Grafik: Bastian Grossmann, konkrit-Logo: Nicoletta Dalfino

Dem Selbstverständnis unserer Szene gemäß verstehen wir Festivals als soziale Freiräume und gemeinschaftliche Versuchslabore. Staatliche Repressionen überall auf der Welt scheinen das nur zu bekräftigen. Doch sind Festivals auch fester Teil des wirtschaftlichen Systems unserer Kultur. Und das ist auf Akkumulation und Expansion ausgerichtet. Die Nebenwirkungen dessen werfen eine dringende Frage auf: Wann wird die Festival-Blase sich selbst zerstören? In seiner Kolumne konkrit geht Kristoffer Cornils genau dieser Frage nach.

„Festivals sind ja gewissermaßen der Inbegriff des Unnormalen”, sagte Steffen Bennemann vor Kurzem im Interview zu seinem Groove-Mix. Das ist in mehrerlei Hinsicht richtig. Denn Festivals eröffnen oder erobern für kurze Zeit Räume, füllen mit Kultur, Exzess und Gemeinschaft, wo in der Regel höchstens ein paar Zäune oder bestenfalls Kühe rumstehen. Für ein Wochenende steht die Welt ein bisschen Kopf und dreht sich dabei, eine Gesellschaft formiert sich im Kleinen, probiert sich aus und geht dann wieder auseinander.

Das kann Festivals zu subversiven Angelegenheiten machen, bevor sie überhaupt beginnen. Das Nyege Nyege-Festival in Uganda geriet von Seiten der Regierung unter Beschuss, weil es angeblich „die nationale Integrität kompromittieren” würde, da es die Bevölkerung „abweichender sexueller Immoralität” aussetzen würde. In Australien war noch im Februar von einem „Krieg gegen Festivals” die Rede, als sich Festivals im Bundesstaat New South Wales mit strikten Auflagen konfrontiert sahen, die unter anderem beinhalteten, dass sie selbst die Kosten für die erhöhte Polizeipräsenz vor Ort tragen sollten. Begründet wurde dies in Hinblick auf zwei Drogentode im September 2018 bei einem Hardstyle-Festival in Sydney. 

Fusion Festival. Foto: Retinafunk.
Fusion Festival. Foto: Retinafunk.

Unverhältnismäßiger noch schien erst vor Kurzem in Deutschland der geplante Einsatz von Polizeikräften und sogar der Bundeswehr auf der Fusion. „Es scheint, als hätte der Polizeipräsident Neubrandenburgs, Nils Hoffmann-Ritterbusch, lediglich ein wenig seine Muskeln als Polizeipräsident spielen lassen wollen – Recht (oder rechts?) und Ordnung gegen eine linksalternative Szene”, kommentierte Groove-Redakteurin Cristina Plett, nachdem die Pläne der Polizei publik wurden. Der Wald-und-Wiesen-Rave wird zum Symbolträger eines Kulturkampfs.

„Festivals bieten eine kurze Auszeit vom Alltagsabfuck, einen zeitlich und räumlich eingefriedeten Moment der Anarchie im überregulierten Leben – selten aber mehr.“

All das mag beweisen, dass Festivals als subkulturelle Versammlungsorte, als Petrischalen einer neuen Ordnung der Obrigkeit ein Dorn im Auge sind, weil sie Alternativen zu gesamtgesellschaftlichen Strukturen aufzeigen können. Doch nicht unbedingt bedeutet das, dass Festivals tatsächlich per se Orte sind, in denen der Umschwung seinen Anfang nehmen kann. Denn für nicht wenige Besucher*innen bleibt der „Ferienkommunismus” der Fusion eine zeitlich begrenzte Angelegenheit, nach der es zurück in die Stadt geht, wo am Montagmorgen das kapitalistische Arbeitsleben von Neuem losgeht. Festivals bieten eine kurze Auszeit vom Alltagsabfuck, einen zeitlich und räumlich eingefriedeten Moment der Anarchie im überregulierten Leben – selten aber mehr.

Festivals: ein expandierender Markt

Das macht Festivals zu einem Ausdruck dessen, was die schon in der letzten Ausgabe dieser Kolumne zitierten Markus Metz und Georg Seeßlen als „kapitalistischen Surrealismus” bezeichnen. Denn wenn sie vom „Event” schreiben, dass es eine „gewaltige Feier des Bestehenden” ist, so stimmt das auch in Hinsicht auf die Festival-Landschaft. Allein schon deswegen, weil Festival-Tickets zunehmend mehr Geld kosten, und die sich dort zusammenfindende Gesellschaft daher überwiegend aus der Mittelschicht und drüber rekrutiert: Ein paar Wohlhabende imaginieren für drei Tage eine neue Gesellschaft – was kann schon schiefgehen?

