Woche für Woche füllen sich die Crates mit neuen Platten. Da die Übersicht behalten zu wollen, wird zum Fulltime-Job. Ein Glück, dass unser Fulltime-Job die Musik ist. Zum Ende jedes Monats stellt die Groove-Redaktion Alben der vergangenen vier Wochen vor, die unserer Meinung nach relevant waren. Im dritten Teil des November-Rückblicks mit Shed, Shanti Celeste, Underworld und sechs weiteren Künstler*innen – wie immer in alphabetischer Reihenfolge.
Panthera Krause – It’s A Business Doing Pleasure With You (Riotvan)
Panthera Krause fällt seit einigen Jahren immer wieder durch seine Veröffentlichungen auf. Handverlesene EPs auf Lobster Theremin, Uncanny Valley oder dem gemeinsam mit Markus Krasselt betriebenen Riotvan. Und davor mit seiner Band Marcel Rocel. Jetzt kommt mit It’s A Business Doing Pleasure With You sein erstes Soloalbum hinzu, das nicht allein durch den Titel für sich einnimmt. Panthera Krause ist ein Clubproduzent, der sich im Kontinuum zwischen Tanzflächendienstleistung und zweckfreier elektronischer Artikulation furcht- und mühelos bewegt. Schrulliges ist ihm ebenso nah wie die eine oder andere konventionelle Geste. Wobei repetitive Marimba-Patterns und Saxofon-Soli eben nicht unbedingt zum Standardrepertoire eines House-Tracks gehören, von ihm aber mit sanfter Gewalt und gesundem Humor in eine Gestalt gebracht werden, die unbedingt körperbewegungskompatibel ist. In „Das schöne Meer” wagt er sich vollends ins Offene hinaus, mit Flötenklängen, dezenter Perkussion und einem gesprochenen Text über das imaginierte Meer, wie eine Blinde es sich vorstellt. Wenn er andererseits, etwa im Titeltrack, eine Piano-House-Nummer will, dann mag man ihm keinesfalls widersprechen. Das Klavier klingt dabei, wie die übrigen Instrumente auch, selbst eingespielt. Und seinen eigenen Reim auf Donna Summers’ „I Feel Love” macht er sich sowieso („Road to Arcadia”). Erfreuliches Geschäft. Tim Caspar Boehme
Rrose – Hymn To Moisture (Eaux)
Obwohl Hymn To Moisture das erste Soloalbum von Seth Horvitz unter seinem Rrose-Alias darstellt, kann der genderfluide Produzent und Kunstliebhaber ein recht ausuferndes Oeuvre unter diversen Namen vorweisen. Nicht nur wegen zahlreicher, teils bestechend experimenteller EPs auf Sandwell District, Stroboscopic Artefacts, Infrastructure New York und dem eigenen Imprint Eaux. Als Sutekh hat der studierte Kognitionswissenschaftler schon seit dem Millennium ausgeklügelt glitchigem Techno reduzierter Machart seine Signatur eingezeichnet, bevor die meisten Hörer überhaupt begreifen konnten, was ihnen da auditiv abverlangt wird. Der Master in Electronic Music & Recording Media folgte zwar erst eine Dekade später, verhalf Horvitz aber dazu, den eigenen, ohnehin vorwärtsgewandten Sound übers nächste Level hinaus zu hieven. Auf den Kollaborationen mit Bob Ostertag, James Tenney und Charlemagne Palestine zeichneten sich die Umrisse dieser neuen Entwicklungsstufe schon ab. Nun scheint die Integration aller Erfahrungen der letzten zwei Dekaden auf Hymn To Moisture so gut wie abgeschlossen. Das Resultat: Mikrotonaler Techno als unheilvoll modulierte Exploration zwischen der abstrakten Kälte von Pan Sonic, einer atypischen Bedrohlichkeit wie in den besten Arbeiten Eliane Radigues und dem perfektionistischen Beatfokus von Plastikman. Durchweg erschreckend gelungen ist diese akustische Verkörperung von beinahe unsichtbaren Naturphänomenen wie Schleimpilzen, Schmetterlingspheromonen oder Schwarzen Rauchern am Ozeangrund. Zu hören bleibt nichts weniger als viszerale Kopfhörermusik für Nächte, in denen du Beyond The Mind’s Eye stundenlang auf mute schaust, um dieser Welt mindestens mental bis auf Weiteres zu entfliehen. Nils Schlechtriemen
