Woche für Woche füllen sich die Crates mit neuen Platten. Da die Übersicht behalten zu wollen, wird zum Fulltime-Job. Ein Glück, dass unser Fulltime-Job die Musik ist. Zum Ende jedes Monats stellt die Groove-Redaktion Alben der vergangenen vier Wochen vor, die unserer Meinung nach relevant waren. Dieses Mal mit Ellen Allien, Holly Herndon, Vin Sol und satten 15 weiteren Künstler*innen – wie immer in alphabetischer Reihenfolge.
Basic Rhythm – On the Treshold (Planet Mu)
Anthoney J Harts drittes Album als Basic Rhythm ziert eine wild gewachsene Wiese, an deren Ende ein alter Plattenbau steht. On The Treshold ist durchaus Musik gewordene Architektur, es besteht vornehmlich aus Beatskeletten, aus Fundamenten britischer Clubmusik, sei es nun Drum’n’Bass, Jungle oder Techno. Alles Perkussive wird zusätzlich durch Harts prononciertes Sounddesign betont. Neben der Wucht der Rhythmen ist hier jedoch nur wenig, woran man sich festhalten könnte. Mal sind das Vocals wie bei „Yeah I Like It”, die kurz in Erinnerung rufen, dass es im Hardcore Continuum auch gemütlichere Ecken gibt. Mal mächtige Bass-Synths, unversöhnlich dröhnende Fanfaren wie in „Edge Of Darkness”. Auf die lange Strecke glänzt On The Treshold aber durch programmatische Kargheit. Dadurch bieten sich viele der zehn Tracks als Ausgangsmaterial für Mixes ganz besonders an. Insofern lässt sich sich das Album vielleicht auch als Einladung an DJs verstehen, es für das Schaffen neuer Kontexte zu benutzen. In diesem Sinne ist On The Treshold eben auch eine leere Wiese, auf der Neues erst noch gebaut werden kann. Christian Blumberg
Benjamin Fröhlich – Amiata (Permanent Vacation)
Es war 2006, als Permanent Vacation auf einmal für mehr stand als allein für einen Jim Jarmusch-Film. Plötzlich war da dieses Label aus München, das sich verdient machte um den New- und Cosmic-Disco-Trend. Es wurde endlich balearisch getanzt und nicht bloß minimal. Als käme DJ Harvey aus Deutschland. So gesehen darf das Label auch gerne als Vorbote des heutigen organischen House- und Wave-Sounds gelten. Also wieder München, wieder Disco. Aber das kann man dort schon immer am besten. Umso mehr darf erstaunen, dass die eine Hälfte von Permanent Vacation, Benjamin Fröhlich, erst jetzt sein Debütalbum veröffentlicht, wo er indessen schon so lange seine Finger im Spiel hat. Doch es ist wahr; und die Wartezeit macht sich bezahlt, denn Amiata darf man gerne als Best Of wider aller Intention hören. Das beginnt mit „Forty Trees“, dem Opener, der neben sommerlicher Piano-House-Anleihe vor allen Dingen Reverb-Harmonika-Dub zu bieten hat. Man macht eine kleine und kurze Zeitreise über die Länge von neun Stücken; besonders zeitgeistig klingt es hier selten. Stattdessen kommen fast vergessene Mikro-Trends in einem aktuellen Gewand um die Ecke gehuscht. Da ist das Theremin-Glissandi-Nu-Rave-Stück mit der besoffenen Bass-Line („Saturnia“) oder dieses SBTRKT-Post-Dubstep-Pop-Stück mit dem Sänger Dreamcast („Last Night“). Wie hieß nochmal die PERMVAC-Sampler-Reihe? If this is House, I want my money back… Lars Fleischmann
Burnt Friedman – Musical Traditions in Central Europe (Nonplace)
