Die Dänin SØS Gunver Ryberg spricht die Sprache des skandinavischen Free-Form-Techno Vargs genauso fließend wie die Dialekte von Soundart und Ambient. Ihr Quasi-Debütalbum gibt einen dramatischen wie formenreichen Trip durch den Underground der elektronischen Klänge. Harsch und zart, erhaben und schwermütig, immer grandios. Dass es sich bei Cutterhead (Endless Process) – zweite Laufnummer auf Techno-Urgestein Cristian Vogels neuem digitalen Label – um einen Soundtrack zu dem gleichnamigen Psychodrama von Rasmus Kloster Bro handelt, wirkt da erstmal etwas überraschend, denn Rybergs Soundscapes bestehen als Tracks ganz alleine und unabhängig von jedem Kontext. Die Funktion als hochemotionale Filmbegleitung erklärt aber die klaustrophobisch-finsteren Momente des Albums, spielt der Film doch größtenteils in einer winzigen Luftschleuse in der Baustelle eines U-Bahn-Tunnels. Ein tolles Ding, das einen physikalischen Release verdient hätte. Die polnische Technoproduzentin Anna Suda alias An On Bast hat in den vergangenen zwei, drei Jahren mit einem unmittelbar wiedererkennbar warmen Analog-Synthesizersound die internationalen Festivalbühnen erobert. Erfreulich, dass sie neben ihrer Karriere als Live-Act und DJ noch Zeit findet, experimentellere und weniger funktional optimierte Stücke zu produzieren. Nothing Shapes Everything (Shimmering Moods) ist in dieser Hinsicht ihr bisher überzeugendstes Album. Freie Electronica die keinem offensichtlichen Vorbild nacheifert, keinem Stil oder Genre entsprechen will. Es ist das sanfte aber bestimmte Sounddesign, das den locker und mit viel freiem Raum konstruierten Stücken Persönlichkeit und Stärke gibt. Der Fotograf Daniel Herrmann ist ebenso unentwirrbar mit der Techno-Kultur verwickelt. Seine Bilder der Techno-Nächte im Offenbacher Robert Johnson und der Total Confusion im Kölner Studio 672 sind heute unwiederbringliche Dokumente der Clubkultur der späten Neunziger und frühen Nullerjahre. Als Produzent Flug 8 konzentrierte sich Herrmann eher auf das Vorglühen und Abchillen in Vorbereitung und im Nachhall eines Clubabends. Das tolle Mini-Album Hypnotische (Ransom Note) verschiebt den Fokus nun ein weiteres mal von Rave- und Post Rave-Chillelektronik zu angenehm altmodisch-kosmischen Kraut-Synthesizerklängen, wie sie jüngst zum Beispiel von Fred und Luna wieder salonfähig gemacht wurden. Selten klang vorsätzliches Techno-Außenseitertum angenehmer.


Stream: SØS Gunver Ryberg – Cutterhead

Die italienische, in Stockholm am EMS Elektronmusikstudion ausgebildete und in Berlin lebende Synthesizer-Zauberin Caterina Barbieri ist mit ihrer Arbeit an der Buchla 200 Modularbox aus den Siebzigern bekannt geworden. Eine interessante Parallele zu Kaitlyn Aurelia Smith, die ebenfalls bevorzugt mit einem Buchla Tischgerät der Vorgängergeneration arbeitet. Spannend ist, wie unterschiedlich jeweils der Sound gerät, den die beiden aus diesen komplizierten Geräten ziehen. Wo Smith eher auf einen psychedelisch verwaschenen Gesamteffekt durch extrem füllige, vielfach durcheinanderlaufende Sounds setzt, arbeitet Barbieri extrem minimalistisch und stellt kleinste Details des charismatischen Klangs der legendären Vintage-Geräte in den Vordergrund. Beide machen das jeweils auf dem allerhöchsten technischen wie kompositorischen Niveau. Mit einem Maß an Kontrolle dieser hin und wieder bockigen und schwer kontrollierbaren, von Geistern heimgesuchten Maschinen, das jeweils kaum zu toppen ist. Barbieris viertes Album Ectstatic Computation (Editions Mego) verabschiedet sich nun teilweise vom strengen Minimalismus der Vorgänger und lässt trotzt der konzeptsatten, mathematisch-algorithmischen Kompositionsweise starke Pop-Momente zu. Das sensationelle erste Stück des Albums „Fantas” etwa fängt als dunkel verzerrter, flächiger Ambient an und geht dann in desorientierendes aber immer noch fassbares elektrisches Gefiepe und Gewimmel über und strandet in harschem Feedback, bleibt aber die ganzen zehneinhalb Minuten über Song-nahe Electronica. Der Kalifornier Zachary Paul, der als Poppy Nogood recht gefällige Neoklassik produziert, kombiniert unter seinem Klarnamen eine MIDI-Violine mit Modularsynthesizern und Loopmaschinen. Das Debüt A Meditation On Discord (Touch) schreitet so in drei epischen Tracks auf frappierende Weise von ziemlich freundlichen minimalistischen Loops via Anhäufung und Überlagerung zu herbem, undurchdringlichem Noise. Ein ziemlich beeindruckendes Quasi-Debüt.

