gehälter derzeit noch dem Festival selbst. Wann die Arbeitsagentur die Fortzahlungen in Form des Kurzarbeitergeldes erstatte, sei momentan noch unklar.
Ein Gesamtbetrag von 385.100 Euro kommt bei der öffentlichen Kalkulation des Feel Festivals heraus. Ein Betrag, dem in diesem Jahr keine Einnahmen entgegenstehen. Zwar habe man den Soforthilfe-Zuschuss vom Land Berlin in Höhe von 15.000 Euro erhalten, dieser stehe aber in keinem Verhältnis zu den tatsächlich entstandenen Kosten. Sich gegen Pandemie-Ausfälle zu versichern ist kompliziert und zudem so teuer, dass die wenigsten Festivals ihrer Größenordnung eine derartige Ausfallversicherung hätten, sagt Taige.
„Bevor die ersten von Euch auf den Acker kommen, haben wir bereits knapp 300.000 Euro an Kosten getragen und ausgegeben.“
Nation of Gondwana
Ähnlich transparent geht auch die Nation of Gondwana mit ihren Zahlen um. „Bevor die ersten von Euch auf den Acker kommen, haben wir bereits knapp 300.000 Euro an Kosten getragen und ausgegeben. Sollte die Nation of Gondwana dieses Jahr behördlich abgesagt werden, so würden wir auf diesen Kosten sitzen bleiben”, schrieben die Macher*innen in einem Facebook-Post bereits am 20. März. Im Post zur offiziellen Absage des Festivals vom 18. April teilte die Nation zudem mit, dass sie trotz zahlreicher Bemühungen bislang keine finanzielle Unterstützung von Bund und Land erhalten hätten und ohne die Spendenaktion sicherlich schon vor dem Bankrott stünden. Trotzdem zeigen sich die Macher*innen optimistisch und schreiben: „Nur noch 461 Tage bis zur nächsten Nation of Gondwana: 23.-25.07.2021 – wir können es kaum erwarten.”
Auch Kira Taige und ihr Team hoffen, im nächsten Jahr wie gewohnt an den Start gehen zu können. Dennoch beurteilt sie die Lage mit einem gesunden Realismus: „Natürlich gibt es die schöne Hoffnung, dass nächstes Jahr alles bunter, verrückter und ausgelassener wird als jemals zuvor. Weil jetzt jede*r erstmals gespürt hat, dass Festivals in der Form, wie wir sie kennen, keine Selbstverständlichkeit sind. Dass wir sehr privilegiert sind, solche Festivals überhaupt veranstalten und daran teilnehmen zu können. Ich hoffe, dass dieser Gemeinschaftsgedanke, der auf den Festivals gelebt wird, nach dieser Krise noch präsenter wird. Im schlimmsten Fall kann es aber passieren, dass viele Künstler*innen, Musiker*innen, Kollektive und auch Dienstleister*innen es nicht über die Krise schaffen.”
Darüber, dass auch sie selbst als Festivalmacher*innen existenziell bedroht sind, möchte sie aktuell lieber noch nicht so viel nachdenken. „Wir geben die Hoffnung nicht auf und werden weiterkämpfen. Wir hoffen darauf, dass unsere Besucher*innen uns unterstützen und wir es gemeinsam schaffen”, sagt Kira Taige. Sorgen mache sie sich vor allem auch um kleinere Festivals, die sich noch nicht so lange am Markt etablieren konnten. Durch die hohe Anfangsinvestition – quasi auf einem leeren Acker etwas aus dem Nichts zu erschaffen – bräuchten Festivals generell etwa sechs bis sieben Jahre, um sich zu refinanzieren, schätzt Kira Taige. In der Folge heißt das auch: Viele Festivals haben kaum Rücklagen oder dürfen als gemeinnützige Vereine gar keine bilden und können somit kaum ein komplettes Geschäftsjahr finanziell abfedern.
Zudem könne man die verlorenen Einnahmen ja nicht einfach wieder später reinarbeiten. „Das ist nicht wie in einer Fabrik, bei der Kapazitäten aufgestockt werden können”, sagt Taige. „Ein Club kann eben trotzdem nur am Wochenende aufmachen und nicht plötzlich an sieben Tagen die Woche Partys machen. Genauso wie ein Festival, das findet nur einmal im Jahr statt. Da kann man nicht zusätzlich was machen, um mehr Einnahmen zu erhalten.”
Gutscheine, Spenden und Hoffen auf Kulanz
Aktuell gehe das Feel nun mit Künstler*innen und Booker*innen in Kommunikation, um über die geschlossenen Bookingverträge zu sprechen. Rechtlich werden bei einer behördlichen Absage der Veranstaltung die geschlossenen Verträge unwirksam, sodass weder die Künstler*innen zum Auftreten verpflichtet sind noch ein Recht auf ihre Gage haben. Bei einem fragilen Ökosystem wie der Clubszene, in dem alle Akteur*innen voneinander abhängig sind, ist das Bestehen auf dem eigenen Recht jedoch vielleicht nicht immer die beste Lösung. Deshalb hoffen die Veranstalter*innen auf gegenseitige Kulanz und gemeinsame Lösungen, die für beide Seiten verträglich sind. Kira Taige weiß: „Natürlich ist die Situation für die Künstler*innen genau die gleiche. Denen wird alles abgesagt, Konzerte, Touren. Einige haben Geld ausgegeben, um eine neue Platte zu machen, die sie jetzt nicht promoten können. Vor allem auch kleinere Künstler*innen können sich das vielleicht nicht leisten, auf die Gage zu verzichten.”
