25 Nonplace Soundtracks Vol.2 (Nonplace) 

Die Nonplace-Planeten kreisen um den solaren Burnt Friedman, diesen Sucher nach dem zirkulären oder zumindest dem rasterfreien Beat. In seinem jüngsten Vorhaben dehnt er diese Forschung aus auf traditionelle Musiken und der im vergangenen Jahr erschienene vierte Teil, Musical Traditions In Central Europe, klang schon ziemlich mindblowing. Umso schöner ist es, wenn sich das Nonplace-Kollegium versammelt und Musik spielt, die sich zum Einsatz in Film, Funk, Fernsehen (und Podcast, Pop-Mix, Jazz-Set) eignet. Die Embassadors überraschen zu Beginn mit ganz entspannten Salon-Swing, nur, um im „Andalusian Sun Strut“ der Heiterkeit und dem Übermut zu fröhnen; die bei Nonplace-Produktionen sonst stets mitswingende Meta-Ebene ist ganz in die Sound-Ästhetik gerückt. Burnt Friedmans Solo-Titel limitieren sich auf Skit-Länge und überschreiten selten die 1:30-Minuten-Länge. Sie erstrecken sich vom Funken digitaler Signale in „Pulse“ bis hin zum funky „Healer Theme“. Weitere Acts wie Joseph Suchy, Hayden Chisholm, Flanger und Friedmans Dub-Band Root 70 finden sich in diesem Schatz. Und ein Schatz er ist. Christoph Braun

Avon Garde (Avon Terror Corps) 

Die Hafenstadt Bristol im Südwesten Englands ist die Heimat von Avon Terror Corps. Mit Avon Garde erscheint bereits die dritte Compilation des noch jungen Labels, wie ihre beiden Vorgänger sowohl als digitaler Download und Stream wie auch in Form einer C90-Audiokassette. Die 19 darauf versammelten Tracks schließen sich, trotz oder vielmehr gerade wegen ihrer Unterschiedlichkeit, zu einer der stärksten und aufregendsten Anthologien seit langem zusammen. Um Labels wie Howling Owl oder Bokeh Versions war in der vergangenen Dekade eine neue Szene entstanden, die außer einer gewissen Affinität zur Organisationsform des Soundsystems und der damit implizit verbundenen Technik des Dubbings nur wenig mit dem Bristol-Sound der Neunziger zu tun hat. Mit Avon Terror Corps erhält diese Bewegung, die sich mit einem betont experimentellen Ansatz unter Einbeziehung von Noise-, Industrial-, Techno- und Punk-Elementen vom Trip-Hop der Ära Massive Attack abgrenzt, nun eine neue Speerspitze. Der wütende, dystopische Impetus von Acts wie Bad Tracking, Narcissist Holocaust, Laudanum, Wisecrack, Strangling Glass oder Missterspoon hat mehr mit dem Mittneunziger-Illbient von WordSound gemein als mit der verkifften Melancholie von Tricky und Portishead. Outstanding: „Countenance“ von Burden und der Harrga-Vokalistin Dali De Saint Paul, Yokel ft. Franco Franco & D Ham mit „Pappas Got A Brand New Cornea”, Walyas „Shed” und das Acappella-Intro „Muscle Chamber“ von The Naturals. Außer Konkurrenz: das so ominöse wie grandiose, nicht gelistete und wohl nur in der Promo-Ausgabe enthaltene „Workshop“ von Dr. Trevis ft. Stevens Marksbury sowie DJ Brittles präparierte Schallplatten-Arbeit „The Children Are Inzane“, die sich einer zerkratzen Kopie von Nicos „The End“ bedient. Harry Schmidt 

Berghain Fünfzehn (Ostgut Ton) 

Hiermit ist es offiziell: Luke Slater hat mit seinem Album Berghain Fünfzehn die Essenz des Berghain-Sounds eingefangen, zu schwarzem Gold gegossen, es sich festigen lassen und in die Plattenläden gebracht. Zu schnell? Zurückspulen, alles klar. Here we go again. Luke Slater hat mit seinem Album Berghain Fünfzehn die Essenz des Berghain-Sounds eingefangen. Punkt. Aber wie nur? Das Konzept spielt mit die größte Rolle. Er ließ sich Stems, Files und ganze Tracks des Berghain-Katalogs zukommen, und lebte an diesen seine Erfahrung und Genialität als Producer und DJ aus. Digitale und analoge Soundmanipulationen, kreatives Sampling und dutzende weitere Techniken kamen zur Anwendung. „Ostgut-Ton Re-assembled“ heißt das dann. Aber nichts, was man auf diesem Album hört und vor allen Dingen fühlt, war schon mal so da. Obwohl …. Vielleicht ja schon! Nämlich als man selbst das erste Mal an den Türstehern vorbei ging, die Berghain-Halle betrat und dann die unverwüstlichen stählernen Treppen zum Mainfloor erklomm. Magisch. Andreas Cevatli

Florence – Analogue Expressions & 
Wladimir M. – Leaves Fallin’ Recklessly
(Delsin Records) 