Süd-Ost-Asien, Japan, Nordamerika, Süd-USA, Brasilien, Afrika, Westafrika – für jeden erdenklichen Teil der Welt gibt es eine mehr oder weniger spezielle, als Weltmusik gebrandmarkte Compilation mit dem Gebiet zugeschriebener, typischer Musik. Zentraleuropa als ethno- bzw. soziokulturelle Region wird da, aus welchen Gründen auch immer, in beständiger Manier ausgelassen. Burnt Friedman füllt diese Archivlücke nun mit Werken aus seinem eigenen Repertoire und veröffentlicht sie auf dem eigenen Label Nonplace. Nach jahrzehntelanger Arbeit, nicht selten gemeinsam mit dem Schlagzeuger Jaki Liebezeit, hat er so seinen ganz eigenen, charakteristischen Sound entwickelt. Das ist das Piepsen und Knacksen der Drums, diese schier endlos klingenden, abstrakten Beats und das Amalgam verschiedener Musikgenres, die Rhythmik von besagtem Liebezeit. Genres aus Zentraleuropa, wie sie vor allem auch in Berlin auftauchen. Techno, Dub, Ambient im weitesten Sinne. Die Stücke heißen dann „Moslemschleier“, „Semio-Blitz“, „Messdiener“, „Gottesdienst“ usw. „Moslemschleier“ ist dann auch der erste Track, der einem sofort in den Kopf schießt, mit seinem straight-forward Beat und dem Fokus auf minimale Becken-Einsprengsel. Mit „Schwebende Himmelsbrücke“ geht es in die Drum’n’ Bass Richtung. Für „Berlin, A Cidade que Náo“ hat er sich den Brasilianer Lucas Santtana hinzugeholt, der im typischen MPB-Stil, vom Tenor-Sax begleitet, dem Album einen leicht melancholischen Zug gibt. „Gottesdienst“ lässt Orgelsounds ertönen. Auf „Sky Speech“ hat er sich zudem den neuseeländischen Experimentalmusiker und Saxophonisten Hayden Chisholm hinzugeholt. Berlin ist eben ein Schmelztiegel der Kulturen, die gemeinsame Religion ist die Musik und gefeiert wird im Club. Lutz Vössing
Caterina Barbieri – Ecstatic Computation (Editions Mego)
Damals in den Neunzigern war die Welt noch in ihren Fugen. Über Attac politisierten sich Scharen von Jugendlichen, die Simpsons waren genial und Trance (also gesprochen: Trens) versetzte Tänzer in der ganzen Welt in Trance (gesprochen: Troahns). Während Fridays for Future-Demos nur lose an damalige Versammlungen erinnern und die Simpsons ein Schatten ihrer selbst sind, ist der Trance seit einiger Zeit wieder auf dem Vormarsch. Das hat sich nun auch bis zur Mailänderin Caterina Barbieri rumgesprochen; so scheint es. Mit gerade mal drei eilig hintereinander produzierten und veröffentlichten Alben hat es Barbieri geschafft, in möglichst vieler Munde zu sein und selbst hartgesottene Veteranen zu Tränen zu rühren. Ihre Modular-System-Drones und Buchla-Synthesen bauten bis dato immer wieder von Neuem eine Spannung auf, für die der geneigte Körper schlicht Ventile braucht. Diese überbordende Sublimität von „Undular“ bis „INTCAEB“, die sich aus schwelenden und auf- und abschwellenden Synth-Sounds ergab, war faszinierend wie überwältigend. Mit ihrem Neuling Ecstatic Computation schlägt sie nun den Trance-Weg ein, den auch ihr Landsmann Lorenzo Senni schon virtuos ging, und erinnert an die gute, alte Zeit. Und das klingt trotz aller Harpsichord-hafter Barockigkeit wieder sehr ergreifend und vor allen Dingen far out futuristisch. Lars Fleischmann
Com Truise – Persuasion System (Ghostly International)
Im Nachhall der beiden Teile des Top-Down-Shooters Hotline Miami und deren zurecht zelebrierter Soundtracks erlebte der Synthwave-Hype in den frühen 2010ern seinen vorläufigen Zenit. Die bis zum Anschlag gesättigten Produktionen von Seth Haley zählen zu den beeindruckenderen Genre-Exponaten dieser Zeit, denen das Kunststück gelingt, die Achtziger wie einen futuristischen Traum erscheinen zu lassen. Neue Versionen von Retromanie denken eben nicht nur zurück, sie holen auch etwas ins Jetzt, das dann manchmal moderner als der zeitgenössische Kram klingt. Als Com Truise ist Haley genau das immer wieder gelungen, teilweise auch auf Persuasion System. Über knackige 33 Minuten hinweg kommen vor allem die Samples mit dem meisten Funk, der üppigsten Modulation, den grellsten Klangfarben zum Einsatz. Dennoch verzichten Tracks wie „Ultrafiche Of You“ oder „Laconism“ dabei auf überladene Arrangements. Was da ist, klingt fett und satt, bleibt aber im Rahmen einer gezielten Ausgestaltung frei von Redundanz. Dabei