Die Iran-Berlin-Connection von Porya Hatami + Arovane hat inzwischen ihre vierte Mutationsstufe erreicht. Nach den eher strengen genetisch-algorithmisch codierten Organism-Arbeiten wurde C.H.R.O.N.O.S. (Karlrecords) zu einem überraschend feinstofflichen Dark Ambient Album, die Exploration der unmittelbaren materiellen Ebene der Klangsynthese, die die Organism-Stücke auszeichnete, auf dem neuen Album in einen größeren Zusammenhang gestellt. Die fünf langen Tracks haben Anfang, Ende, Entwicklung und Spannungsbogen, sind näher am Song-Track als am puren kristallinen Klangexperiment. Die analytische Auflösung der einzelnen Soundbestandteile haben sie einer Rückverzauberung in erzählenden wie geisterhaft düsteren Soundscapes unterzogen. Shahin Entezami alias Tegh ist wie die erwähnten Porya Hatami und Siavash Amini Teil der Plattform und Szene, die sich um das Teheraner SET-Festival gefunden hat. Teghs Soundscapes sind noch etwas ins Rauschen verliebter als die seiner Peers. Unusual Path (Midira, VÖ 31. Mai) schichtet Loop um Loop aus gleißenden Synthesizerflächen, scharfem Feedback, rumpelnden Field Recordings und kaum noch decodierbaren Radiodurchsagen zu einem mächtigen, zwanzigminütigen Drone. Die Remixe, oder besser Versionen, des Stücks von Siavash Amini und dem griechischen Produzenten Zenjungle gehen analytisch mit dem Track um. Einzelne Elemente werden herausgenommen, vorgezeigt und verschwinden wieder im Untergrundrauschen. Beide schieben das Stück vom Überwältigungs-Drone in Richtung Ambient. Ehsan Banitaba, ein jüngerer Player in der starken Szene Irans treibt das Prinzip des Erzählens mit Klängen auf die Spitze. Die beiden langen Tracks seines Debüts In Parallel (Focused Silence) überlagern diverseste synthetische Klänge mit
knusprig rauschenden und tief dröhnenden Field Recordings. Zwei spannende bis bedrohliche Dark Ambient-Soundscapes, die mit jeweils fünfzehn Minuten eigentlich viel zu kurz geraten sind. Anne Chris Bakker und Romke Kleefstra aus Groningen in der niederländischen Provinz sind bestens aufeinander eingespielte Kollaborationspartner, die in diversen Konstellationen die Freiräume von Postrock-Drone, Elektroakustik, Soundart (regelmäßig mit Machinefabriek) und Sound-Poetry (regelmäßig mit Jan Kleefstra) ausgelotet haben. Ihr neues Duo-Alias Transtilla arbeitet nun mit dem Sound zweier E-Gitarren. Auf Transtilla I (Opa Loka) loten sie die Möglichkeiten und klanglichen Grenzen ihres Zusammenspiels auf dem Instrument aus. Sie schaffen das Kunststück, die behutsam elektronisch bearbeiteten Feedback- und Dronescapes, die sich aus ziemlich derben Noise-Partikeln zusammensetzen, erstaunlich sanft und fein klingen zu lassen.

