Es ist schon eine Binse, aber die Reduktion der Möglichkeiten, die Beschränkung auf einen vorgegebenen fixen musikalischen oder produktionstechnischen Rahmen kann ungeahnte kreative Energien freisetzen. Kein Wunder, dass es Labels gibt, die sich diese Idee explizit zum Konzept gemacht haben. Zwei davon möchte ich in dieser Ausgabe des Motherboard näher vorstellen: Das Berliner One Instrument Records, bei dem sich die beteiligten Künstler*innen auf je ein Arbeitsgerät pro Stück beschränken und zwar ausschließlich auf dieses.
In der Mehrzahl der exklusiv für eine Veröffentlichung auf dem das Label geschriebenen oder zumindest bis dahin unveröffentlichten Stücke ist das instrumentale Werkzeug der Wahl ein Synthesizer, gerne ein Vintage-Gerät wie der EMS Synthi AKS. Ein relativ kompaktes, portables Modular-Rack aus den 70er Jahren, das Donato Dozzy auf seiner One Instrument Sessions (One Instrument, VÖ 6. Dezember) einsetzt. In seiner live eingespielten Session konzentriert sich Dozzy auf die klassischen Aspekte der Klangsynthese, auf monophones Hüllkurven-Zwitschern und schmutzigen Filter-Drone. Also eine sehr moderne und ziemlich experimentelle Auslotung der Möglichkeiten des AKS, welches unter anderem den Sound der klassischen Ambient-Alben von Brian Eno geprägt hat und bei Roxy Music, Pink Floyd oder Jean-Michel Jarre für eher liebliche Pop-Momente sorgte.
Eine gute Menge weiterer sehr diverser und eher skizzenhaft knapper Synthesizer-Explorationen alter wie neuer Bauart finden sich auf der diesjährigen Compilation 2019 (One Instrument), die bereits im Januar erschien und von grooviger Electronica bis zu körnigem Noise alles abdeckt, was sich aus Strom so zusammenbasteln lässt. Die Sessions beschränken sich allerdings nicht auf Synthesizer. Akustische Instrumente sind ebenso möglich wie die EP One Instrument Sessions (One Instrument) des Jazz-Vibraphonisten Alessandro Di Puccio zeigt. Dreimal swingendes Geklöppel mit dem gewissen 50er-Jahre-Vibe, den Di Puccios Instrument so massiv ausstrahlt. Die außergewöhnlichsten bisher erschienenen Sessions kommen von dem indonesischen Tape-Ambient Produzenten Fahmi Mursyid. Seine One Instrument Sessions (One Instrument) verzichten weitgehend auf Elektronik und paraphrasieren die klassischen und traditionellen Klänge seiner Heimat Bandung im westlichen Java als Electronica und Postrock. Dazu nutzt er die althergebrachten Instrumente der Sunda wie die Bonang-Gongs oder die Kendang-Trommeln, die im Gamelan zum Einsatz kommen, jeweils in einem Track isoliert zu erstaunlichem Effekt.
Stream: Fahmi Mursyid – One Instrument Sessions
Bei dem australischen Digital-Label Longform Editions aus Sydney besteht die Einschränkung, die ebenfalls als Erweiterung zu verstehen ist, im langen Atem, im tiefen Eintauchen in ein einziges strukturell zusammenhängendes und homogenes Stück. Die praktischen Reaktionen auf diese Vorgabe fallen in zwei selbstverständlich nicht strikt trennbare Gruppen: einerseits in eher vom Postrock kommende, in Songstrukturen denkende Musiker*innen, die die Vorgabe dazu nutzen, auszuschweifen, ihr Einzelstück quasi endlos zu variieren und krautig zu mäandern. So zuletzt die Postrock-Pioniere Pan American, die sich für Nightbirds (Longform Editions) nach vier Jahren Veröffentlichungspause wieder zusammengefunden haben, um ein siebzehnminütiges Stück feinstofflichen Gitarren-Ambients zu fabrizieren, der sie von ihrer besten, zartesten Seite zeigt. Im zeitlich noch entgrenzteren Demeter (Longform Editions) des Chicagoer Postrock-Trios Bitchin Bajas kommt der beruhigende wie wärmende Aspekt der langen Form noch stärker zum Tragen. „Demeter“ ist wahrscheinlich das leisestes Stück ihrer über 50 Tapes umfassenden Diskografie und vielleicht sogar ihr Schönstes.
Der andere Aspekt, der durch die lange Form herausgekitzelt wird, ist das Deep Listening, also Bewusstsein für winzige Sounddetails, die in einer konzentrierten Komposition langsam ausgebreitet werden. Diese Art der langen Form ist eher bei strukturorientierten Komponist*innen aus Sound Art und Neuer Musik zu finden, greift aber ebenso in Ambient wie die eher krautigen Postrock-Sounds auf Longform Editions. Das diskreteste und dabei detailfreudigste Album, das auf dem Label je erschienen ist, dürfte 29° (Longform Editions) der Australierin Lisa Lerkenfeld sein. So leise und zurückhaltend und doch reichhaltig und interessant ist selbst dezidierte Deep Listening-Sound Art oder Ambient nicht oft. Wobei Undercurrents (Longform Editions) der schwedischen Komponistin Kajsa Lindgren kann da mithalten. Ihr Vierzigminüter ist ein spannungsgeladenes Dark Ambient-Hörspiel, aus voller Stille geschöpft. Der Japaner Hegira Moya setzt in Palace (Longform Editions) dagegen auf eine andere Form des Hörens, die Tiefe in der Einfachheit ozeanischer Sounds, nicht auf die subtile Fülle im Detail. Alison Cotton hat ihre erst zweite Soloarbeit in über zwanzig Jahren Aktivität in diversen Shoegaze-/Indie-Bands im britischen Reading ganz ihrem Instrument der Viola gewidmet. Behind The Spiderweb Gate (Longform Editions) ist eine tieftraurige Streicherelegie, die immer wieder in leicht atonale Oberton-Drones abdrifted, dabei aber immer ihre überwältigende Schönheit behält. All diese Ansätze haben eine immense Stärke und sind hier jeweils virtuos umgesetzt.