ist es egal, ob die vorigen Alben oder das Synthwave-Genre insgesamt als Vergleiche herhalten müssen. In diesen neun Tracks, die wie Überbleibsel von Iteration erscheinen, wird zwar sicher nichts neu erfunden. Aber wer erwartet das schon von einem Stil, dessen Trademarks weitgehend unverändert seit zwanzig Jahren gefeiert werden? Slicke Synth-Riffs, wuchtiger Bass und Texturen, die im Dunkeln leuchten. Den Franzosen College und Kavinsky gelang die erste Definition dieses Sounds. Com Truise hält ihn als einer der wenigen am Leben. Nils Schlechtriemen
DJ Marcelle/Another Nice Mess – One Place For The First Time (Jahmoni Music)
Was von Beginn an irritiert, sind die fehlenden Leerzeichen. DJ Marcelle hat den Namen ihrer Radioshow, „Another Nice Mess”, einfach direkt hinter ihren DJ-Namen geklebt, als handle es sich bei der Zusammenführung beider Namen um einen Auffahrunfall. Doch damit muss man leben, genauso wie mit allen anderen Unkonventionen der sympathischen holländischen Turntable-Künstlerin. Was auch musikalisch einem Auffahrunfall nicht unähnlich ist, steckt voller Tanzbarkeit, Humor, und, ja, auch Schönheit. Auf One Place For The First Time gerät denn auch wie gewohnt alles schön durcheinander: Der Opener „She Plays Vinyl” und das Schlussstück „Don’t Touch The Table!” kombinieren ebenjene Ausrufe des mit DJ Marcelle auftretenden MCs auf dem Nyege Nyege Festival in Uganda 2018 mit Tischstoßkrachgeräuschen. „Technicians and Their Smoke Machines” macht es möglich, sich in die Perspektive einer Nebelmaschine in einer Clubnacht zu versetzen. „Respect Caged Animals” ist eine überdrehte Tier- und Menschenstimmen-Kakophonie, während „Dub (Dub)” die Essenz von, naja, Dub, darlegt, natürlich in zerhackten Bruchstücken. „There!” ist eine großartige Collage von Schnarchgeräuschen, Frère Jacques-Kindergesang und Wobble-Sounds. Und dass die Brexit-Schlagzeile „The Mother Of All Messes” quasi ihre Berufsbezeichnung übernommen hat, kann Marcelle natürlich nicht unverwurstet lassen. Ist das jetzt Neo-Turntablism, ist es Dada? Egal, Hauptsache ihr habt Spaß. Steffen Kolberg
Ellen Allien – Alientronic (Bpitch)
Redundanz und Überfluss richten nirgendwo so viel Schaden an wie im Gepränge modernen Technos. Da noch ein paar Kicks, hier mehr Fläche, dort noch Bass, drüber die Vocals addieren – aufs Wesentliche konzentrieren sich, gerade in den medial sichtbaren Oberflächen der Szene, nur wenige. Dass es zwischen dem Big Room-Sound der Großraumdiscos auf der einen und minimalistischen Varianten á la Mika Vainio (R.I.P.) auf der anderen Seite jede Menge Spielraum gibt, weiß Ellen Allien besser als die meisten ihrer Zunft. Seit einem Vierteljahrhundert sattelt die Berlinerin ihre saturierten Synths für einen elektronischen Parforceritt nach dem anderen neu auf, bewahrt sich dabei aber erfolgreich eine eigene sublime Ästhetik. Von Microhouse bis Minimal Techno, Ambient bis IDM, Glitch bis Electropop – kaum etwas auffindbar, was das Stadtkind noch nicht durch den Allien-Filter geschossen hat. Doch obwohl all diese variantenreichen Stilausbrüche glückten, war eine Sammlung außerirdischer Club-Banger wie Alientronic schon seit längerem mal überfällig. Wenn der Sound der Berlinette in der Vergangenheit schon durch bemerkenswerte Intuition in puncto Layering, Beats und Tiefen auffiel, so dürfen sich Tracks vom Kaliber eines „Bowie In Harmony“ oder „Love Distortion“ unumwunden zu ihren persönlichen Bestleistungen zählen. Derart tadellos durchexerziert klang das alles sonst nur live beim Melt, vielleicht aber auch noch nie. Dabei erfindet die Gründerin von BPitch Control weder ihren eigenen Sound, noch den anderer neu. Aber diesem acidgetünchten Techno mangelt es auf der anderen Seite auch einfach an absolut gar nichts, um entweder jeden Schuppen in dichten Schweißdunst zu tauchen, oder auf einer nächtlichen Fahrt durch die Hauptstadt das brüllende Treiben von Millionen zu untermalen. Nils Schlechtriemen