„Euch steht euer Geld zu und jeder soll frei
Nation of Gondwana
entscheiden können, ob er nächstes Jahr wieder ein Ticket erwerben möchte”
Weiterhin stehe jetzt die Rückabwicklung der bereits verkauften Tickets an. Am 8. April hatte die Bundesregierung unter Änderung des EU-Rechts eine Gutscheinlösung für die Tourismus- und Veranstaltungsbranche beschlossen. Tickets, die bereits vor dem 8. März gekauft wurden, sollen demnach in Gutscheine umgewandelt werden können, um Veranstalter*innen vor drohender Insolvenz durch Rückerstattungsansprüche zu bewahren. Sowohl die Fusion als auch Nation of Gondwana lehnen dieses Vorgehen ab. „Euch steht euer Geld zu und jeder soll frei entscheiden können, ob er nächstes Jahr wieder ein Ticket erwerben möchte”, schreibt die Nation in ihrem Statement. Und auch Kira Taige sagt: „Wir haben uns dagegen entschieden und erstatten den Ticketpreis, weil wir wissen, dass manche unserer Besucher*innen das Geld gerade dringend brauchen. Gleichzeitig bieten wir die Möglichkeit, einen Teil des Ticketpreises als Spende zu hinterlassen.” Die Nation hatte bereits beim Start des Ticketverkaufs die Möglichkeit eines Soli-Tickets bereitgestellt.
Johannes Jacobi von Höme sieht in diesem Punkt kleinere und szenenahe Festivals sogar im Vorteil. „Bei der Fusion etwa ist die Crowd eine große Community. Alle stehen hinter dem Festival, es ist schon fast eine Aussage an sich, auf dieses Festival zu gehen. Bei Rock am Ring ist die Bindung der Fans zum Festival eine ganz andere. Die werden mit einer Rückabwicklung anders umgehen, als die Fusion das macht.” Internationale Ausreißer wie das SXSW, das bislang gar keine Rückgabeoption für Tickets in Aussicht gestellt hat, kann er sich in der deutschen Festivallandschaft jedoch nicht vorstellen.
Sind kleine Szene-Festivals im Vorteil?
Johannes Jacobi sieht außerdem einen weiteren Vorteil kleiner Festivals gegenüber kommerziellen: „Dadurch, dass diese oft ehrenamtlich gestemmt werden, haben sie weniger Fixkosten, keinen Personalapparat, den sie stemmen müssen. Wenn so kleine Festivals abgesagt werden, verlieren sie zwar Geld, aber es ist nicht so viel wie zum Beispiel bei FKP Scorpio, wenn Southside, Hurricane und Highfield gleichzeitig wegbrechen.” Das mag in absoluten Zahlen zwar stimmen, ist im Prinzip aber eine Milchmädchenrechnung, da den ehrenamtlichen Festivalhelfer*innen durch die Krise höchstwahrscheinlich auch ihre Brotjobs wegfallen. Auch wenn kleinere Festivals flexibler agieren und aufgrund der geringeren Besucher*innenzahl möglicherweise früher wieder an den Start gehen können, wird doch deutlich: Corona trifft die Festivalbranche auf allen Ebenen, egal wie groß das Unternehmen dahinter ist.
Trotz allem ist Jacobis Prognose für den Festivalsommer 2021 vorsichtig optimistisch: „Angenommen, dass alle Arten von Veranstaltungen wieder erlaubt sind, wird das erstmal ein sehr blühender Festivalsommer. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass so viele Festivals wirklich weg sein werden. Die Festivals, die es jetzt am ehesten treffen könnte, haben glaube ich eine starke Fanbase, die sie – durch Crowdfunding oder weil die Leute die Tickets behalten – rettet.” Zudem werde die Nachfrage sehr hoch sein. Auch wenn er nicht befürchtet, dass die Ticketpreise direkt steigen werden, ist sich Jacobi sicher, dass es für Veranstalter*innen teurer werde, etwa durch neue Hygiene- oder Sicherheitsvorschriften. „Darunter leiden am Ende die Kleinen am meisten, weil sie das gar nicht stemmen können.”
Kira Taige appelliert ihrerseits vor allem an die Politik: „Eine Rückkehr zum ,normalen Leben’ wird nach dem Zusammenbruch der Kunst- und Kulturlandschaft nicht möglich sein. Deshalb hoffen wir, dass die Regierung unsere Daseinsberechtigung anerkennt, auch wenn sie augenscheinlich nicht ,systemrelevant’ ist. Festivals bieten einen Raum, in dem offene Gesellschaft, Solidarität und Toleranz gefördert und Freiheit und Gleichheit zelebriert wird. Es ist wichtig diese Bereiche zu fördern. Das darf nicht vergessen werden.”