Shed – Oderbruch (Ostgut Ton)
Fünf ist Oderbruch und Oderbruch ist fünf. Shed nimmt uns mit diesem Album mit auf eine Reise durch seine Heimat und schon die sorgsam gewählten Tracktitel helfen der Imagination des Hörers dabei, ein erstes Gespür für diese zu entwickeln. Die Fahrt beginnt auf der „B1”. Heftige Dance-Stabs rütteln die Reisegäste erst mal gehörig durch. Man meint fast, jedes einzelne Schlagloch zu spüren. Das Herzblut, das in diesem Werk steckt, spürt man vom ersten Moment an und kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. Wie ambivalent Shed jedoch seinem ursprünglichen Zuhause gegenüber steht, zeigt gleich darauf der zweite Song. Dieser ist komplett gegensätzlich. Dubbige, herrlich natürlich klingende Drums nehmen Hörer*innen an die Hand und laden zu einem Spaziergang an „Die Oder” ein. Ziemlich breakbeatlastig geht es dann vorbei an „Menschen und Mauern” sowie über „Sterbende Alleen”, wobei ersteres Stück angenehm verträumt und zweiteres eher basslastig und verspult daherkommt. Auf der C-Seite angekommen, sitzt man nachts gemeinsam mit Shed am Fluss und lauscht den Tieren und der Natur. Ambient, it is! Hat man die kurze Atempause ausgekostet, geht es mit sorgsam gelayerten Stakkato-Stabs weiter, während daraufhin „Trauernde Weiden” mit liebevollen, kräftigen Strings glänzt, die von furiosen Percussions ummantelt werden. „Das Bruch” ist der letzte Ort, in den uns ein vorsichtiger Einblick gewährt wird, und so völlig anders als alles, was wir zuvor gesehen haben. Balearic Beat meets Basic Channel meets Burial bei knapp 100 BPM. Was ein schönes Ende, was eine schöne Reise. Andreas Cevatli
Shanti Celeste – Tangerine (Peach Discs)
Tracks von Shanti Celeste sind meist melodiös und antriebsstark, dabei aber nie kraftmeierisch. Das gilt auch für den Großteil der Stücke ihres Debütalbums. In ihrem Groove-Podcast reihte Celeste vor zwei Jahren Tracks von Martyn, John Beltran und Pauline Anna Strom aneinander – und diese Referenzen fassen das musikalische Spektrum von Tangerine schon ganz gut zusammen: Die Detroit-Anleihen der Stücke sind zwar offensichtlich, dank der luftigen Produktion bleiben sie aber immer durchlässig für Versatzstücke anderer Genres. Ambiente Passagen zwischen Brian Eno und New Age finden hier ihren Platz neben leicht angedubbten, äußerst agilen Techno-Stücken – wobei letztere die Freiheiten des Albumformats zwar nicht ausreizen, aber durchaus nutzen: für plötzliche Tempowechsel etwa („Want”) oder ausschweifende Melodiebögen („Aqua Block”). Gelegentlich entsteht der Eindruck, dass auch der Hype um japanischen Ambient Spuren in der Musik der inzwischen nach Berlin übergesiedelten Produzentin hinterlassen hat. Dann wiederum unternimmt der vergleichsweise grimmige Dubstep von „Voz” einen wohl biografischen Rückblick auf Celestes Zeit in Bristol, wo sie vor gut zehn Jahren im Umfeld von Idle Hands begann aufzulegen und zu produzieren. Christian Blumberg