Stream: Alison Cotton – Behind the Spiderweb Gate
Stamina und den Willen eine Idee, einen Plan in aller Konsequenz durchzuziehen, geht selbstverständlich genauso gut ohne ein spezialisiertes Label. Was zum Beispiel der bereits erwähnte Donato Dozzy auf 12H (Presto!?) macht, mag weniger streng konzeptuell wirken als seine One Instrument Session. Die zwölf Tracks sind aber durchaus von einer vergleichbaren Tiefe und Virtuosität im Umgang mit seinen Maschinen charakterisiert – nur eben in Ambient und Electronica umgesetzt. Die Stücke bilden einen Zusammenschnitt aus Dozzys ortsspezifischer Sound Art-Arbeit für die Music Bridge in Rom: ein zwölf Stunden dauerndes Stück, das verteilt auf 24 Lautsprechern entlang der Brücke ein Raumklangerlebnis bot. Die Komprimierung auf zwei Kanäle und eineinhalb Stunden hat den Stücken nicht geschadet, im Gegenteil, es hat ihnen eine Home Listening-Qualität mitgegeben, die das ortsspezifische Original nicht hat, nicht haben kann.
So richtig langen Atem beweist die schwedische Komponistin Susanne Skog auf den zwei Stücken von Siberia/Sirens (Fylkingen Records, VÖ 18. November). Erzählende Soundcollagen aus Field Recordings aus der Transsibirischen Eisenbahn und von Sirenen rund um der Welt, die zu jeweils zwanzig Minuten elektroakustisch-dröhnenden Deep Listening-Epen zusammenmontiert sind. Der anonym agierende US-amerikanische Analogsynthesizer-Explorateur Eleh zieht sein Konzept, ausschließlich ultra minimalistische statische Drones zu produzieren, welche nur in Neben- und Obertönen subtil variieren, seit zwanzig Jahren mit eiserner Konsequenz durch. Im jüngsten Eleh-Elaborat Living Space (Touch) ist das nicht anders. Allerdings seien die Stücke „in the Spirit of John Coltrane“ aufgenommen, es ist also quasi Elehs großes spirituelles Jazz-Album. Es klingt, wie ein strenges Celer-Album, bei dem Will Long vergessen hat, die Heizung einzuschalten. Der unermüdliche Däne Paw Grabowski alias Øjerum hat mit 7 Sjæle (Midira) schon wieder ein stattliches Ensemble feinsten Loop-Ambients im Sortiment. Es ist sein neuntes oder zehntes Album allein in 2019. Das Geheimnis seiner immensen Produktivität bei praktisch konstanter Güte der Stücke ist wohl die unbeschwerte Art, mit der Grabowski einfache Sounds und Loops mit Pedalen und Digital Delay manipuliert, als ob es diese Techniken nicht schon seit vierzig oder mehr Jahren gäbe. Øjerums serielle Tracks in einem mehr als wohlbekannten Sounddesign, das sich bis zu Brian Enos Music for Airports und Another Green World zurückverfolgen lässt, wirken nur deswegen so frisch, weil er sie mit einer Haltung und Hingabe einspielt, als hätte er den Sound in jedem einzelnen Stück gerade jetzt erst erfunden.
Stream: Susanne Skog – Siberia
Eine weitere Möglichkeit, auf der langen Strecke kreativ zu bestehen, ist die freie Improvisation. Sie gelingt im Überlapp des Dreiecks von kreativer Inspiration, intuitivem Zusammenspiel und instrumentellem Können. Keine einfache Sache also. Die vierte Zutat ist immer etwas Glück und eine gute Tagesform. Kein Wunder also, dass die meisten gänzlich oder zum Teil improvisierten Ambient-Alben von Duos versierter Instrumentalist*innen gemacht werden, die ebenso solo oder in größeren Ensembles bestehen können und meist seit vielen Jahren in verschiedenen Jazz- oder Free Improv-Combos spielen. Am längsten halten heuer die beiden Norweger Torstein Lavik Larsen an der Trompete und Fredrik Rasten an der akustischen Gitarre durch. Ihr digital elektrifiziertes Duo Pip. definiert auf Possible Worlds (Sofa) das ziellose Mäandern durch freundliche wie ultra ausgeruhte Postrock-Drone-Gefilde als Neuinterpretation indischer Dhrupa-Klassik aus dem Geiste der freien, aber zielgerichteten Improvisation. In den fünfundsechzig Minuten die ihr Stück abschweift drehen sie das Thermostat immer mal runter und wieder hoch, bleiben aber durchwegs in einem sehr lebensfreundlichen Wohlfühlbereich.
Das prominent besetzte, norwegisch-französische Improv-Quartett Dans Les Arbres agiert auf dem knapp eine Stunde dauernden Stück Volatile (Sofa) formal deutlich radikaler und kompromissloser, was die Freiheit der Sounds angeht. Über die ganze Länge pressen sie die extrem kurzen und meist atonalen Klänge, die die vier Musiker Klarinette, Schlagwerk, präpariertem Piano und Table Top-Gitarre entlocken, in einen winzigen Klangraum aus Beinahe-Stille. Das Album ist ein einziges Ächzen, Knirschen, Quietschen und Knispeln. Erstaunlicherweise ist das Ergebnis dieses vermutlich sehr anstrengenden Entstehungsprozesses total einleuchtend, wirklich leicht zugänglich und angenehm zu hören. Es wird vor allem über die Strecke nie langweilig. Geht’s noch kleinteilig, nervöser, hyperaktiver oder quiekig-fiepender? Na klar, beim Brooklyner Label Hausu Mountain hat man ein Händchen für sowas. Das Tape If Beggars Were Horses Wishes Would Ride (Hausu Mountain, VÖ 29. November) des Duos Moth Cock packt einen kondensierten, instrumentalen Irrwitz der Bandbreite Math-Core bis Free Noise in fünfzig Minuten – da fällt dir nichts mehr rein.
Stream: Dans Les Arbres – Volatile
Das musikalische Alleinstellungsmerkmal des britischen Kosmopoliten Gareth Davis ist sein exotisches Instrument, die Bassklarinette, mit der er diversen pan-europäischen Kombos wie A-Sun Amissa, Oiseaux-Tempête, Birdt und Shivers ganz spezielle Drone-Nuancen im unteren Frequenzbereich beisteuert. Sein bevorzugtes Betätigungsfeld sind allerdings Duos. Zum Beispiel mit dem Electronica-Pionier Robin Rimbaud als Gareth Davis & Scanner. Bei der bereits mehrfach bewährten Zusammenarbeit liegt der Fokus auf dem Flow eines langen Drones, der auf Footfalls (Miasmah) von freundlichen Electronica-Elementen überschrieben wird.