Ähnlich wie in der Science Fiction handeln auch in der Musik die besten Geschichten von Menschen, nicht von Technologien. Hier wie dort finden sich künstlerische Wagnisse besonders am Anfang einer neuen Entwicklung, egal ob musikalischer oder literarischer Natur. Als Stefan Robbers und Wladimir Manshanden 1991 das Label Eevo Lute Muzique gründeten, fühlten sie sich selbst als direkte Nachkommen von Detroits neuartigem Fabrikhallensound, der, gespeist aus Electro, Chicago House und früher Industrial-Musik, allmählich über den großen Teich schwappte. Unbewusst läuteten sie aber ihre eigene, niederländische Tradition elektronischer Musik ein, deren Impetus mehr auf erzählerische Hörerlebnisse als rhythmische Tanzbarkeit zielte – zumindest in Europa waren sie damit Pioniere eines Sounds, der kurz darauf durch Labels wie Warp Records globale Popularität gewann. Robbers trat zwar in den Jahren vorher bereits unter dem Namen Terrace in Erscheinung und hatte Saskia Slegers Eindhovener Label Djax-Up-Beats mit der 12” „916 Buena Avenue“ quasi eingeweiht, verfolgte bei Eevo Lute nun aber als Florence einen eher introspektiven und träumerischen Produktionsansatz, der nicht zuletzt von Manshandens Techno-Prosa beeinflusst wurde. Beide gaben der maschinellen Kälte dieser Musik eine humane Komponente, indem sie Dancefloor-Gleichungen in kompositorische Ausdrucksformen übersetzten und so anderen Produzenten des early Dutch techno wie Jochem Paap (Speedy J), Jochem Peteri (Ross 154, später 154 und Newworldaquarium) oder Erwin van Moll (Max 404) den Weg ebneten – die Wurzeln von Ambient Techno und IDM reichen auch hierher.

Viele Tracks, die Florence und Wladimir M. damals produzierten, waren zwischenzeitig nur auf vergriffenen oder überteuerten EPs zu hören. Nun haben sich die Kollegen von Delsin Records dem Archivmaterial der beiden angenommen und veröffentlichen mit „Analogue Expressions“ sowie „Leaves Fallin’ Recklessly“ je 11 Tracks als Doppelalbum und definitiven Remaster der ursprünglich zwischen 1991 und 1994 entstandenen Aufnahmen. Über fünf LPs und 130 Minuten hinweg konsolidieren die ein beeindruckendes Repertoire an originären Samples und Soundideen mit Acid-, Ambient- oder Electro-Ästhetik, sequenziert in schlanken Texturen ohne viel Brimborium. Dabei sind sich beide Alben auf mehr als eine Weise ähnlich, doch zählen die Unterschiede. Erscheint „Analogue Expressions“ in Momenten sanfter Euphorie wie „It’s In The Hands“, oder beim mechanisch synkopierten „Robotica“ und dem viertelstündigen „Quartertraxx“ als frühe Blaupause niederländischer Frische, die das Gesicht der 90er prägen sollte, hinterlässt „Leaves Fallin’ Recklessly“ mit seinen ominösen Vocoder-Iterationen und durchgehend düsterem Tenor tatsächlich eher den Eindruck eines Techno-Textzyklus über den spätkapitalistischen Zeitgeist. Siehe etwa das ausufernde, bilinguale „Planet E (Englis/French)“ oder „Disappointment“. „Stop violence. Stop materialism. Stop America, ’cause I can’t live in a world like this. People rushing, not looking after each other. Am I the only one? I must be insane“, heißt es aber auch im erbarmungslos pochenden „Evil“ vor einem Hintergrund abendlich verträumter Pads. In diesen Zeiten wirkt das fast schon wie Prophetie. „Electronic Ambiance“ ist dagegen ein prägnantes Mantra für RaverInnen, das vor dem Betreten des Clubs wiederholt werden will, während das abschließende „Sex & Lies“ industrielle FXs und Breakbeats zur Untermalung eines bitteren Kulturpessimismus nutzt, der zwar nichts von seiner Aktualität verloren hat aber gleichzeitig Perspektiven für eine bessere Welt eröffnet. Vielleicht sind wir in vielerlei Hinsicht eben doch dabei – politisch, ökonomisch, ökologisch – an uns selbst zu scheitern? Vielleicht muss es auch so weit kommen? Die Antworten, sie liegen im Dunkeln. Dank solch dynamischer, ungeschliffener Musik lassen sich die neuen Zwanziger mit all ihrem doom & gloom aber trotzdem irgendwie aushalten. Nils Schlechtriemen

Yaeji – What We Drew 우리가 그려왔던 (XL)

Yaeji lebt im Internet. Ihre Kunst lebt im Internet. Die Musik der 27-jährigen New Yorkerin lebt im Internet. Zwischen TikTok-Schminkvideos auf Koreanisch, leuchtenden Werbeschildern und den Pussy Cat Dolls, die Kathy Yaeji Lee in einen Blender aus Vaporwave-Ästhetik und Cyberpunk-Nostalgie stopft, schreddert sie den Griff in den Starkstromanschluss mit notgeilem A.S.M.R-Gehauche zu klebriger Teriyakisauce – irgendwo zwischen Nudelrestaurant in Downtown-Seoul im 23. Jahrhundert und den Straßen von Queens in den 90ern, draußen in der Vergangenheit, drüben in der Zukunft, da das Echo, dort seine Simulation. Nach Kollabos mit Mall Grab, Charlie XCX und Robyn, Coverversionen von Drake und einem Flummi-Leben zwischen zwei Coachella-Welten, hat sich Yaeji in New York festgesetzt. Aber ihr Wohnort ist egal. Die Musik flimmert als Hologramm im White Cube, als Avatar in Fortnite, als Green Screen im Musikvideo von Dua Lipa. Dass ihr Album, oder besser: Yaejis Mixtape What We Drew beim Bigplayer XL Recordings erscheint und sich anschmiegt wie ein Vibraphon auf Tauchstation, kurbelt den Kasten weiter an. Wer sich wie bekloppt die Club-Gigs ins Wohnzimmer streamt, macht zwei Schritte nach vorn und zimmert sich mit Yaeji den Stream in den Club. Christoph Benkeser

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