Soulphiction – 24/7 Love Affair (Local Talk)
Michel Baumann ist schon eine halbe Ewigkeit dabei. Als Produzent betrat er 1996 als Jackmate die Bühne. Bekannter ist der Stuttgarter inzwischen unter dem Namen Soulphiction, ein Pseudonym, das von seiner Liebe zu klassischem Soul erzählt. All die Jahre ist Baumann ein leidenschaftlicher Plattensammler gewesen. Sampling ist denn auch einer der Dreh- und Angelpunkte seiner Tracks. Doch bevor House in sein Leben trat, war da Rap, seine ersten Gigs als DJ hatte er auf Hip Hop-Jams. Und so ist seine Herangehensweise an Sampling auch heute noch unverkennbar von Hip Hop geprägt, Pete Rock oder Dilla sind zweifellos Referenzen. Zu hören ist das auch auf seinem dritten Album 24/7 Love Affair, dem ersten seit 2008. Hip Hop-Instrumentals spielen hier eine nicht unwichtige Rolle, hervorzuheben ist das stolpernd schlurfende „Smurfin”. Im Mittelpunkt steht aber Deep House im Sinne von Mike Huckaby, Andrés oder Moodymann. Wirklich gut gelungen ist ihm das etwa mit den Tracks „Luv Yaselves” oder „Blueprint”, „Beehive” hingegen ist eine allzu offensichtliche Hommage an „French Kiss”. Natürlich ist 24/7 Love Affair wertkonservativ. Man darf auch Dad House dazu sagen. Mit einigen Abstrichen dennoch eine wirklich gute Platte. Holger Klein
Space Dimension Controller – Love Beyond The Intersect (R&S Records)
Auf seinem zweiten Album für R&S Records malt Jack Hamill alias Space Dimension Controller in breit strahlenden, analogen Farben ein retro-futuristisches Bild, das an die Science Fiction-Ästhetik der 70er-Jahre des vergangenen Jahrtausends erinnert, genauso wie an deren psychedelische Auswüchse. Er verbindet dafür, zusammengezurrt von seiner Vocoderstimme, Elemente von Techno und – zu einem geringen Anteil – House, Ambient, Electro und IDM mit dem so überzuckerten wie exotischen Sounddesign von Weltall-Dokus und Zeichentrickserien unserer Kindheit. Ein überzeugend optimistisches Zukunftsbild, das dem in pinken Tönen strahlenden Airbrush-Cover des Albums ebenso entspricht wie der hübschen kleinen Science Fiction-Story, die in den Liner Notes erzählt wird. Der Geschichte nämlich von Mr. 8040, der am Rand von Raum und Zeit einen Unfall hat und auf einem seltsamen Planeten sein Raumschiff wie auch seinen Geist reparieren muss. Tim Lorenz
Stenny – Upsurge (Ilian Tape)
Das Debütalbum des gebürtigen Turiners Stenny bewegt sich zwischen den Polen Ambient und Breakbeat. Auf seinen früheren, seit 2013 auf Ilian Tape erschienenen Maxis war der Einfluss von Techno und IDM noch stärker herauszuhören, auf Upsurge jedoch dominieren über weite Strecken Jungle- und Drum’n’Bass-Hybride. Tracks, die atmosphärisch zwischen diesen Eckdaten liegen wie der vorletzte namens „Cursed”, erinnern wiederum an Spätneunziger-Listening Electronica, was dem Album insgesamt einen gewissen Touch in Richtung Pre-Millennium-Tage gibt, der aber weder unangenehm noch angestaubt wirkt. Im Gegenteil, die Labelpolitik und Geschmackssicherheit der Gebrüder Zenker ist hier in jedem Track spürbar, ebenso wie die ernsthafte, aber auch uneitle Herangehensweise Stennys, der die Entstehungsphase seines ersten Longplayers höchst sympathisch so beschreibt: „Es ist Musik, die in schwierigen aber schönen Jahren produziert wurde,(…) in denen ich mit den komplexen Gefühlen umgehen musste, die das Leben uns allen beschert. Nicht mehr.” Mathias Schaffhäuser