Gareth Davis & Duane Pitre setzen dagegen voll auf die Überlagerung von freier Improvisation mit Elektroakustik. Der in New Orleans lebende Duane Pitre ist in der Post Hardcore-Szene Südkaliforniens musikalisch initiiert worden, hat aber nur die mathematische Strenge und einen tiefen Ernst, wenn es ums Musikmachen geht, in seine spätere Karriere mitgenommen. Ähnlich Eleh verfolgt Pitre einen extremen Minimalismus der Obertöne in reiner Stimmung, dieser immer leicht archaisch klingenden Harmonie auf der Basis von ganzzahliger Frequenzverhältnisse. Auf Nótt (Midira) wird Pitres Oszillator-Strenge von Davis mäandernden, sich immer wieder verschiebenden improvisierten Sounds auseinander genommen, ja richtiggehend expandiert und explodiert. Im Duo First Tone mit Turk Dietrich von den Electronica-Postrockern Belong und Second Woman baut Duane Pitre ebenfalls ein strenges tonales Fundament, auf dem Dietrich flirrend-zitternde akustische Akzente setzt. Das Debüt des Duos Reactions (Spectrum Spools/Editions Mego, VÖ 15. November) ist für Pitres Verhältnisse recht entspannt, ambient und füllig, für Dietrich wiederum sehr feinnervig und subtil, also eine echte Symbiose, die die Stärken beider Akteure hervorbringt.
Stream: Gareth Davis & Duane Pitre – Nòtt (Edit)
Sowieso treibt die Idee, in kleiner Besetzung freie improvisierte Klänge akustischer Art mit digitaler Prozessierung zu Ambient, reduziertem Postrock oder Drone zu verschmelzen, gerade so bunte und üppige Blüten wie seit den frühen Nullerjahren nicht mehr. Und so unverkrampft schön und angenehm interessant wie in dieser Saison klang es noch nie. Wie zum Beispiel das Duo Joanna John & Burkhard Stangl aus der polnisch-norwegischen Vielfach-Künstlerin, die Collagen, Performances, Fotografien, Videos und Sound Art macht, und dem Gitarristen und Urgestein der Wiener Free Jazz- und Improv-Szene, der in atonalem Noise ebenso heimisch ist wie im strengem Minimalismus. In das wundervolle Album Lynx (Interstellar) haben sie wohl die zart schönsten und im konventionellen Sinne angenehmsten Klänge ihrer Karrieren gelegt, ohne je hinter die neutönenden Ansprüche ihres Genres zurückzufallen, Grenzen zu sprengen. Mit einer smoothen Jazz-Gitarre auf einem Vintage-Röhrenverstärker und einem Analogsynthesizer, der ebenso Vintage und edel klingt, dazu mit Johns nicht singender Stimme und elektroakustischen Versuchsanordnungen folgen sie dem Weg des Luchses, der hier ein Weg nach innen ist.
Die Musiker des Hamburger Trios Giraffe können auf eine ähnlich lange und diverse Aktivitätshistorie zurückblicken. Zusammen als Combo sind sie dagegen noch jung und frisch. Ihr drittes Album Desert Haze (Marionette) setzt die klassische Jazz-Besetzung Piano, Gitarre und Schlagzeug auf Ambient im Geiste von Kraut- und Postrock an. Da helfen die geballten je zwanzig bis dreißig Jahre Erfahrung in Improvisation wie im Mainstream-Pop (Charly Schöppner war in den Achtzigern bei den Hamburger Synthpoppern Boytronic und Electric Theatre), die bei Giraffe allerdings immer dem Gesamtkonzept untergeordnet ist, subtile, ruhige unaufdringlich mäandernde Zuhörmusik zu fabrizieren. Das norwegisch-britische Cello-Percussion-Duo BirdWorld verfolgt auf UNDA (Focused Silence) eine vergleichbare Strategie, improvisierte Ambient-Collagen mit einem gewissen Postrock-Appeal zu basteln. Eine gehörige Portion elektronischer Abenteuerlust gehört hier ebenfalls zur Grundausstattung.
Das Kölner MME dUO ist aus dem Improv-Elektronik-Projekt Sculptress of Sound hervorgegangen, einem Schlüsselprojekt der neuen, jungen und nicht androzentrischen elektroakustischen Free Improv-Szene Kölns. Zwischen allen Schubladen zu spielen, weder akademische Klangforschung, noch etablierter (Free) Jazz zu sein, gehört hier zum Konzept wie eine überbordende Experimentierfreude. Auf awholerunboom (Makiphon, VÖ 22. November) haben Patricia Koellges und Tamara Lorenz ihr klangliches Spektrum nochmal gehörig erweitert. Von klassisch akustischer Jazz-Besetzung mit und ohne Stimme, über digitales Sound Processing und Sample-Collagierung zu selbstgebauten elektroakustischen Gadgets und halbelektrischen Soundmaschinen reicht ihre spielerische Klangforschung. Ein wunderbar offener und vielseitiger Sound. Immer überraschend, immer anders.
Video: Joanna John & Burkhard Stangl – Her Presence and Tides
Wenn improvisierende Drone- und Ambient-Musiker ihre Vergangenheit aufarbeiten und ihre Wurzeln in Black oder Doom Metal wiederentdecken und thematisieren, klingt das naheliegenderweise deutlich finsterer. Der Overlord des Genres dürfte unbestritten Stephen O’Malley von Khanate und mindestens einem Dutzend weiterer Doom, Death und Trash Metal-Bands aus dem US-amerikanischen Nordwesten sein. Sein bekanntestes Projekt, das Mönchskutten-bekleidete Drone- und Doom-Outfit Sunn O))) ist jetzt zwanzig Jahre aktiv und produziert unermüdlich in gleichbleibend hoher Qualität im untersten vorstellbaren Frequenzbereich – zuletzt Pyroclasts (Southern Lord). Mit dem Elektroakustik-Komponisten Kassel Jaeger alias François J. Bonnet & Stephen O’Malley verschiebt sich O‘Malleys Fokus vollends in Richtung Drone Ambient. Die runtergestimmten, verzerrten Gitarren sind auf Cylene (Editions Mego) beinahe vollständig in den Dienst einer subtil dröhnenden und drohenden Deep Listening-Klangumgebung getreten. Und doch ist Metal als Wille und Vorstellung präsent.