Flying Lotus – Flamagra (Warp)
Flying Lotus alias Steven Ellison, der Arthouse-Favorit unter den B-Boys, hat mit Flamagra nach gut fünf Jahren nun wieder ein Album vorgelegt, sein insgesamt sechstes. Das letzte, You’re Dead von 2014, machte seinem Namen alle Ehre und entwarf eine moribunde Lärm-Jazz-Fusion. Dem Fusion-Jazz ist er auch auf Flamagra durchaus treu geblieben. Ellison hat schließlich selten einen Hehl daraus gemacht, dass ihm Chic Coreas Mad Hatter-Album (1978) näher stehen könnte als der meiste Hip Hop. Nicht umsonst ist Ellisons Großtante niemand anderes als Alice Coltrane, der er auch auf seinem zweiten Album Los Angeles explizit einen Track gewidmet hatte: „Auntie’s Harp“. Obwohl bei Flamagra wieder allerhand Weirdness und nicht zuletzt ein erklärtes Konzept (eine kleine Geschichte von Feuer und Flamme) im Vordergrund steht, ist es insgesamt erdig und sehr soulful geraten. R&B regiert hier, wie fast überall sonst im US-amerikanischen Pop, und selbst Anderson Paak, der sich zuletzt ziemlich verzettelt hat, klingt als Gast wieder frisch und hungrig. Was einen aber auch nicht weiter wundern sollte, der entsprechende Track – „More” – ist bereits vier Jahre alt, und Paak noch nicht vom Ruhm verdorben. Überhaupt sind illustre Gastauftritte – von alten Überhelden wie George Clinton bis zur neuesten Schule wie der Video-Konzept-Rapperin Tierra Whack – bestimmend. Den Vogel schießt dabei David Lynch ab. Der schmückt den konzeptuell zentralen Track „Fire Is Coming” nicht nur mit einer netten 50ies-SciFi-Pulp-Höllenerzählung, sondern bebildert ihn im dazugehörigen Video natürlich auch: Pelzmäntel, Schoßhündchen und Werwölfe, Kriegsbemalung, Krimskrams und Bombenalarm. Feuer in jeder Beziehung. Andreas Hahn
Helm – Chemical Flowers (Pan)
Der Londoner Soundkünstler Luke Younger alias Helm legt mit seinem neuen Album Chemical Flowers eine zeitaktuelle elektro-akustische Klangreise ohne Dancefloor-Diktat vor. Seine acht Kompositionen, für die er mit Musikern wie dem Multiinstrumentalisten JG Thrilwell aka Foetus, der Cellistin Lucinda Chua und dem Saxofonisten Karl D’Silva zusammenarbeitete, wirken im Verbund wie der surreale Soundtrack zu einer düsteren Sci-Fi-Utopie. Die eingestreuten Streicher- und Saxofonklänge klingen artifiziell. Hinzu kommt eine schattierte Atmosphäre, die nicht ohne Schmerz zuschlägt und sich auch mal zum verstörenden Noise-Crescendo aufbaut. Dazu verbreiten Alltagsgeräusche wie das Wasserhahnrauschen organische Stimmungen, obwohl sie verfremdet schallen. „Words don’t express my meaning, notes could not spell out the score” singt Brian Ferry im Roxy Music Klassiker „2 H.B.” Helm dürfte ähnliche Emotionen beim Produzieren gehabt haben und hat es trotzdem geschafft, sie fesselnd in Musik zu übersetzen. Michael Leuffen
Holly Herndon – Proto (4AD)
Expansion der Stimme: Für ihr drittes Studioalbum hat sich Holly Herndon nicht nur die Unterstützung ihres Parners Mat Dryhurst geholt. Dazu gesellt sich eine künstliche Intelligenz namens Spawn, die als Erweiterung der eigenen Gesangsmöglichkeiten geschaffen wurde. Primär diente Herndon als Sprechmutter für Spawn. Ein halbes Jahr lang gab die Künstlerin der Künstlichen Intelligenz intensiven Input, brachte ihr Sprechen, Singen und schließlich die Produktion ganzer Klänge bei. Ziel war es, den Computer, den Herndon auch als „Nachwuchs” bezeichnet, als Performerin im Ensemble zu integrieren. Spawn sollte