Die Prora auf Rügen, wo das Her Damit-Festival stattfand. Foto: Presse.

So oder so muss über Geld geredet werden, wenn von Festivals die Rede ist. Wie einträglich das Prinzip ist, zeigt nicht allein das Beispiel von Her Damit und 7001, mit denen sich eine ominöse Person auf Kosten all jener bereicherte, die wohl eher aus Idealismus als aus Profitgier für sie arbeiteten. Dass es auch für die dahinterstehende Auona UG nicht gut ausging, lag wohl eher an deren eigener Unfähigkeit und nicht etwa daran, dass die Rechnung Risikokapital plus Selbstausbeutung auf Seiten der Arbeiter*innen nicht aufgegangen wäre. Denn diese Rechnung trägt die Festival-Szene allerorten. 

Dass in dieser Szene viel zu holen ist, zeigt sich auch schlicht daran, wie übersaturiert der Festival-Markt mittlerweile ist. Bennemanns am Anfang zitierte Aussage steht im Kontext eines Abschieds. Das Nachtdigital feiert im August 2019 zum allerletzten Mal in der Bungalowsiedlung Olganitz. Über zwei Jahrzehnte etablierte es eine Idee von Festival, wie sie für viele andere stilprägend wurde. „Im Großen und Ganzen also eine höchst erfreuliche Entwicklung: Endlich muss man nicht mehr immer alles selber machen”, scherzte Bennemann in Bezug auf die Tatsache, dass mittlerweile „jedes Wochenende irgendwo in Europa ein liebevoll kuratiertes, intimes Festival an einem tollen Ort, immer häufiger sogar mit richtig guter Musik” stattfindet.

Oktoberfest mit Bio-Zertifikat 

Das mag wirklich toll sein, und nicht nur für Festival-Fans, sondern ebenso für DJs und seltener Live-Musiker*innen, die damit die Miete zahlen können, weil die Musik selbst es schon lange nicht mehr tut. Es beweist aber einen Paradigmenwechsel: Überall poppen Klone von diesem und jenen Erfolgsprinzip auf und der Markt quillt über. Im Jahr 2014 wurden in der Bundesrepublik noch 500 Musikfestivals und -festspiele jeder Art gezählt, mittlerweile listet das Deutsche Musikinformationszentrum 571 Festivals auf – die Dunkelziffer wird noch höher sein. Die Festival-Branche expandiert weiter. 

„In den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren hat sich vor allem in Europa eine Festival-Blase ausgeprägt, die im Geiste von Expansion und Akkumulation langsam aber sicher kolonialistische Züge annimmt.“

Das treibt bizarre Blüten. Schauen wir kurz in die Promo-E-Mails, die bei Musikjournalist*innen zuverlässig zwischen Februar und Mai eintrudeln, um die Saison-Highlights zu bewerben. Hier wird ein sehr exklusives Festival für ein paar hundert Personen auf einer Insel im Mittelmeer beworben – Club Med für reiche Rave-Kids, die möglichst nicht von der Außenwelt gestört werden. Klingt nach Fyre Festival im kleinen Kreis. Dort kapert ein von einem Kreditunternehmen (!) gesponsertes Craft-Beer-Festival (!!) den Londoner Hyde Park (!!!), dazu gibt es natürlich DJ- und Live-Sets aus dem Pop- und House-Bereich für die Microbrew-gesteuerte Menge. Ist das noch Techno-Kultur – oder schon Oktoberfest mit Bio-Zertifikat? 

Alles muss Festival werden, denn mit Festivals lässt sich Kohle schöpfen – ohne Rücksicht auf Verluste.

Das Dekmantel Festival nahe Amsterdam 2014. Foto: Presse.

In den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren hat sich vor allem in Europa eine Festival-Blase ausgeprägt, die im Geiste von Expansion und Akkumulation langsam aber sicher kolonialistische Züge annimmt. Das macht selbst vor eigentlich integeren Institutionen unserer Szene keinen Halt – im Gegenteil. Das Dekmantel-Festival bekam erst im Frühjahr einen berechtigten Backlash zu spüren, weil es zwar einerseits Events auf dem südamerikanischen Kontinent veranstaltet, zur diesjährigen Ausgabe aber keine DJs von dort nach Amsterdam einlud. Internationale Brands – denn wer kann eigentlich bei multinationalen Event-Konzernen noch allein von „Festivals” sprechen? – teilen langsam Kroatien oder sogar Marokko unter sich auf, bieten ihrer Crowd bisweilen das absolute All-Inclusive-Erlebnis. Betreutes Raven im Ausland, deren Kultur und regionale Szene wenn überhaupt durch zwei, drei pflichtschuldig dazu gebuchte Locals seine Residualpräsenz erhält. Was wird hier nochmal für ein alternatives Lebensmodell ausprobiert?

