Foto: Frank P. Eckert
“It’s mostly tha voice that lifts you up”. Gang Starrs alte Hip Hop-Weisheit gilt in in der elektronischen Schwebemusik nur bedingt, manchmal aber dann doch. Für das Improv-Trio Aidan Baker / Faith Coloccia / Jon Mueller sogar auffällig. Was als Duo-Arbeit geplant war, Bakers vielfach gelooptem und von massiven Effekten zum Driften gebrachter Gitarren-Twang und Muellers enigmatisch durch den Raum klappernde Percussion, bekam durch Coloccias ebenfalls geloopte und stark prozessierte Stimme erst das gewisse Etwas, welches die Stücke von durchaus interessanten aber skizzenaften Sound-Studien zu Track-Songs mit innerem Zusammenhalt ausformte. So wurde See Through (Gizeh) ein echtes Album experimenteller und durch und durch organischer Electronica im Band-Format. Dass Coloccia in digitalelektronisch geschredderten, avantgardistischen Post Club-Sounds nicht weniger versiert ist als in den Drone-Metal- wie Indie-Pop-informierten Bandsounds ihres Trios mit Baker und Mueller oder ihrem Ehepaar-Duo Mamiffer, demonstriert ihr drittes Album mit Alex Barnett. In der Kombo Barnett + Coloccia verzichtet sie weitgehend auf den Einsatz ihrer Stimme. In VLF (SIGE) dreschen verzerrte Drumcomputer-Beats zwischen Field Recordings, Klavieretüden und verwehte Drone-Sounds. VLF ist auf ganz andere, nicht weniger faszinierende Weise experimentell und doch ebenso leicht zugänglich und verständnisfördernd wie See Through. Damit ist Coloccia schon an zwei stilistisch weit offenen, nicht einhegbaren und spannenden wie zukunftsweisenden Alben dieses Frühjars beteiligt. Nuff Respect.
Stream: Barnett + Coloccia – Fountain of Youth
Stimme als Instrument, Collage und Cut-Up sowie Verfremdung von Stimme und Gesang sind schon seit gut einem Jahrhundert klassische Techniken der musikalischen Avantgarde. In elektronischer Form ebenfalls seit mehr als fünfzig Jahren via Tape-Manipulation und heute vorwiegend digital. Überholt wirken diese Techniken dadurch aber keinesfalls. Die Faszination der menschlichen Stimme trägt immens weit, wenn sie von einem starken Freigeist wie der Breadwoman-Erfinderin Anna Homler eingesetzt wird. Homler praktiziert seit den frühen Achtzigern eine ganz spezielle Verbindung von sphärischen Synthesizerklängen mit phrasiertem Gesang in einer eigens dafür erfunden Fantasiesprache. Wie Deliquium in C (Präsens Editionen) lässig vorführt, wirkt Homlers strenges Konzept noch immer frisch und innovativ. Sie kommt mit dem Soundverständnis ihres langjährigen Kollaborationspartners Steve Moshier am Modularsynthesizer ebenso klar wie mit dem Neunziger-IDM Außenseiter Mark Davies oder dem noch eine Generation jüngeren Post Club-Produzenten Heatsick. Für viele, wenn nicht die meisten Menschen dürfte finnisch ebenso so unverständlich aber klanglich einleuchtend klingen wie Homlers erfundene Gesangssprache. Die in Glasgow lebende Finnin Maria Rossi alias Cucina Povera singt in ihrer Muttersprache und (oder?) onomatopoetischen Lauten. Ihr zweites Album Zoom (Night School) basiert beinahe vollständig auf ihrer elektronisch geloopten, geschichteten, überlagerten, verfremdeten und vervielfachten Stimme. Sie ist die New School-Stimmavantgarde zu der Old School Homlers. Die Vokalakrobatin und Komponistin Alessandra Eramo bezieht sich in ihren experimentellen Stimmcollagen explizit auf Konzepte