den anderen, nicht-artifiziellen Stimmen ebenbürtig sein. Das Album ist somit das Produkt digitaler Imitation und Kreation, verbunden mit von Menschen gemachten Tönen. Diese Verbindung kulminiert auf Proto in etwas Gewaltigem. Choräle und epische Arrangements treffen auf Satzfetzen und werden umringt von gospel- und folkartigen Klängen. Das kann schon mal an Yeasayer, FKA Twigs, Julia Holter und in Sequenzen an The Knife erinnern. Proto – eigentlich ein Präfix, das hier ganz allein steht und das Ursprüngliche für sich beansprucht – ist ostentativ für die technische Methodik, menschliche Stimmen zu synthetisieren und ihnen ein Leben im künstlerischen Raum zu geben. Die Integration von KI in musikalische Prozesse existiert schon seit Langem und manifestiert mit Herndons Album ein weiteres, spannendes Entwicklungsstadium. Sie zeigt eine gelungene Möglichkeit auf, mit KI künstlerisch zu arbeiten und sie dabei für sich zu beanspruchen. Franziska Finkenstein
Künstliche Intelligenz als gleichwertige Kollaborateurin zu engagieren, wird wohl das nächste große Ding im Bereich elektronischer Musik. Ob Sonys Kreativ-Tool Flow Machines, Darren Cunninghams ausgeklügelter Kompositions-Algorithmus Young Paint, mit dem er als Actress gemeinsame Sache macht, oder jener codegenerierte Pop der Youtuberin Taryn Southern, der eher aus Notwendigkeit entstand: Es ist keine Zukunftsmusik, wenn von lernenden Systemen und ko-produzierender KI die Rede ist. Dieser Ansatz, dieser Sound wird bereits entwickelt und – so scheint es – stetig besser. Doch eine echte künstlerische Intervention lernender Systeme gelang bisher noch niemandem. Spoiler: Auch Holly Herndon nicht, das sagt sie selbst. Was auf Proto passiert, ist musikalisch trotzdem viel mehr als das bloße Zurschaustellen artifizieller Assistenz. In mal gediegener, mal atonal verstörender Form ist hier die lernende Phonetik-KI Spawn zu hören, die Holly Herndon zusammen mit Ehepartner Mat Dryhurst und Colin Self in langwierigen computerlinguistischen Lernverfahren zum Mitglied eines Gesangsensembles trainiert hat. Chorale Erhabenheit und Pitch-getränkte Stimmmodulation vereint die Komponistin, die gerade ihren Doktor in Stanford beendet hat, schnörkellos mit pochendem Glitch-Pop zwischen dekonstruierten Clubsounds. Die Resultate sind oft überwältigend. Etwa im sirenenhaften „Alienation”, dessen Titel dank undurchdringlicher walls of pads und dem Duett Herndon/Spawn tatsächlich Programm ist. Bei „Eternal” oder dem euphorisierenden „Frontier” funktioniert die Kombination auch mit Trap-Beat oder Reggaeton-Dembow. Seit Platform, dem Vorgänger, ist Holly Herndon eben nicht nur stimmlich gewachsen, sondern auch als Arrangeurin von Melodie und Rhythmus. Einer der faszinierendsten Belege dafür ist vielleicht das abschließende „Last Gasp”: Gesang im Spannungsfeld von Elfen und Maschinen, polyphon verwoben, schwebt über einer raunenden Tiefenstaffelung aus Bass und Distortion. „Last gasp of a dying man, time’s on my side”. Der Punkt, an dem das Emotionale Mensch und Tier vorbehalten war – er wird wahrscheinlich bald schon überschritten. Holly Herndon präsentiert den ersten echten Prototypen dieses ominösen Unterfangens. Nils Schlechtriemen
J-E-T-S – Zoospa (Innovative Leisure)
