Woche für Woche füllen sich die Crates mit neuen Platten. Da die Übersicht behalten zu wollen, wird zum Fulltime-Job. Ein Glück, dass unser Fulltime-Job die Musik ist. Zum Ende jedes Monats stellt die Groove-Redaktion Alben der vergangenen vier Wochen vor, die unserer Meinung nach relevant waren. Im zweiten Teil des November-Rückblicks mit Karenn, Lee Gamble, Nocturnal Sunshine und vier weiteren Künstler*innen – wie immer in alphabetischer Reihenfolge.
Function – Existenz (Tresor)
Der Infrastructure-Macher, Ostgut Ton-Artist und Berghain-Resident David Charles Sumner alias Function hat eine kristallklare, meditative, glitzernde, luftig dubbige und gehaltvoll schmatzende Soundästhetik, wie man sie bei vielen Produzenten im Zeitalter des Ableton Live-Transpose-Pottis und digitaler Mastering-Cuts leider vermisst. Die Platte arbeitet sich stilistisch durch das gesamte Spektrum des Techno- und House-Fließband-Undergrounds der letzten 30 Jahre. So startet „Sagittarius A (Right Ascension)” in der Nähe der hervorragenden, holländischen Deep House-Trance-Blaupausen auf Touché. „Pleasure Discipline” fährt die Drumcomputer-MIDI-Trigger-Kette gegen Mitte des Tracks wie Lil’ Louie Vega in „French Kiss” im Jahr 1989 gegen null BPM. Nur dass bei Function die quasi-kosmischen Detroiter Drexciya-Synth-Blubber-Flächen in ihrem Tempo verweilen. „The Approach” führt wiederum mit einer klassischen Juan Atkins-Model 500-Electro-Attitüde in die Berghain Kantine zum Geschirr spülen. Für „Ertrinken” ließe sich das Genre Deep Industrial erfinden. Und „Growth Cycle” und „Be” packen in verhallten, atmosphärischen 808-Clap-Loops tatsächlich wieder die Vocal-House-Ikone Robert Owens aus. „Zahlensender” könnte auch der noch bessere Soundtrack des Ghost In The Shell-Comics sein. Und aus dem Nichts überrascht „No Entiendes” mit dem wohl bekanntesten, aber tontechnisch noch nie so brilliant gehörten Break der HipHop-, Big Beat-, Jungle- und D’n’B-Geschichte. Amen! „Golden Dawn” knüppelt dort weiter. Das fährt derart holistisch gut ein, als stünde man strahlend vor dem Jüngsten Gericht. Während Max Romeo und The Prodigy schon ganz tief unten den „Chase The Devil”-Break „I’m gonna send him to outta space” vorbereiten. Das Album ist schlicht die hohe, heilige und heilende Kunst der alten Rave-Schule! Mirko Hecktor
Galcher Lustwerk – Information (Ghostly International)
Auch als Road Hog bekannt, veröffentlicht Galcher Lustwerk seit 2013 einen konsequent eigenständigen Sound zwischen Deep House, Detroit und Funk, der bisher etwa bei Tsuba Records oder auf seinem eigenen Label Lustwerk Music erschien. Auf Information, dem neuen Album des Wahl-New Yorkers, treffen warme Chords und Strings auf meist geradlinige Beats, zum Teil live eingespielte Drums, Bassgitarren und nicht zuletzt Galchers tiefenentspannte Vocals, welche die verrauchte Deepness der Tracks noch einmal nonchalant unterstreichen. In Kombination klingt das mal nach Jazzclub („Been A Long Night”) und dann wieder nach kontemplativer Afterhour („Cig Angel”). Auch wenn Lustwerk hier zum ersten Mal vermehrt auf akustisches Instrumentarium setzt, weicht Information nicht von seinem zurückgelehnten Trademark-Sound ab, dem es völlig wumpe ist, ob er im Club oder im Büro läuft, und der sich wie eine alles entschleunigende Patina über das Hier und Jetzt legt. Stefan Dietze
Giant Swan – Giant Swan (Keck)