Die Frage ist nun, wann genau diese wuchernde Blase platzen wird, denn unendliche Akkumulation und Expansion sind Luftschlösser neoliberaler Markttheorie. Die Insolvenz des Her Damit stellt in jedem Fall ein Extrembeispiel dafür dar, dass irgendwann alle auf die Nase fallen – und zwar diejenigen zuerst, die nicht selten aus purem Idealismus heraus als emsige Ameisen mitwirken und sich am Ende statt Trickle-Down-Effekten mit einem ausbleibenden Lohn konfrontiert sehen, während die Schuldigen vermutlich ihren Hals aus der Schlinge ziehen können. 

„Es gibt mittlerweile kein Miteinander von Festivals mehr, sondern in der Regel nur noch ein Gegeneinander.“

Dazu gesellen sich andere Festivals, die in den letzten Jahren abgesagt werden mussten, ob nun, weil die Sicherheit der Gäste nicht garantiert werden konnte oder weil es schlicht an den Ressourcen mangelte wie beim Plötzlich am Meer oder dem spanischen Into the Valley-Festival. Die Frage lautet also, wann die Festivalblase platzen wird.

Was bleibt: Müll und Ruine

Metz und Seeßlen definieren eine „Grundbedingung für das Event”: „sein Verschwinden, ein radikales Auslöschen und Vergessen.” Denn Events, ebenso wie Festivals, stehen mittlerweile nicht miteinander in Verbindung, sie bauen keine konsequenten Traditionslinien mehr auf, wie das bei Traditionsfestivals wie dem Nachtdigital bis zu diesem Jahr funktioniert hat. 

Es gibt – wenn es das überhaupt jemals gab – mittlerweile kein Miteinander von Festivals mehr, sondern in der Regel nur noch ein Gegeneinander. „Da Events stets miteinander in Konkurrenz stehen”, schreiben Metz und Seeßlen, „muss das eine verschwinden, um dem nächsten Platz zu machen, das ebenso ‘unvergleich’ sein will.” Das nämlich ist das einfachste Gesetz des Markts: Die Konkurrenz muss überboten, wenn nicht gleich ausgeschaltet werden. Kann das nachhaltig sein? Natürlich nicht. „Was bleibt von einem Event, ist Müll und Ruine. Und so wird begreiflich, dass es nicht allein eine Feier der Leere, der kulturellen Deflation ist, sondern auch ein Zerstörungsprojekt.” Das macht Festivals, diese Inbegriffe des Unnormalen, übrigens in der Gesamtsicht auch als soziale Versuchslabore unnütz. 

Die wirkliche Gefahr für Festivals sind also nicht – zumindest nicht in erster Linie – widrige Obrigkeiten und rechtskonservative Backlashs. Sondern Festivals selbst. Die Insolvenzen, Absagen und Enden der letzten Zeit deuten an, dass die Festival-Blase sich gerade selbst zerstört. Es bleibt die Frage, wie sich das auf die finanziellen Infrastrukturen auswirkt, die sie in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren für DJs, Live-Musiker*innen und viele andere Arbeiter*innen aus dem erweiterten Umfeld der Clubkultur errichtet haben. Live erleben können wir das nach wie vor am Beispiel der Red Bull Music Academy. Diese hat Event-orientiertes Marketing schließlich auf Kosten der Szene perfektioniert – und schmeißt kurz vor seinem eigenen Ende, na klar, noch schnell ein Festival.

Mit seiner zweimonatigen Kolumne konkrit verdichtet Kristoffer Cornils das Hintergrundrauschen und analysiert große mediale Bewegungen und urbane Entwicklungen ebenso wie den Eingriff von Großkonzernen in die Szene.

Anmerkung der Redaktion: Wir möchten einen Hinweis zu einer Passage in dem Text geben. Dort heißt es: “Schauen wir kurz in die Promo-E-Mails, die bei Musikjournalist*innen zuverlässig zwischen Februar und Mai eintrudeln, um die Saison-Highlights zu bewerben. Hier wird ein sehr exklusives Festival für ein paar hundert Personen auf einer Insel im Mittelmeer beworben – Club Med für reiche Rave-Kids, die möglichst nicht von der Außenwelt gestört werden. Klingt nach Fyre Festival im kleinen Kreis.” Der Vergleich des betreffenden Festivals mit Fyre zielt allein darauf, dass sich diese Veranstaltung an gut situierte Raver*innen richtet und dass sie auf einer Insel stattfindet.

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Kristoffer Cornils war zwischen Herbst 2015 und Ende 2018 Online-Redakteur der GROOVE. Er betreut den wöchentlichen GROOVE Podcast sowie den monatlichen GROOVE Resident Podcast und schreibt die Kolumne konkrit.