Wer sich schon immer fragte, wie sich London Grammar wohl anhören würden, wären sie im britischen Hardcore Continuum von Rave, Jungle, Drum&Bass, UK-Garage und Dubstep verwurzelt, sollte Hælos eine Chance geben. Der durchaus sehr mainstreamige Synth-Pop des Londoner Quartetts um Sängerin Lotti Benardout und Produzent Dom Goldsmith zeichnet sich auf ihrem zweiten Album Any Random Kindness (Infectious / BMG) durch ein Wissen um die Beats und Bässe aus dem 2-Step Universum und eine Sorgfalt und Liebe zum rhythmischen Detail aus, die im Umfeld radiotauglicher Popmusik ungewöhnlich und keinesfalls selbstverständlich sind. So wenig wie die Idee, sich von Lindstrøm & Prins Thomas remixen zu lassen. Der Franzose Emmanuel Mario alias Astrobal ist von Haus aus Schlagzeuger, legt also quasi naturgemäß Wert auf etwas interessantere Beatarbeit. Sein drittes Soloalbum L’Infini, l’Univers et les Mondes (Karaoke Kalk) überzeugt so als pastellig-nostalgische Retro-Pop-Electronica, die sich gleichermaßen von stoischen Krautrockrhythmen, und kosmischem Synthesizerwirbeln wie vom French Pop der Sechziger beeindruckt zeigt. Wie Stereolab, mit deren Laetitia Sadier Mario schon spielte, nur organischer, französischer.

Der elektronische Pop der Gudrun Gut-Kumpanin und Ocean Club-Gastgeberin Danielle de Picciotto ist da schon forcierter avantgardistisch – auf eine völlig unverkrampfte, natürliche Art. Deliverance (Louder Than War) vereint wunderliche und wundervolle Alltagsbeobachtungen mit magischem Realismus in Spoken Word-Poesie über zartschön fließender Ambient-Electronica. Wie de Picciotto es hinbekommt, diese sonst gerne anstrengende oder überambitionierte Kombination aus Lyrik und Track so unglaublich angenehm und krampflösend zu amalgamieren, wird wohl immer ein kleines aber umso schöneres Mysterium bleiben. Die Waves of Awe, Wellen der Ehrfurcht, von denen sie so fein sing-spricht, gebühren niemand anderem als ihr selbst. Die russische Produzentin und Sängerin Kedr Livanskiy hat ihre musikalische Bestimmung und Kreativität ebenfalls in einem Zusammenhang von Poesie, Techno und Clubkultur gefunden. Für ihr zweites Album Your Need (2MR) gilt das sogar wörtlich. Aus einer musikalischen Sinnkrise nach dem Debüt im vorvergangenen Jahr heraus haben sie House, Techno und DJ-Praxis wieder zurück zur Produktion eigener Stücke gebracht. Die Stile finden sich darin ebenso wieder wie der Trip Hop-nahe, saftige Electronica-Pop ihres Debüts. Erwachsenwerden im Club und aus ihm heraus ist ja nichts neues, erwachsen werden durch den Club schon ungewöhnlich. Dass das tolle elektronische Popmusik ergibt, ist dann genauso klar.