Selbst wenn der Hype gerade woanders spielt, die alte Avantgarde ist des Experimentierens keineswegs müde geworden. So ist der Glottal Wolpertinger (Fiepblatter Catalogue #6) (Thrill Jockey) der Mouse On Mars-Hälfte Jan St. Werner ein eher drolliges als groteskes ausgestopftes Fantasietierchen aus skurrilen Versuchsanordnungen in autodidaktischer Elektroakustik und neu erfundener historischer Tape-Manipulation. Mittelalte Kölner Schule, A-Musik ca. 1999, und ganz alte Kölner Schule, Herbert Eimert ca. 1957, vereint in einem verlorenen Bandarchiv im Keller der Arkaden des Westdeutschen Rundfunks. Die selbstverlegten weiteren Folgen des Fiepblatter Catalogue sind übrigens kein bisschen schlechter oder uninteressanter. Hier gibt es eine ganze kleine Welt zu entdecken. Der Nachwuchsklangforscher Orson Hentschel aus dem benachbarten Düsseldorf mäandert ähnlich gekonnt und traumsicher zwischen Pop und „ernstem” Musikschaffen. Sein Album Antigravity (Denovali) nimmt die kraftvoll rohen, von archaischen Drumcomputer-Sounds dominierten Industrial-Sounds seiner ersten Tape-Arbeiten wieder auf und verknüpft diese mit düster dräuenden zeitgenössischen Synthesizer-Experimenten. Mittelalte Düsseldorfer Schule zwischen Post-Punk und Neo-Kraut. Das macht als moderne experimentelle Musik mindestens ebenso viel Sinn und Laune wie Jan Werners taxidermische Mutationen.

Die Karriere des New Yorkers Charlemagne Palestine begann in den späten Sechzigern in der Drone-Abteilung der Minimal Music. Seither hat Palestine die Möglichkeiten von Drone aus akustischen Instrumenten wie Klavier oder Orgel immer weiter perfektioniert und einen wiedererkennbaren Sound etabliert. Seth Horvitz, der Anfang der Nullerjahre als Techno-Produzent Sutekh einige Erfolge feierte, hat sein Handwerk bei Palestine gelernt. Eine Kollaboration mit dem mittlerweile als Inter-Act Rrose (eine Hommage an ein definierendes Werk der klassischen Moderne des Kunst-Avantgardisten Marcel Duchamp) präsenten Horvitz hat allerdings lange Zeit auf sich warten lassen. Nun ist The Goldennn Meeenn + Sheeenn (Eaux, VÖ 25. April) ein ziemlich typisches Palestine-Werk geworden. Donnernde Klavierkaskaden, in denen die einzelnen Anschläge zu einem großen finsteren Dröhnen und Wummern zusammenwachsen. In diesem Fall subtil editiert und klanglich bearbeitet von Rrose und auf ihrem Label erschienen. Das Album ist eine konsequente Fortentwicklung der Palestine’schen Kompositionsprinzipien, kein epochemachendes Großwerk wie seinerzeit Strumming Music. Dem Gros des neokonservativ-gefälligen Sounds, der gerade als Neoklassik grassiert, ist es allerdings dennoch weit überlegen. Die französische Pianistin Vanessa Wagner konnte bereits eine stabile Karriere als Interpretin von moderner Klassik und zeitgenössischen Komposition aufweisen, als sie ihre Fühler in Richtung Elektronik und Techno ausstreckte. Vor drei Jahren entwarf sie mit dem mexikanischen Produzenten Murcof eine gefällige aber durchaus eigenwillige Interpretation einiger Gassenhauer der milden Moderne (Erik Satie, Arvo Pärt), aber auch der radikaleren Avantgarde John Cages. Ihr jüngstes Soloalbum Inland (Infiné) führt den mit Murcof erprobten Ansatz weiter, verzichtet aber weitgehend auf elektronische Bearbeitung und digitale Effekte. Interessant ist dieses mal also weniger die (selbstverständlich) makellose technische Umsetzung der eingespielten Klavierstücke, als deren Auswahl. Aktuelle Arbeiten jüngerer Komponist*innen wie Bryce Dessner und Emilie Levienaise-Farrouch treffen hier auf tonale, harmonisch-melodische Outsider-Kunst der Nachkriegsära, etwa von Moondog, Meredith Monk, Gavin Bryars oder dem Letten Pēteris Vasks.

1
2
3
4
Vorheriger ArtikelThe Golden Filter: Trackpremiere von “Autonomy”
Nächster ArtikelFusion: Polizei schlägt versöhnlichere Töne an