Underworld – Drift Series 1 (Caroline)
Wer kennt es nicht: Eben sieben Heineken beim Champions League-Gucken runtergeschüttet, zufällig mit „Born Slippy” in die Playlist reingegrätscht und schon labert man seine Freunde in breitestem Liam Gallagher-Denglisch mit Trainspotting-Zitaten voll, während man sich nebenbei eine Union Jack-Fahne um den Hals knotet und OK Boomer-Memes auf TikTok teilt. Keine gute Idee. Zumindest nicht in dieser Reihenfolge. Was würden bloß Karl Hyde und Rick Smith davon halten? Als Raver im Herzen verstünden die Underworld-Typen den Scheiß schätzungsweise sogar – oder ließen Altersmilde walten. Mit knackigen 62 bzw. 60 Lenzen am Buckel haben Hyde und Smith jedenfalls alles gesehen, was in den vergangenen 30 Jahren auf Tanzflächen zwischen Reykjavík und Sydney abgegangen ist – oder immer noch abgeht. Das Wort Rente hat schließlich noch niemand in den Mund genommen. Im Gegenteil: Nachdem Underworld ein Jahr lang jede Woche einen Track samt Video ins Netz gepfeffert haben, gibt’s die geballte Ladung auf sieben CDs als Partyspaß für die ganze Familie und als 80-Seiten-Booklet in Bibelgröße zum Unters-Kopfkissen-Legen. Wer wissen will, wie das 47 Minuten lange „Appleshine Continuum” mit den australischen Improjazzern von The Necks entstanden ist, warum Ashley Burchett alias Ø [Phase] die Underworld mit Techno aus dem Weltkriegsbunker durchschüttelt, wie viele Welten zwischen Spoken Word und Breakbeat und Bowie-Lookalikes liegen und warum nach Drift Series 1 noch immer nicht Schluss ist, muss lesen. Der streamende Rest hört – den umfangreichsten, fantasievollsten und besten Output von Underworld seit zwanzig Jahren. Christoph Benkeser
Ziúr – ATØ (Planet Mu)
Wieder etwas anderes. Nach den abstraktionsfreudigen Club-Feldforschungen ihres Debüts U Feel Anything? vor zwei Jahren setzt Ziúr ihre Erkundungen mit ATØ jetzt an den Außenrändern von Clubmusik und vereinzelt sogar elektronischem Pop fort. Als Klammer oder, vielleicht besser, größter gemeinsamer Nenner dient ihr Global Beat in einem stark erweiterten Sinn. Zu sagen, dass Ziúr aktuell zugänglicher klinge als 2017, ist dabei eine leichte Übertreibung. Rau, harsch und beim Einsatz von splitternden Beats wenig zimperlich ist die Wahlberlinerin immer noch gern. Doch es gibt mehr Harmonien, mehr Stimmen, sei es ihre eigene, hochgepitchte wie in „I Vanish” oder etwa der gerappte Gastbeitrag von Ash B in „F.O.E.”. Ziúrs Klänge sind weiterhin bevorzugt digital angespitzt, haben etwas zugleich Bedrohliches und Verletzliches an sich. So wie die Musik einerseits eine Öffnung hin zu womöglich neuen Hörergruppen signalisiert, besonders mit der skelettierten R’n’B-Nummer „All Lessons Unlearned”, gesungen von Samantha Urbani, andererseits mehr als einmal ihren spröden Schutzmantelcharakter recht deutlich behauptet. Zu sagen, dass hier am Club vorbei produziert wird, trifft es allerdings nicht. Denn auf einigen Tanzflächen ist es schließlich schon eine Weile nicht mehr allzu gemütlich, Stichwort Sonic Warfare. Die Angst tanzt bei Ziúr mit. Das muss man nicht mögen, kann man aber. Sehr gut sogar. Tim Caspar Boehme