der frühen Moderne von Dada und italienischem Futurismus, sowie auf die furios-konfrontativen Performances von Diamanda Galas, die Anfang der Achtziger durchaus im Nahbereich des Mainstream spielte, was heute nicht mehr so leicht nachvollziehbar ist. Tracing South (Corvo) bringt so die Avantgardetechniken verschiedenster Epochen mit einer digitalen, an Glitch geschulten Ästhetik und subtilem Humor bestens zusammen. Die menschliche Stimme ist gleichermaßen das wohl älteste wie das ewig aktuellste, immer neuste Instrument. Und bei Eramo sorgt sie bei allem experimental-avantgardistischen Anspruch zudem noch für gute Laune. Das Teheraner, jüngst nach Paris übergesiedelte Duo 9T Antiope verfolgt auf Harmistice (Hallow Ground, VÖ 7. Juni), einer Kollaboration mit dem Iraner Drone-Spezialisten Siavash Amini, eine radikale Soundpolitik, in der Schönheit eine wesentliche Rolle einnimmt. Eine Schönheit allerdings, wie sie nur aus harschem Noise und disruptiv explosiven Sounds erwachsen kann. Wiederum ist es eine menschliche Stimme, in diesem Fall die von Sara Bigdeli Shamloo, die in einem Soundscape aus sonischer Konfrontation und scharfen, ja beinahe verletzenden Klängen Oasen zarten Wohlklangs eröffnet. Elysische Gefilde, die einer gewalttätigen Umgebung abgetrotzt umso rettender wirken.
Stream: Alessandra Eramo – Primitive Bird
„I am not responsible for my music. I am but an intermediary, a medium, a work hand.“ Sich aus dem Werk, aus dem Produkt der kreativen Arbeit scheinbar herauszunehmen und dennoch als eindeutige Autoren zu fungieren ist eine weitere von Avantgarde und Moderne gelernte Strategie. Das Duo Samuel Kerridge & Taylor Burch, kongeniale Kombination des Berliner Finsterelektronik- und Post Techno-Produzenten mit der Vokalistin und Gitarristin der Electro-Rocker DVA Damas und des Neo-Dark Wave-Projekts Tropic Of Cancer, zieht ihre Inspiration unter anderem aus der Lyrik des Surrealisten Jean Cocteau. Als audiovisuelles Gesamtkunstwerk angelegt, clasht The Other (Downwards) die kühle, entpersonalisierte Spoken Word Poetry Burchs mit den scharfen Beats und Basswellen Kerridges. Trotz der neonkühlen, dunkelblau, fast schwarzen Atmosphäre, der modernistischen Aufgeräumtheit und konstruktivistischen Strenge der Tracks ist das Album unmittelbar zugänglich und reich an Textur. Und es ist wiederum die Stimme, die hier den Unterschied macht. Das auf etwas kuriosere Weise, doch nicht weniger kongenial kombinierte neue Projekt der italienischen Death Industrial- und Power Electronics-Produzentin Alice Kundalini mit dem Experimental-Turntablisten Luca Sigurtá und dem Dudelsack-Mittelalter-Folkrocker Daniele Delogu geht ein Jahrhundert weiter zurück, zeigt sich von der hymnisch-melancholischen Dichtkunst Friedrich Hölderlins beeindruckt. Zusammen genommen ergibt sich der Sound der Junkie Flamingos allerdings keineswegs aus der Summe ihrer Teile. Im Gegenteil, Lemegeton Party (The Helen Scarsdale Agency) fließt in den eher ruhigen und schmutzdunklen Gewässern von Dark Ambient und körnig flächigem Drone, zu denen die Spoken Word Poesie Kundalinis geflüstert-gehauchte Kontraste setzt. Tolles Debüt und ein weiteres Beispiel dafür, dass es nicht schadet mal über den Tellerrand des eigenen Idioms hinauszuschauen und etwas anderes zu riskieren.
Video: Samuel Kerridge & Taylor Burch – The Other