Der kalifornische Fusselbart Aaron Turner von den Prog-Metallern ISIS (und aktuell mit Faith Coloccia bei Mamiffer, siehe die vorige Ausgabe dieser Kolumne) kommt auf Repression Blossom (Sige) direkter zum Punkt. Strukturell ist Metal hier zwar komplett abstrahiert, die Stücke sind improvisierte Tracks, keine Songs, aber der Sound radikalisiert Death Metal noch zu harschem Feedback-Noise. Captivity (Souk/Discrepant) von Only Now ist ein Reissue des Nebenprojekts von Kush Arora aus San Francisco, in dem der Dancehall- und Bass-Produzent seine Vergangenheit in Bay Area-Hardcore, Black Metal und Power Electronics-Bands verarbeitet. Metal ist hier ebenfalls eher hintergründig als Erfahrungshorizont vorhanden, führen die Postrock-nahen, verstolperten IDM-Beats, die meist gerade noch so tanzbar sind, allerdings in dunkle, unterschwellig bedrohlich wirkende Klangareale. Autechre-Noir Metal sozusagen. In dem Projekt mit dem tollen Namen Still und Dunkel haben sich drei Schweizer Eher-Nicht-Musiker zusammengetan, um ihre Vorstellung von schwarzem Metall in eine volldigitale Eher-Nicht-Musik umzusetzen. Abandoned (Hallow Ground, VÖ 8. November) buddelt mit seinen düsteren Feedback-Sounds und Rausch-Dröhn-Loops irgendwo da, wo sich finstere Sound Art, Dark Jazz und Dark Ambient gute Nacht sagen. Mehr als beeindruckend, wie krass und doch hörbar das Ganze ist.
Stream: Still und Dunkel – Colossus
Seelenfrieden und Gemütsruhe einkaufen zu können, ist heuer keine absurde Idee. Die alte Schule von Ambient mit akustischen Instrumenten, Piano oder Akustikgitarre im elektronischen Fluss ist besonders gut geeignet, zum Beispiel ein Naturerlebnis in einem Tonträger zu komprimieren. Der Effekt der milden Nostalgie, der Wärme leicht ausgeblichener Polaroids ist da quasi schon inbegriffen. Sylva (Morr, VÖ 15. November) des frankophilen und ambient-ophilen amerikanischen Postrockers Thomas Meluch alias Benoît Pioulard verdoppelt dieses Sentiment noch einmal. Zum Album gibt es ein feines Fotobuch mit Polaroids – Naturbilder, die Meluch auf Reisen quer durch die USA geschossen hat und die in ihrer leicht verwaschenen, unscharfen Zartheit die zwischen glimmendem Gitarren-Drone und verwehtem Shoegaze oszillierenden Stücke von Sylva perfekt illustrieren.
Ähnlichen Ambient-Pop für die Nachsaison macht das neue Projekt des 12K-Labelmachers Taylor Deupree mit Japan-Expat Corey Fuller. Zusammen nennen sie sich Ohio. Ihr Debüt Upward, Broken, Always (12K) bringt noch einmal eine sanfte Erinnerung an den vergangenen, verschwendeten Sommer in die überheizten Wohnzimmer. Mit Akustikgitarre, vorsichtigem Folkgesang und extrem lieblichem Laptop-Glitch dürfte das Debüt des Duos wohl die entspannteste und am wenigsten konzeptstrenge Platte sein, die Deupree je gemacht hat. Von Fuller ist man das ja schon eher gewöhnt. Kirk Barley aus dem nordbritischen Yorkshire schafft auf Landscapes (33-33, VÖ 19. November) ebenfalls Ambientklänge, die dem notorisch feuchtkalt-klammen Wetter der Gegend mehr als nur trotzen. Eine wunderbar füllige und doch leichte Akustikgitarre, komplett anti-melodisch und doch durchwegs super harmonisch, dazu komplett anti-rhythmisches Percussiongeklapper, das doch freundlicher nicht sein könnte. Seelenruhiger Ambient mit der Abenteuerlust von Free Jazz.
Stream: Benoît Pioulard – Keep
Mehr halbakustischer Ambient in höchster Qualität kommt heuer vom Schweizer Remo Seeland. Der ist trotz einer eher schmalen Diskografie ein zentraler Protagonist der Szene seiner Heimatstadt Luzern, wo er seit den frühen neunziger Jahren in diversen Gothic Folk und Spät-Industrial-Projekten wie Nàda aktiv war, einer Band, aus der auch der Post Club-Produzent S S S S kommt. Doch wenig davon, außer vielleicht einem langsam verfeinerten Gehör für subtile Soundnuancen, hat den Weg auf Seelands spätes Solodebüt Hollow Body (Hallow Ground) gefunden. Die klangschweren, aber undüsteren Stücke bewegen sich erfreulich frei zwischen purem Ambient, Dark Jazz und Lounge Hop. Der Kölner mit türkischen Wurzeln Ozan Tekin beherrscht das freie Spiel mit aus dem Club heraus gedachtem Ambient, warmer Electronica und feinen Beats schon jetzt perfekt. Sein erstaunlich erwachsenes und verfeinertes Debüt Pillars of Salt (Noorden) spielt bei den in der Oktoberausgabe des Motherboards vorgestellten Electronica-Größen locker auf Augenhöhe mit.
Stream: Remo Seeland – Hollow City
Für den Wiener Dino Spiluttini liegt eine wichtige Inspirationsquelle in der sehr speziellen Kombination von Natur und Kultur, die um den Tod geschaffen wurde, zum Beispiel auf Friedhöfen, den sprichwörtlich letzten Ruhestätten von Menschen, aber ebenso städtische Zufluchtsorte von Tieren und Pflanzen. Musikalisch bedient sich Heaven (Editions Mego) naheliegend bei alter Kirchenmusik, Chorälen und Orgelkompositionen, die allerdings einem massiven digitalen Zersetzungsprozess unterzogen sind. Das betont einerseits ihren elegisch in Trauer isolierten Schwermut, reißt diesen aber genauso oft auch in Fetzen und lässt Luft in die Krypta.
Video: Dino Spiluttini – Touch Isolation
Dunklere Spielarten von Ambient und Drone sind geradezu prädestiniert für die klangliche Umsetzung von Solastalgie, dem existenziellen Druck, den die humantechnischen Eingriffe in Klima und Umwelt hervorrufen, dem Stress des Anthropozäns, der menschengemachten Erdepoche. Beim Berliner Tape-Label Crux Axul nimmt man diese Ängste ernst. Für ihre erste Kompilation New Anxieties (Crux Axul) haben sie verschiedene, assoziierte Produzent*innen rund um den Globus dazu eingeladen, ihr je eigenes Unbehagen am aktuellen Zustand der Welt zu illustrieren. Die Ergebnisse passen praktisch alle in das Schema von Dark und Heavy Ambient mit mehr oder minder deutlichen Techniken aus elektroakustischer Komposition. Gleichzeitig ist es ein Showcase junger Genre-Talente, von denen der Berliner Shō und die Italiener Holy Similaun und Coeden noch am bekanntesten sein dürften, wobei die Debüts etwa von Shannon Soundquist diesen qualitativ in nichts nachstehen.