Komisch eigentlich, dass Autotune sich dermaßen hartnäckig hält als Hipness-Balzfeder, als Zeichen für Vorne-Sein und Coolness. Und zwar auf allen Ebenen, von Brutalkommerz bis in die krudesten Underground-Nischen, von Madonna auf der ESC-Treppe bis zur Underground-Country-Legende Lambshop. Aber: Der Trick funktioniert, sonst würde ihn auch keiner der erwähnten Profis und Auskenner anwenden – Jimmy Edgar and Travis Stewart (alias Machinedrum) eingeschlossen. Zusammen bilden sie das Duo J-E-T-S, und zwar schon seit fast zwei Jahrzehnten. Aber Zoospa, ihr Debütalbum, kommt endlich dem richtig nahe, was die US-Amerikaner schon immer machen wollten – großen Pop mit großen Gesten. Pop, der sich nicht scheut, die allergrößten Namen als Orientierungspunkte, aber auch als angemessene Liga zu nennen: Janet Jackson, Rihanna, Timbaland, The Neptunes und ähnliche Schwergewichte. So viel Selbstvertrauen kann in Hybris und Größenwahn enden, Edgar und Stewart verlieren aber zum Glück nie die Bodenhaftung. Im Gegenteil, das Album klingt letztendlich minimaler, entschlackter und rougher als die meisten aktuellen Pop-Produktionen – sogenannter Indie-Pop mit eingeschlossen. Die Kooperationspartner am Mikrophon sprechen ebenfalls nicht für pures Marketingkalkül, sondern eher für ein gut kalibriertes Geschmackssensorium: Mykki Blanco, KingJet, Rochelle Jordan und Tkay Maidza müssen auch von etlichen Musiknerds immer noch gegoogelt werden. All das ergibt in der Summe keine Pop-Neudefinition, keine fundamentale Überraschung. Aber J-E-T-S’ inspirierter Mix aus Trap, Hip-Hop, R’n’B und IDM macht riesengroßen Spaß, und Zoospa hätte es verdient, eines der Alben des Sommers zu werden – trotz oder wegen Autotune, who gives a f***? Mathias Schaffhäuser
Matias Aguayo – Support Alien Invasion (Crammed Discs)
Hört man sich Matias Aguayos viertes Album Support Alien Invasion an, ohne etwas über die Intentionen seines Schöpfers gelesen zu haben, dann denkt man natürlich an eine Invasion aus dem Weltall. Nicht von dieser Welt scheinen diese Sounds zu kommen, hinter jeder Ecke lauert etwas, das für Wow-Effekte und ungläubiges Staunen sorgt. Abstrakte, futuristische Techno- und Industrial-Sounds rufen im Kopf Bilder auf von Technologien, die diese Welt noch nicht gesehen hat. Hinzu kommen Beats, die so gar nicht in das hinlänglich ausformulierte, international gültige 4/4-Raster passen. Aber mit der alien invasion ist etwas anderes gemeint. Crammed Discs, das in Belgien ansässige neue Label des deutsch-chilenischen Produzenten, der in Santiago de Chile geboren, in Köln aufgewachsen und vor etwas mehr als zehn Jahren wieder in seine Geburtsstadt zurückgekehrt ist, stellt klar, dass hier keine Außerirdischen im Spiel waren. Support Alien Invasion sei ein Aufruf, das Fremde dieser Welt zu umarmen und Menschen aus anderen Kulturen willkommen zu heißen. Also Migration als Vehikel zur Befreiung von Ausgrenzung, kultureller Isolation und Entfremdung zu begreifen. Die Rhythmusmuster der neun Stücke des Albums basieren auf afrikanischen Traditionen. Matias Aguayo will sein neues Album einerseits im Kontext einer Soundsystem-Kultur von der Straße verstanden wissen, im Sinne des Karnevals. Insbesondere inspiriert hat ihn die Musik der im Indischen Ozean gelegenen Insel La Réunion. Andererseits klang Techno schon lange nicht mehr so neu und spannend. Holger Klein
Mr. Tophat – Dusk To Dawn Parts I, II & III (Twilight Enterprise)
Knapp drei Stunden Material hat Mr. Tophat für sein neues Album eingespielt, erschienen ist es in drei Teilen. Das alleine sind schon mal beeindruckende Eckdaten. Eindruck hinterlässt auch die bildgewaltige Musik, die der schwedische Produzent, der bereits mehrfach mit Robyn gearbeitet hat (als Produzent und Musiker ihrer Band) hier präsentiert. Seine Inspiration sei ein mehrwöchiger Aufenthalt auf Ibiza gewesen. Das Hinterland der Insel zeigen womöglich auch die düsteren Fotos der drei Plattencover. Wohlfühl-Balearic-Klischees liefert der Mann mit dem Faible für Hüte allerdings nicht. Die Tracks mäandern oft mehr als zehn Minuten lang durch dunkel eingefärbte Soundscapes, zwischen