Video: Danielle de Picciotto – Deliverance

Von Nahem betrachtet, ist Electronica ein ziemlich seltsames Ding. Vollelektronisch, schon vom Namen und Geburt her, aber ebenso organisch, akustisch und nach handgemachter Musik klingen wollend. Und das alles lieber freundlich und offen als grimmig und abweisend. Da machen sich dann sogar in Kunsthochschule und Free-Improv geschulte Minimal-Avantgardisten wie das Hamburger Trio Giraffe mal locker. Shine And Dark (Meakusma) ist eine ziemlich lässige Angelegenheit, der man die Wurzeln in ernster Komposition und ernsthaftem Sounddesign noch anhört, die aber in einem ziemlich feinstofflichen und angenehm ziellosen Band-Gejamme aufgegangen sind. Der Brite Adam Coney verlässt sich auf Pavilion (Trestle) noch deutlicher auf den Klang der akustischen oder der unverzerrten elektrischen Gitarre. Und doch sind seine Stücke eindeutig Tracks, linear repetitiv, fließend und hin und wieder wunderschön. Mit zwitschernder Analogsynthersizer-Grundierung und fein eingesetzten digitalen Effekten erinnert Coneys Sound ein wenig – aber nur ein wenig – an den ebenfalls ziemlich singulären Gitarrensound des Australiers Andrew Tuttle – und Coney klingt ähnlich optimistisch-melancholisch und lebensbejahend wie Tuttle. Die zum Duo geschrumpften The Closing sind durch die personelle Reduktion etwas elektronischer, weniger Indie-Band geworden. MATTER (Anette Records) besteht so statt aus handgespielten elektronischen Songs eher aus akustischen Tracks auf einem Fundament, das durchaus aus kleinen bis mittelfetten Techno-Beats bestehen darf. Sehr sympathisches Ding. Eine ganz feine elektrische Electronica kommt heuer außerdem noch vom enigmatischen deutschen House- und Techno-Produzenten Trux, der auf der langen EP Eleven (Office Recordings) konsequent jede Art von Erwartungshaltung bezüglich Klang und Struktur von Electronica unterläuft. Kommt, wie üblich beim Label, in einem tollen Cover von Super Quiet, dem ehemaligen Hausgrafiker der Groove.


Video: Adam Coney – Pavilion

Lamin Fofana, Kosmopolit aus Sierra Leone, Berliner Techno-Produzent und Beatschneider, der via New York das winzige aber stilprägende Label „Sci-Fi & Fantasy“ betreibt, wo etwa Lotic debütierte, hat offenbar nicht die geringsten Schwierigkeiten, immer neue musikalische Ausdrucksformen zu finden. Nach eher geradlinigen EPs mit Dubtechno, House und afrodiasporisch dekonstruierten Breakbeats debütiert Fofana nun in Langform mit gleich zwei sehr unterschiedlichen Alben. Brancusi Sculpting Beyoncé (Hundebiss) auf dem ebenfalls winzigen aber einflussreichen italienischen Avant-Pop Label, wo sich u.a. Hype Williams und James Ferraro an ihren Achtziger- und Neunziger-Dekonstruktionen übten, orientiert sich am komplexen, politisch aufgeladenen Post Club-Sound seines eigenen Labels. Einen klugen wie bissigen Kommentar zur Cultural Appropriation afrikanischer Kultur durch den Westen liefert das Album dazu. Black Metamorphosis (Sci-Fi & Fantasy, VÖ 31. Mai) auf der eigenen Plattform dient als Antithese: warme und organische Ambient-Electronica, die die gegenwärtige Lage aus der Perspektive eines dunkelhäutigen Migranten in milde Melancholie übersetzt. So unterschiedlich die Arbeiten klingen, gemeinsam haben sie Fofanas hellwachen Blick auf den Zustand der Welt im Ganzen und die unerfreulicheren Seiten des globalisierten Import-Export-Business im Kulturbetrieb im Speziellen. Dieser Blick ist unsentimental, ungeschönt, mitunter enttäuscht und sogar zornig, aber nie aggressiv oder hasserfüllt. So schön und informiert hat der kulturelle Austausch zuletzt bei Luka Productions geklungen (siehe Motherboard vom Mai 2017). Die koreanisch-amerikanische Freundschaft AFK & Bludwork zieht einen anderen Schnitt durch die geographische und musikalische Landkarte. Zusammen machen die in Instrumental-Hip Hop und Rave sozialisierten Produzenten balearisch anmutende House-Electronica von (wie könnte es anders sein) kalifornischer Sonnigkeit, die (fast) ohne die Noir-Melancholie ihrer Wahlheimat auskommt. Auch ohne explizite Politik ist die massive EP Loyalty N Service (Not Not Fun) ein fluffig-lässiges Dokument der musikalischen Globalisierung in gut. Für die beiden Berliner Briten von Ghost Vision liegt die balearische Entspannung nur einen Billigflieger entfernt. Trotzdem ist die Nachfolge-EP zu Saturnus, der wohl deepsten und trippigsten Platte auf Kompakt im vergangenen Jahr, eine globale Angelegenheit. Mirador / Ozen (P&F) schickt die Kultur der balearischen Sundowner auf eine kosmische Reise dahin, wo sich Raum und Zeit auflösen und eins werden.


Stream: Lamin Fofana – Searching For Memory

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