Das zehnteilige Kassetten-Boxset (!) On Corrosion (The Helen Scardsale Agency) beschäftigt sich ebenfalls mit den Malaisen der technologischen Moderne und ihren Auswirkungen auf unser aller Befindlichkeiten. Die zehn jeweils ungefähr vierzigminütigen exklusiven Beiträge aus dem Helen Scarsdale-Roster sind, wie auf Jim Haynes Label zu erwarten, eher aus dem Post-Industrial-, Dark Wave- und Power Noise-Bereich, aber Genreüberschreitendes wie der schmerzhafte Avantgarde-Pop von Alice Kemp, der feinkörnige Dark Ambient von the Fossil Aerosol Mining Project und Pinkcourtesyphone oder die umwerfend freigeistige Elektroakustik von She Spread Sorrows (a.k.a. Alice Kundalini von den Junkie Flamingos) sind möglich. Die Malaisen und Antinomien der Brooklyner Produzentin Nicky Mao alias Hiro Kone sind eher politischer Art. Auf der Seite der Ästhetik ist ihre Arbeit allerdings über jeden Zweifel erhaben. Ihre Mini-LP A Fossil Begins To Bray (Dais, VÖ 4. November) ist richtig guter Heavy Ambient mit Industrial-Flavour und Techno-Skills, gehört also definitiv in diese Kolumne.
Stream: Aeon Gate – S2HG (New Anxieties)
Auch die beiden Belgier Koenraad Ecker & Frederik Meulyzer aka Stray Dogs haben ihre gemeinsame musikalische Arbeit dem Anthropozän und der Ökologie von Sound verschrieben. Für Carbon (Subtext Recordings, VÖ 8. November) haben sie sich von der Svalbard Global Seed Vault auf der norwegischen Inselgruppe Spitzbergen inspirieren lassen. In dieser Saatenbank (nebenbei ein neo-brutalistisches Architekturkleinod) lagern die gesammelten Samen der Kulturpflanzen der Welt als Genpool-Reserve im massiven Permafrostboden, wo sie die nächsten Jahrhunderte bis Jahrtausende überwintern sollten. Doch sogar an der kühlen Küste Svalbards beginnt es seit zwei Jahren zu tauen. Der elektroakustische Laptopmusiker Ecker und der Schlagzeuger Meulyzer haben einen spannungsgeladenen Soundtrack zu den Veränderungen und Herausforderungen in Svalbard geschrieben, der zwischen Postrock, Dark Ambient und Noise mäandert. Das Verschwinden und die Versuche der Wiedergewinnung des Aralsees, eines der wichtigsten Süßwasserreservoirs der Welt, ist das Thema der Soundcollage Aral Sea Stories (Corvo Records) des britischen Field Recording-Künstlers Peter Cusack. Die vielsprachige Montage von Stimmen, Atmosphären und Volksliedern ergibt einen spannenden Reisebericht durch die fünf post-sowjetischen Anrainerstaaten des Aralsees. Cusack erzählt von einer immer noch erhabenen Natur, von lokaler Kultur und technologischen Eingriffen in eines der fragilsten Ökosysteme der Welt.
Stream: Peter Cusack – Aral Sea Stories
Die Beschäftigung mit Ökosystemen und Klimawandel muss nicht unbedingt in düsterer Elektroakustik enden. Der Eco Techno von Hunter P. Thompson alias Akasha System aus Portland, Oregon, übersetzt eine tiefenwirksame, in langen Wanderungen in den feuchtkalten Nebelwäldern der nördlichen US-Pazifikküste erworbene Naturerfahrung in die Form ausgeruhter wie ausgefeilter Electronica mit gebrochen geraden Beats. Thompsons Vinylalbum-Debüt Echo Earth (100% Silk) geriet so im allerbesten Sinne deep. Eine warme Elektronik, die definitiv aus einer Nachtleben-Cluberfahrung entspringt, aber eben dazu noch eine spürbare Sensibilität für den Wert allen Lebens transportiert – und das ohne jegliche grüne Gaia-Esoterik. Thompson bewegt sich damit, trotz der vorwiegend angebrochenen Beats, in enger Nachbarschaft zu hiesigen Technoproduzenten wie Christian Löffler und Pantha Du Prince, die ebenfalls das Erleben von Wind, Wetter und erhabener Natur in ihre Tracks einfließen lassen, ohne sie explizit im Sinne von Samples vor sich her zu tragen.
Stream: Akasha System – Sunbreather
Über das enigmatische Modularsynthesizer-Projekt Craven Faults ist wenig bekannt, außer, dass es sich – wie so viele der in dieser Ausgabe vorgestellten Musiken – mit den Folgen und Effekten menschlicher Eingriffe in die Natur beschäftigt. Und zwar ganz spezifisch mit der Melancholie der Industriebrachen Yorkshires (der Projektname ist von einer schon Jahrzehnte außer Betrieb genommenen Tuchfabrik übernommen), mit den ökologischen und psychosozialen Folgen der ultimativ menschengemachten, unwirtlichen und versteppten Landschaften im Norden Englands. So düster, kaputt und schroff, aber doch von einer nicht korrumpierbaren Schönheit der Restnatur gezeichnet, wie sich diese Gegenden ansehen, ist die Electronica der selbstverlegten Lowfold Works Trilogy (Craven Faults) gar nicht unbedingt, sondern eher von einer trotzigen, wollpullovrigen, analog-krautigen Wärme charakterisiert. Die EPs mit den Lowfold Reworks (Craven Faults) unter anderem von Pye Corner Audio sind auf der CD-Edition des Albumdebüts Erratics & Unconformities (The Leaf Label, VÖ 29. November) enthalten. Das segelt klanglich ebenfalls auf dem Meridian von Köln der 50er-, San Francisco der 60er-, Düsseldorf der 70er- und Manchester der 90er-Jahre und widmet sich inhaltlich auch den überwachsenen Ruinen der Industriekultur. Die Nostalgie, die ja in Solastalgie ebenfalls implizit enthalten ist, wird hier schmerzhaft schön herausgearbeitet. Minimal Techno-Querdenker Thomas Brinkmann beschäftigt sich auf Raupenbahn (Editions Mego, VÖ 9. November) ebenfalls mit der verschwindenden oder bereits verschwundenen und musealisierten Industriekultur der Textilverarbeitung. Field Recordings von mechanischen Webstühlen, teilweise über hundert Jahre alt, angeordnet zu strengen rhythmischen Soundscapes, die Brinkmann-typisch gänzlich frei von Nostalgie, Melancholie und Schönklang vor sich hin klappern, rattern und dröhnen.