Giant Swan sind wie ein zu lang angespannter Muskel: Es zuckt, ziept und spannt nach einer Weile, weil die steinerne Härte von Konvulsionen heimgesucht wird. In kürzester Zeit haben sich Robin Stewart und Harry Wright einen exzellenten Ruf erspielt, der vor allem auf ihre Live-Sets zurück geht. Die nämlich bedienen das Verlangen nach Eventisierung und Authentizität gleichermaßen. Das Set-Up der beiden Briten ähnelt dem von Harsh Noise-Projekten: Jede Menge Pedals und ein Mikro sorgen für den notwendigen Krach, viel zu gucken gibt es bei den größtenteils improvisierten Auftritten obendrein. Hochleistungssport, Maschinen-Fetisch, grenzenlose Virilität – das sind Giant Swan. Im selben Zug ist jede einzelne Kick perfekt mit dem Puls der Zeit synchronisiert, wie auch ihr selbstbetiteltes Debütalbum auf ihrem eigens gelaunchten Label Keck beweist. Da gibt es die teutonischen Grooves von EBM, die poröse Soundästhetik von Industrial und natürlich Analog-Techno auf den Nacken, dass selbst Blawan darunter einbrechen würde. Uptempo, Midtempo – drunter geht’s, wie im Falle des Vocal-Ambient-Stücks „Peace Fort 9”, nur selten zu. Das macht auf Albumlänge aber natürlich genau das, was es soll: Tierisch viel Laune. Ob es allerdings genauso viel Halbwertszeit hat, ist fraglich. Zu viel Anspannung tut auf Dauer schließlich weh. Kristoffer Cornils
Karenn – Grapefruit Regret (Voam)
Wo ist er denn nun? Nach dem erstmaligen Anhören von Grapefruit Regret muss man sich erstmal kurz sammeln und den… – ah, da ist er ja! – Kopf suchen gehen. Der ist einem nämlich mit ziemlicher Sicherheit gerade eben weggeflogen. Wie schon auf den vorangegangenen Alben klingen die beiden Briten von Karenn so authentisch und stilprägend, dass man sich unwiderruflich nach ihrem Geheimnis fragt. Das findet man ironischerweise in ihren Solo-Projekten. Auch da geben Blawan und Pariah nämlich seit jeher wenig darauf, wie andere zeitgenössische Artists gerade klingen oder welches Gear gerade angesagt ist. Die zwei machen einfach ihr Ding. Ob rough, raw und höchstgradig verschachtelt (Blawan) oder experimenteller Ambient mit aufregenden Plottwists (Pariah), der Stil-Clash im Berliner Studio von Blawan bringt ein weiteres Soundwelt-Unikat mit belustigendem Titel hervor. Der Fokus liegt bekannterweise klar auf dunkler Clubmusik und reicht vom Rave-Orgasmus („Kumquat”) über den komplexen Stomper („Lemon Dribble”) zum nasty Percussion-Slow-Burner mit Verbrennungsgefahr („Cloy”). Dass es auf der Scheibe nicht den einen, universell anerkannten Ausnahme-Track gibt, ist übrigens die eigentliche Meisterleistung der acht Titel umfassenden LP. Am besten sucht man sich einfach selbst einen aus. Andreas Cevatli
Lee Gamble – Exhaust (Flush Real Pharynx Part 2) (Hyperdub)
Part zwei des surrealen Triptychons Flush Real Pharynx von Lee Gamble sorgt für wohlige Erschöpfung. Exhaust ist die konsequente Fortsetzung der bereits auf In A Paraventral Scale forcierten Hektik, die vom Londoner spätestens seit seinem 2017er Meisterwerk Mnestic Pressure in immer ausgefallenere Extreme gejagt wird. Samples scheinbar zerberstender Flaschen und Xylophone prügeln sich da mit Schmackes durchs verzerrte Klangbild, dem knochige Beinbruch-Beats, Flummi-Bässe und für die IDM-Klientel hochgejazzte MIDI-Melodien hinterherhechten. Zeit zum Ausruhen bleibt keine. Direkt von der ersten Sekunde an wird diese Platte ihrem Namen vollumfänglich gerecht. Zwar sind Versatzstücke aus Breakcore erkennbar – zuweilen klingen die Snares wie aus Aaron Funks Modulations-Archiv – und von Glitch bis Weightless ist sowieso alles dabei, was die britische Elektronik-Szene in den letzten Jahren so kultiviert hat. Doch Gamble nutzt seine herausragenden Fähigkeiten in puncto Stem-Mixing, um daraus einen gänzlich eigenen Cocktail schräger Clusterfucks zu quirlen. Melodien werden in Tracks von