Disco, Ambient, Techno, Pop und House. Ideen verlieren sich im Nichts und tauchen unversehens wieder auf. Und immer wieder lässt Mr. Tophat, der eigentlich Rudolf Nordström heißt, eine Querflöte die Bühne betreten. In manchen Augenblicken erinnert das an den pastoralen Psychedelic Folk-Sound der Canterbury-Szene um Robert Wyatt aus den frühen Siebzigern. Die drei Teile von Dusk To Dawn sind so vielschichtig und musikalisch divers, dass es schwerfällt, das Geschehen auf einen kurzen Nenner zu bringen. Der erste Teil, auf dem auch Robyn als Gast-Vokalistin zu hören ist, kreist um eine sehr freistilige Definition von Disco, der zweite Teil (mit Features von Axel Boman, Kleerup und Noomi) enthält vorwiegend eher poppige Songs mit kurzer Spieldauer, der dritte Teil schließt diesen komplexen Mammut-Trip mit dunklem Ambient ab. Als Einstiegspunkte seien die Tracks „Tears of Illuminations”, „Acid Samba” (mit Noomi) und „Balearic Moonwalk” (mit Kleerup) empfohlen. Letzterer bringt mit seinem Titel dieses Album ganz gut auf den Punkt. Holger Klein
Paula Temple – Edge of Everything (Noise Manifesto)
Nach Jahren der intensiven Arbeit präsentiert Paula Temple endlich ihr Debütalbum und beweist damit eindrucksvoll, wie schrecklich schön Krach sein kann. Schon immer hat ihr Label Noise Manifesto einen radikalen Ansatz verfolgt; einen der deutlichen Absage an gängige Formen und Figuren. Stattdessen gibt es auf Edge of Everything zwölf Tracks voller übel zugerichteter Geräusche, grobkörniger Texturen und zerklüfteter Klanglandschaften. Zwischen psychedelisch umherpeitschenden Synths, ausgefransten Kicks und martialischen Drums bleibt kein Platz für Unbeteiligte: Wer nicht mitgeht, kommt unter die Räder. Was zu Beginn noch abschrecken mag, entwickelt ganz schnell eine magische Sogkraft, aus der brachiales Geballer eine mit einem Male eigentümlich beruhigende Wirkung entfaltet. Durch ihr unverblümtes Kanalisieren finsterer Gefühle wie Wut oder Schmerz vermag diese Musik aber eben genau jene Wunden zu heilen. Paula Temples wahres Manifest ist ebenjenes Kunststück. Leopold Hutter
Territroy – Skulls & Plants (Dekmantel UFO)
Territroy ist das Duo der beiden Griechen Larry Gus und Mr. Statik. Der eine macht sonst verspulten Singer-Songwriter-Folk, der andere eher soften, unbeschwerten Minimal-House. Dass bei diesem Pairing nun ein Album voller abstrakt-brachialer, industrieller Texturen und schwer schleppender Rhythmen herausgekommen ist, hätte sich wohl kaum erahnen lassen. Dennoch scheinen die beiden Künstler tief in die Materie eingetaucht sein, beackern sie das Thema mit punkiger Herangehensweise auf den zehn Tracks zwar experimentell, doch durchaus extensiv. Von knisternden und klirrenden Klängen dominiert, zieht sich die durchweg düster gehaltene Landschaft zwar ein wenig, weiß jedoch immer wieder durch frische Ideen zu beeindrucken. Die Varianz der oft unorthodoxen Rhythmus-Konstruktionen ist hier am positivsten hervorzuheben. Der vom Albumtitel und Klappentext suggerierte Kontrast bleibt jedoch etwas hinter den Erwartungen zurück. Dennoch ein lohnendes Hörerlebnis für alle, die sich dem Anspruch gewachsen fühlen. Leopold Hutter
Tracey – Biostar (Dial)