Stream: Craven Faults – Eller Ghyll
Es ist kein geschriebenes Gesetz und es gibt selbstverständlich zahlreiche Ausnahmen, doch liegt man mit der Faustregel eigentlich nie daneben, dass Ambient dann besonders gut gelingt, wenn er die Spannung von Natur und Kultur, kompositorischer Freiheit und konzeptuellen Vorgaben, Zufall und Plan, Feldaufnahme und gespielter Musik produktiv nutzen kann. In genau diesem Spannungsfeld spielt das kleinteilige wie großartige zweite Album Sleepmoss (Planet Mu) von Lara Rix-Martin alias Meemo Comma. Anders als in ihrem Pop-Projekt Heterotic geht es darum, den Einschränkungen eines bestimmten Formats oder Genres, hier Dark Ambient, Elektroakustik und Free Improv, zu entgehen. Und das gelingt auf Sleepmoss vorbildlich. Dunkles Synthesizergrollen, kleiner quietschender Noise und naturbelassene Schönheit spielen hier gleichberechtigt miteinander. Und sie porträtieren auf absolut unklassische und klischeefreie Weise die spätherbstlichen Wälder im Hinterland Brightons, wo Rix-Martin lebt.
Und Rix-Martin scheint Vögel zu lieben. Ein sympathischer Charakterzug den sie neben der Experimentierfreude mit dem Kalifornier Ian Wellmann teilt. Dessen Bioaccumulation (Room 40) ist ein ähnlich komplexes, vielleicht etwas strengeres Portrait der Kulturnatur von Naturkultur. Bei den Songs For Plants (Präsens Editionen, VÖ 6. Dezember) der polnischen Produzentin Magda Drozd besteht die Natur-Technik-Komponente aus Aufnahmen von Kakteen, die mit Hilfe modernster Mikrofonierung zum Sprechen, ja zum Singen gebracht wurden. Das Sounddesign des Albums beschwört allerdings eher Bilder aquatischer Gewächse herauf. Die Songs hören sich an wie unter Wasser aufgenommen, als hätte Drozd ihre Mikrofone in ein Aquarium im Studio versenkt und so durch einen Wasserfilter aufgenommen, inklusive Nebengeräuschen von Umwälzpumpe und Sauerstoffbläschen. Drozds Songs bekommen so eine Textur, die ihren eigentlich eher luftigen und sparsamen Indie-Ambient-Stücken nach Art von Grouper oder Ekin Fil eine ganz spezielle Schwere und Ernsthaftigkeit verleihen, die auch dieses Album zu einem perfekten Solastalgie-Soundtrack machen.
Stream: Meemo Comma – Tanglewood
Gletscherkalt wie aus der Zeit vor der globalen Erwärmung sind die Klänge des norwegischen Produzenten Helge Sten alias Deathprod immer gewesen. Occulting Disk (Smalltown Supersound) ist ein unverhofftes Lebenszeichen nach fünfzehn Jahren nur von kleineren Kollaborationsarbeiten durchbrochenen Schweigens. Und es ist, als wäre er nie weg gewesen. Mächtige Synthesizer-Wellen brechen eisig klirrend in Zeitlupe an zerrenden Feedback-Mauern. Der letzte Eisbär zieht auf einer verschwindenden Eisscholle gen Norden, wo nichts als der Tod in toxisch kontaminierten Industrieruinen auf ihn wartet. So ähnlich könnte der Trip dieses Albums aussehen, wenn Sten auch nur im geringsten an erhabenen Naturmetaphern interessiert wäre. Ist er aber nicht. Für ihn ist das Album ritueller und wie alles von ihm antifaschistischer Sound. Mehr Kontext und mehr Inhalt ist nicht nötig. Und das ist richtig so.
Der Kalifornier Jon Leidecker produziert seit den späten achtziger Jahren antifaschistische Musik, am prominentesten im experimentellen Sample-Collage-Kollektiv Negativland. Sein Solo-Alias Wobbly lag ähnlich lange auf Eis wie Deathprod, ist jetzt aber wieder hyperaktiv. Das entscheidende Distinktionsmerkmal Wobblys war immer sein Humor, die Fähigkeit, den Kapitalismus nicht so bitter gehopft bierernst zu nehmen und die Kritik an ihm mit kluger Ironie zu betreiben, nicht mit beleidigt-verletztem Sarkasmus. Diese Qualität ist auf Monitress (Hausu Mountain, VÖ 8. November) direkt wieder allgegenwärtig und macht Wobblys hibbeligen Freigeister-Glitch Pop angenehm heimelig und ultimativ eingängig – jedenfalls mit genug Koffein intus.
Stream: Deathprod – Disappearance / Reappearance
Die Randbedingungen einer Soundtrackarbeit, also im Zweifelsfall eine eng gerichtete Stimmungs- und Atmosphärenproduktion, kann künstlerische Fessel oder Fesselballon sein. Für den in Island lebenden Australier Ben Frost gilt definitiv letzteres. Er läuft gerade bei der Vertonung vorgegebener Bilder zu Hochform auf und lässt seine Inspiration abheben. Catastropic Deliquescence (Mute, VÖ 24. November) sind seine gesammelten Soundtrackarbeiten zu Fortitude, einer drei Staffeln langen Serie, die am Polarkreis spielt und vielleicht so etwas wie der Vorreiter des Öko-/Umwelt-Mysterythrillers war. Zwischen avancierter Neoklassik und Dark Ambient weht hier ein eiskalter elektrischer Wind durch die Tracks, die sich nur hin und wieder mit loungigem Jazz oder elegischer Neoklassik aufwärmen. Das ist einigermaßen gewagt und experimentell für eine Mainstreamproduktion, dem grimmigen Setting und Sujet der Serie aber absolut angemessen.