der Verwirrung eines „Glue” oder „Switches” bestenfalls angeschnitten, was auch schon direkt der deutlichste Unterschied zum ersten Teil der Triologie ist. Prägten da noch Ambient und Prog-Electronics das Geschehen, dominieren hier vertrackte Rhythmen, für sporadische Sekundenbruchteile auch straightes Techno-Stampfen oder androidische Sprachsamples. Die Zielsetzung ist klar: Mit der Synth-Draisine tiefer in unerforschtes Terrain, auf mehreren Schienen gleichzeitig coden und lernen, welch ahumane Sounds dabei entstehen. Wo andere erst lernende KI-Systeme mit Input füttern, klingt Gamble selbst wie eines. Wüst! Nils Schlechtriemen
Levon Vincent – World Order Music (Novel Sound)
2019 haut Levon Vincent die Platten nur so raus: schon vier EPs auf seinem Label Novel Sound, jetzt noch ein verschenktes Album hinterher. Was ist da los? Vincent selbst beschreibt sein neuestes Werk als den „Sound, Spaß zu haben, das Leben zu genießen, mich durch Musik auszudrücken, neue rhythmische Ideen auszuprobieren, emotionalen Ballast abzuwerfen, das Leben mit Optimismus anzugehen – den ganzen guten Kram halt!” Vielleicht daher das Bedürfnis zu veröffentlichen. World Order Music umfasst tatsächlich die bisher euphorischsten und optimistischsten Tracks in seiner Diskografie. Das ungeschriebene Szene-Gesetz, ein Techno-Album mit Ambient-Prelude beginnen zu müssen, wird hier gekonnt missachtet. Der Opener „Kiss Marry Kill” setzt das Energielevel ab der ersten Sekunde weit oben an. Was folgt, sind knapp 70 Minuten mitreißende Tracks zwischen House, Techno, Trance und einer Downtempo-Nummer zum kurzen Durchatmen. „Reverse Stockholm Syndrome” (mindestens in den Top Fünf der weirdesten Techno-Titel) kommt dem gewohnten Sound Vincents mit minimalistischer Perkussion und einem dominanten, charakteristischen Synth am nächsten. Das trancige „Opening World” treibt die melancholische Euphorie fast bis in den Kitsch, ein Glück holt einen „And It Don’t Change” mit einschneidender Bassline und tief gepitchten Vocals wieder zurück. Macht richtig Spaß! Christoph Umhau
Nocturnal Sunshine – Full Circle (I/AM/ME)
Maya Jane Coles alias Nocturnal Sunshine will es nun wirklich wissen. Nachdem ihr selbstbetiteltes Debütalbum noch unterm Radar flog, wird nun alles für den prompten Erfolg getan. Empfindet man da etwa Torschlusspanik? Also nochmal kurz zurück: Bis 2015 kannte man die Londonerin als Tech-House-Produzentin. Nachdem aber der Schein der Hit-Single „What They Say” langsam erlosch, versuchte sie es mit „einer künstlerischen Vision, die in die Neunziger zurückreicht”. Wow, fette Ansage! Funktionierte eher mittelmäßig. Jetzt meint sie es ernst und holt sich eine ganze Riege an Hit-Garanten an Bord: Ry X mischt mit, Peaches hat ein Feature und auch die Break-Röhre Catnapp ist dabei; darüber hinaus Gangsta Boo von Three 6 Mafia. Der versprüht Memphis-Rap-Feeling, was dem hip-hoppigeren Generalentwurf der Platte widerspiegelt. Bei so viel Starpower kommt natürlich auch was Ordentliches bei rum. Full Circle ist gereifter als der Vorgänger, zielt eindeutig auf Heavy Rotations bei Spotify und Streaming-Konsorten, möchte möglichst breit aufgestellt sein und überzeugen. Gleichzeitig werden wieder die gleichen Fehler gemacht wie vor vier Jahren. Wo man Spiel erhofft, wartet ausschließlich Verkrampfung. Ein Album wie ein Silvesterabend: Alle wollen die geilste Nacht des Jahres erleben, und die Hälfte kotzt schon, bevor man überhaupt den Club betreten hat. Die andere Hälfte nimmt es sportlich, feiert für die anderen mit und schläft nach wildem Tanz entspannt am Neujahrsmorgen ein. Lars Fleischmann