Vor zwei Jahren erst debütierte der Amsterdamer Produzent Tom Ruijg alias Tracey mit seiner EP Skyfall, damals noch auf Voyage Direct. Kennzeichen waren ein ausgeprägter Sinn für verträumte Atmosphären und ein spielerischer Umgang mit House-Gepflogenheiten, etwa im wunderbar melancholisch perlenden Titeltrack. Dass er für sein Debütalbum jetzt von Dial verpflichtet wurde, erscheint vollkommen folgerichtig. Und das Label erweist sich als ideales Biotop für ihn. Tracey träumt nach wie vor, doch auf seine ganz eigene Art, in der die Neugier auf das Ausprobieren von Klängen und die selbstbewusste Aneignung von Genres wie Electro oder Acid in einem Album zusammenfließen. Dieses zeigt eine durchgehende Handschrift und Haltung, ohne streng auf Homogenität zu setzen. Der Geist von IDM haucht dem Ganzen Leben ein und sorgt zugleich für eine wandlungsfähige Gestalt. Man kann durch diese verschiedenen Stationen wie bei einem Trip treiben. Zwischendurch ragen einzelne Nummern mit besonders markanten Klängen hervor, wie das eckig-mechanische „PHTCPHRK” mit seinen gummiartig leiernden Synthie-Glissandi. Das sind dann die Gipfel, in einem Hochgebirge wohlgemerkt. Ein Album, in das man sich bedingungslos verlieben kann. Tim Caspar Boehme
The Exaltics – II Worlds (Clone)
1001 shades of retrofuturistic dystopia – mit seinem nun siebten Studioalbum kehrt The Exaltics zu Clone zurück. Hier veröffentlichte er vor vier Jahren seine zweiteilige Some Other Place-EP. Auf dieser und anderen seiner Outputs konnte man Robert Witschakowski in für ihn eher gewohnter Manier hören: Electro/Techno-Crossover mit industrieller Handschrift. Auf II Worlds schlägt der deutsche Produzent nun aber magnetischere Töne an. Töne, die einen unweigerlich an Dopplereffekts Gesamtkunstwerk denken lassen. Durch 13 Tracks zieht sich mit melodisch-schmetternden Werkzeugen und Titeln wie „Fallen Star”, „Tunnel Chase” und „Symbionts Came Through The Green Lights” ein dystopischer Erzählfaden von einer anderen, fernen und maschinellen Welt. Ankerpunkte wie das zwielichtig-knarzende Intro oder „Day By Day”, ein bleepig-stählernes Interlude, bauen diesen weiter und weiter aus. Sphärische Akzente wie „439” und „Another World Underneath” treiben das Ganze dann schließlich zur Perfektion. Robert Witschakowski gelingt, was viele Produzenten, die sich dem Format Album annehmen, leider nicht oder nur mit Krampf zustande bekommen: Und zwar der muhelöse Spagat zwischen Klubtauglichkeit und Narrativ. Beats und Substanz. Funktionalität und Experiment. II Worlds ist eine Platte, die sich in vierlei Hinsicht mit Stolz als überaus gelungenes Album taufen kann und sicher so schnell an Langlebigkeit nichts einbüßen wird. Benjamin Kaufman
Vin Sol – Planet Trash (Dark Entries)
Die Form folgt ihrer Funktion. Ließe sich diese Ideologie aus den Reihen der Architektur auf elektronische Musik übertragen, Vin Sol wäre ihr erster Apologet. Der Chicago-House erprobte Produzent aus San Francisco knallt nach minimal konturierten Beatexegesen für Clone, Unknown To The Unknown und Club Lonely sein erstes Album raus und werkelt darauf fleißig weiter an seiner hinterhältig reduzierten Vorstellung von Techno und House. Auf Planet Trash, das auf dem Westküstenlabel Dark Entries erscheint, verschmiert Vin Sol unbeeindruckte Einfachheit mit maximalem Minimalismus und pfriemelt nebenbei ein wenig in der eigenen Vergangenheit herum. Keine Kick biedert sich an, keine Hi-Hat grindet zu oft. Für die reizüberflutete Maximalismusgesellschaft, die sich von einem Drop zum nächsten hangelt, mögen einfach gestrickt erscheinende Stücke wie „Masking Tape”, „Sutro Tower” oder das in Zusammenarbeit mit Matrixxman entstandene „Bottom Of The Hill” wie zeittötende Exkursionen in eine längst verdrängte Enthaltsamkeit wirken. Aber wenn, so wie auf dem Titeltrack, nach zwei Minuten rolligem Katzengekreische zwischen Breakbeats endlich der leicht angezündete Synthesizer einsetzt, wirft Vin Sol den Techno in die Pannebar, lässt ihn ein paar Längen ziehen und schöpft ihn schließlich mit Snares ab, die mindestens so hardboiled sind wie der Pornobalken, den sich der Maestro unter der Nase stehen lässt. Christoph Benkeser