Video: Ben Frost – Music From Fortitude
Wie altmodisch plötzlich seinerzeit so hypermoderne Trends wirken können, wie das Glitch genannte avancierte Festplattenkratzen und CD-Skippen um die Jahrtausendwende. Peter Rehberg alias Pita war einer der Pioniere des Stils, aber mittlerweile produziert sein Label Editions Mego keine CDs mehr und höchstwahrscheinlich sind in den sprichwörtlich zum Produktionsmittel gewordenen Laptops auch schon lange keine elektromagnetischen Laufwerke mehr. Denn die jeweils aktuellste und modernste High-End-Technologie war immer ein wichtiger Auslöser für Pitas Sounds. Das ist auf GetOn (Editions Mego) nicht anders und doch klingt das Album mit seinen sehr diversen Tracks zwischen Post-Glitch, Noise-Loops, Elektro-Improv und Glitch-Ambient erstaunlich altmodisch. Es schwingt sich dabei aber zu einer emotionalen Dichte und Intensität auf, die für Rehbergs mittlerweile 25 Jahre andauernde Produzentenkarriere ziemlich einzigartig ist.
Der Cosmo Rhythmatic-Labelmacher Nino Pedone legt da als Shapednoise noch einige Schippen an Volumen und genereller Krassheit obendrauf. Die extrem derbe Post-Industrial-Elektronik von Aisthesis (Numbers) ist mit seinen brutal verzerrten Crunch-Beats und den Lautsprechermembranen schreddernden Noise-Spitzen ein kaum aushaltbares Brett auf der Langstrecke. Wäre da nicht die göttliche Mhysa, die es schafft, sogar aus Pedones gnadenlosem Sound-Krassismus hyperfuturistischen Ambient-R&B zu machen. Eine ähnliche Überlagerung des Zarten und Harten von lieblichem Glockenspiel, Stimmhauch und korrosivem Noise verfolgt die zwischen Taipeh und Berlin lebende Produzentin Sabiwa. Der virtuelle Psycho-Post-Club von DaBa (Chinabot) ist in der grassierenden Cyborgisierung von maschinenmenschlichen Post-Spezies-Hybriden ganz weit vorne.
Stream: Sabiwa – Display Me
Die vor allem indirekte Bedeutung des französischen Fin de Siècle-Komponisten Erik Satie auf die elektronische Musik, den Pop und die E-Musik von heute dürfte kaum zu überschätzen sein. Satie hat Wiederholung, Rhythmus, Simplizität und Stille/Leere in die westliche Klassik eingeführt. Die schwedische Komponistin Maria W Horn bezieht sich in Epistasis (Hallow Ground) zwar nicht direkt auf Satie, aber mindestens die zwei Klavierstücke ihres Album teilen das Temperament seiner populärsten Tanzstücke, der Gymnopédies und der Gnossiennes. Horn gibt ihren Kompositionen allerdings einen zeitgemäßen Spin und vor allem beherzigen sie Saties größte und unterschätzteste Tugend, seinem bei aller Strenge und Sturheit tief melancholisches Beharren auf den Wert der Schönheit. Horns weiteren Stücke sind lange elegische Orgeldrones, traurig schön und lebenssatt. Wenn doch nur mehr Neoklassik diese Qualitäten hätte. Es kann doch nicht sein, dass Maria W. Horn das Genre alleine retten muss?
Nein nicht ganz. Klassisch und technomodern zugleich gibt sich der rumänisch-französische Pianist Mischa Blanos. Mit einer Ausbildung als Klassik-Interpret und einem Interesse an Clubnächten und elektronischer Live-Musik bringt er ähnliche Voraussetzungen mit wie Infiné-Star Francesco Tristano. Blanos Debüt-EP Indoors (Infiné) funktioniert tatsächlich nicht ganz unähnlich wie Tristanos Werk. Virtuose Klaviertechnik über einem soliden Tech House-Fundament. Wo sich Tristano allerdings auf Bach und Moderne wie John Cage bezieht, stehen bei Blanos eher die Russen und Polen der Spätromantik und Frühmoderne auf dem Programmheft: Chopin, Rachmaninoff, sogar Tschaikowsky klingen bei ihm an. Der US-amerikanische Komponist Michael Vincent Waller bleibt auf Moments (Unseen Worlds) vollständig auf der Seite der beschaulichen Introspektion. Die von R. Andrew Lee eingespielten Piano-Miniaturen beziehen sich auf die modernistischen Kompositionen von Morton Feldman, in denen die Stille zwischen den Tönen, ihr Ausklingen mindestens genauso wichtig ist wie die Töne selbst. Praktisch verweisen die meist eher wenig avantgardistischen, höchst lieblichen Stücke eher auf die großen Hits von Erik Satie und den Piano-Ambient von Harold Budd, was ja keineswegs ein Fehler ist.
Was die Japaner Kayo Makino & Tori Kudo auf Ein Traum für Dich (Black Truffle) veranstalten, dürfte schon eher im Sinne Erik Saties sein, dessen Radikalität zu seinen Lebzeiten heute kaum noch verständlich ist. Wie bei Tori Kudo üblich entsteht der überwältigende Effekt des Neuen seiner Musik aus dem offensiven technischen Nicht-Können in der Interpretation, was er bei seiner aus Hobby-Musiker*innen aufgestellten Kombo Maher Shalal Hash Baz zu seltsamer Anti-Perfektion von großer befremdlicher Schönheit getrieben hat. Hier wirkt es wie eine Interpretation zweier Teilzeit-Nichtpianisten, die Satie eventuell spielen könnten, aber nicht wirklich wollen, vielleicht auch gar keine Noten lesen könne und so mit imperfekten Gehör einen leidenschaftlich gefühlten und eingespielten Satie neu erfinden, den man definitiv noch nie gehört hat.
Stream: Maria W Horn – Epistasis
Die oft so elend verkitschte Neoklassik könnte doch so viel mehr Laune machen, wenn sie öfter mal nur ein klein bisschen mehr wagen würde. Zum Beispiel sich bei der Avantgarde des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts bedienen statt bei der schon damals rückwärtsorientierten Spätromantik. So wie bei dem New Yorker Mario Diaz de Leon, der als Oneirogen schönen wie dramatischen Heavy Ambient macht, aber unter seinem bürgerlichen Namen das wirklich ernsthaft außergewöhnliche Material produziert. Sein viertes Album Cycle And Reveal (Denovali) versammelt sprunghafte Kompositionen kristallin brillanter Neoklassik mit Überlapp zur Minimal Music und hier verstärkt zu Postrock und Jazz, eingespielt in ungewöhnlichen Kombinationen von akustischen Instrumenten wie Fagott oder Marimba mit analogen Synthesizern. Dazu passen perfekt die jüngst wiederveröffentlichten Debütalben des schwedischen Elektroakustikers Marcus Fjellström. Excersises In Estrangement und Gebrauchsmusik (beide: Miasmah) bewegen sich ähnlich souverän und frei zwischen Komposition, Improvisation, Avantgarde und Klassik. Wie eine sehr verspielte, kleine Neue Musik aus dem Geiste von Ambient erwachsen kann (oder umgekehrt), führt uns ganz zauberhaft der Berliner Electronica-Produzent Andrew Pekler vor. Sounds From Phantom Islands (Faitiche, VÖ 8. November) bringt vollkommen selbstverständlich Stockhausen und Exotica, Boulez und Bossa Nova zusammen, als wäre so etwas handelsüblich und normaler Mainstream. Wie die Phantominseln alter Karten, auf die sich der Albumtitel bezieht, beschwört das Album unmögliche Erinnerungen an eine Klassik ferner Länder, die es so nie gab, und das deswegen um so extraordinärer wirkt.
Stream: Mario Diaz de Leon – Sacrament
Nanook Of The North, Robert Flahertys 1922 erschienene Dokumentation des schon damals archaisch anmutenden Alltags und Überlebenskampfs einer von der industriellen Moderne weitgehend unberührten Inuit-Familie am Polarkreis, ist bis heute ein Vorbild für die Verknüpfung persönlicher Sympathie mit dem anthropologischen Blick des teilnehmenden Beobachters. Die Dokumentation hat sich in den vergangenen Jahren zudem als ergiebige Inspirationsquelle für Musiker*innen erwiesen. So haben sich locker ein Dutzend oder mehr Projekte nach dem Film benannt und sogar noch mehr haben sich an der Vertonung des Stummfilms versucht. Die französische Synthesizer- und Soundtrack-Spezialistin Christine Ott (siehe Motherboard vom März) und der Perkussionist Torsten Böttcher interpretieren Nanook Of The North (Gizeh) akustisch in einer live eingespielten virtuosen Interaktion von Piano und Hang Drum, dieser nach UFO aussehenden modernen Interpretation der Steel Drum, die ein reiches Klangbild zwischen metallischem Dengeln und hüpfendem Bollern ermöglicht. Eine rhythmisch treibende, optimistische bis euphorische Interpretation des Films zwischen Neoklassik und Postrock, die die tragischen Elemente Nanooks Leben nicht ausblendet.
Stream: Christine Ott & Torsten Böttcher – Family
Wenn Identitäten nicht-binär und queer sein können, dann gilt das für jede Art von Kunst und Musik erst recht. Es gibt keine natürliche Verbindung zwischen beiden, aber es doch gar nicht mal selten, dass sowohl die produzierten Stücke wie die dahinterstehenden Menschen zwischen Kategorien, zwischen Festschreibungen von Gender wie Genres agieren. Ausnehmend glücklich ist die Verbindung im Fall von Ziúr, deren Inter-Clubmusik auf ATØ (Planet Mu, VÖ 15. November) so frei und grenzensprengend gelang wie nie zuvor. Da trifft der Erfahrungshorizont von Techno auf digitalen Dancehall, Bedroom-R&B und abstrahierte Footwork und Juke Styles. Es endet jedenfall nie in einer der bekannten Schubladen IDM oder Deconstructed Club. Ziúr macht all das instinktiv und natürlich wohldurchdacht richtig, was zuletzt an den (durchaus richtig guten) Platten von Amnesia Scanner, M.E.S.H., Errorsmith oder Oneohtrix Point Never als Residuum von Testosteron und nerdiger Technikverliebtheit haften blieb und für einen leicht säuerlichen Nachgeschmack sorgte.
Seth Horvitz, dessen jüngste Inkarnation nach Marcel Duchamps modernistischem Crossdressing-Alias Rrose Selavy benannt ist, bewegt sich musikalisch und identitär in einem ebenso queeren Inter-Raum von minimalem Dunkel-Techno und avancierter Elektroakustik. In einem anderen Leben war Horvitz Kompositionsschüler des Minimal Music-Altvorderen Charlemagne Palestine und in einem noch mal anderen der Dub-Techno-Produzent Sutekh. Auf Hymn To Moisture (Eaux, VÖ 8. November), der ersten Solo-LP als Rrose, finden die vertieften Kenntnisse elektroakustischer Klangforschung und mikrotonaler Strukturen mit den Produktionsskills von Clubtracks in dunkler Perfektion zu einer verqueert und verrauscht knisternden Techno-Electronica zusammen.
Video: Ziúr – I Vanish
David Sumner aka Function hat in den frühen Noughties als DJ und Teil des britisch-amerikanischen Produzenten-Kollektivs Sandwell District entscheidend dazu beigetragen, den düster-harten Post-Warehouse-Techno-Sound zu definieren, der in der vergangenen Dekade nicht nur Berlins Strobo-Keller dominierte. Seine mehr als ausladende Quadrupel-LP Existenz (Tresor, VÖ 29. November) bringt viele der weiter oben schon angesprochenen existentiellen (!) Themen zusammen, nämlich Identität, Natur/Technik und Spiritualität – im Vergleich zu Sumners älteren Industrial-Techno überraschend mellow und handzahm. Das Album mäandert im weiten Feld von House, Electro, Breakbeats und vor allem Electronica. Nach dem schönen Barker-Album (siehe Motherboard vom Oktober) ist das schon die zweite Platte aus dem Berghain/Ostgut-Umfeld, die deutlich über den Techno-Tellerrand herauslugt.
Ein absolut erfreulicher Trend, der offenbar bis nach Frankreich hinein wirkt. Die exklusiven Tracks von Freunden und Mitstreiter*innen, die der Pariser DJ und Labelmacher Raphaël Fragil Charousset auf seiner ersten großen Kompilation Fragilistic (Fragil Musique) zusammengetragen hat, bietet einen ähnlich weitschweifenden Trip von Techno über Deep House zu verfeinerter Ambient Electronica. Mit einer Bandbreite, die von handfesten Feiertracks zu spacigen Synthesizerexperimenten reicht, dabei aber einen warmen und entspannten Basis-Vibe gemeinsam hat, der jederzeit klarmacht, dass es sich hier um Clubmusik handelt, selbst wenn sie nur auf dem heimischen Sofa spielt. Gerade die verspielt experimentellen und nicht so funktionalen Stücke von Bazarov, Krikor und Myako, die hier deutlich außerhalb ihrer Kernkompetenz Techno aufspielen, sind besonders gelungen und außergewöhnlich, fügen sich aber dennoch nahtlos in den angenehm weichen Flow dieser Zusammenstellung.
Stream: Myako – Blue Magpie (from Fragilistic)