Der Brite Lee Gamble spielt mit seinem konzeptstarken wie bassbetonten Sounddesign ebenfalls außerhalb üblicher Kategorien von Tanz- oder Nichttanzmusik. Seine multimediale Trilogie von Mini-LPs und CGI-Videos Flush Real Pharynx, die Gamble erstmals nicht bei PAN oder seiner eigenen Plattform UIQ sondern bei Hyperdub veröffentlicht, spielt auf der ersten Folge In A Paraventral Scale (Hyperdub, VÖ 1. Februar) fast komplett außerhalb des britischen “Hardcore Continuum”. Kein Jungle/Rave/Breakbeat-Techno sondern eine Wundertüte luftiger Elektronik in der die knatternden Beats nur selten in den Vordergrund durchbrechen. Gambles sonstige Interessen (oder Obsessionen?) an Reptilien (sehr schön auf der Webseite seines Labels UIQ zu sehen) und schnellen Autos haben sich in Musik und Visuals aber tief eingeschrieben. Die längs gereihten Schuppen von Schlangen in Titel und Grafik-Design, die Sounds von „High Performance Cars“ als elektronisch verfremdete Field Recordings in den Tracks.


Video: Lee Gamble – Many Gods, many Angels

Das jugendliche Grime-Trio Silk Road Assassins aus Bath im britischen Südwesten zwischen Bristol und London, ist musikalisch gesehen rasant schnell erwachsen geworden. Ihr Debütalbum State Of Ruin (Planet Mu, VÖ 8. Februar) ist nach zwei EPs und einer zweijährigen Produktionszeit zu bemerkenswert gediegener und gut abgehangener Electronica geronnen. Die Beats und Bässe aus Dub-Step und Dancehall, Trap und Future-R’n’B, die fernost-exotisch klingenden Samplevignetten und die gleißende Produktion (mit Politur-Finish in den Abbey-Road Studios) verleugnen ihre Herkunft aus den Sounds des sich rasant gentrifizierenden East London keineswegs, sind aber in einen größeren Zusammenhang eingebunden, der mehr sein will als „nur“ Grime und Hardcore Continuum. Global und lokal dürfte das einer der wegweisenden Sounds der Zukunft aus/von Großbritannien sein. Der in Amsterdam lebende Spanier Pedro Vian geht die Elektronik noch entspannter an. Die Pedro Vian-LP (Modern Obscure Music, VÖ 1. Februar), sein zweites Album auf dem eignen Imprint versammelt sehr angenehme und lässige, beinahe balearische Tracks, die zwischen House, Instrumental-Hip-Hop und Electronica mäandern. Die meist geraden Beats wummern ziemlich weit hinten unten, was den entspannten Eindruck noch zusätzlich verstärkt. Das vierte Album des Münchners Sebastian Schnitzenbaumer a.k.a. BELP ist ebenfalls ziemlich ausgeruht und entkrampft gelungen. Die grummeligen Wobbel-Bässe und die D-Step oder Grime Beats sind auf Crocodile (Jahmoni/SVS) weit in den Hintergründ gerückt, und eine ganz leicht electro-jazzige und angenehm unfunktionale Electronica, die auch als Sundowner nicht fehl am Platz wäre ist an ihre Stelle getreten. So warm und unangestrengt hat sich BELP bislang noch nicht angehört. Dieses Krokodil ist gar nicht bissig.


Stream: Silk Road Assassins – Bloom

Dass in dieser Ausgabe des Motherboard so viel mit „Zukunft“ und Jetztzeit hantiert wird, heißt nicht, dass Electronica alter Schule nicht auch großartige Ergebnisse zeitigen kann. Noch dazu wenn sie mit einer gehörigen Portion Provinz-Renitenz daher kommt wie der Output von Universalpoet Rainer Buchmüller aus Karlsruhe. Als Frank Wiedemann und Kristian Beyer, die alten Plattenladen- und Musikmach-Zusammenhänge im Rhein-Neckar Delta nach Berlin gingen und mit Âme und dem Innervisions-Label zur großen Nummer wurden, blieb Buchmüller in der Heimat und werkelte als dadaistischer Wort- Ton- und Bild-Künstler Sugar Ray Buckmiller von einer größeren Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt vor sich hin, bis 2016 die Trüffelnasen von Optimo auf seine Arbeit aufmerksam wurden und seine krautrockende Synthesizer-Elektrik unter dem Alias Fred und Luna (mit zwei Schaufensterpuppen aus der Karlsruher Fußgängerzone als visuellen Avataren) erstmals veröffentlichten. Es folgte ein üppiges Doppelalbum auf Wiedemanns Bigamo-Label und mit Im Tiefenrausch (Compost, VÖ 1. Februar) auf semi-Major Label steht dem Weltruhm eigentlich nichts mehr im Weg. Solch hypefremde, eigenwillige und doch poppige Instrumental-Electronica hat immer Saison. Oder nie – und ist gerade deswegen groß. Der schottische Songwriter Bill Wells ist so einer. Er agiert immer abseits jedes Trends und wird doch hin und wieder vom Erfolg (im bescheidenen Rahmen) eingeholt, wie 2006 mit Osaka Bridge, einer bezaubernden Kollaboration mit Tori Kudos japanischer Amateurblaskapelle Maher Shalal Hash Baz. Ein untrügliches Merkmal der zahlreichen Wells’schen Projekte ist die unangestrengte und völlig organische rüberkommende Vereinigung von avantgardistischem Songwriting und einem überaus warme poppig-humanistischen Sound. So ist The Sensory Illusions (Karaoke Kalk) das Debüt von The Sensory Illusions, Wells’ Duo mit der Tubistin Danielle Price, durchaus kopfstarker virtuoser Jazz mit freien Momenten, aber mehr noch folkig freundliche zeitlos-zeitgemäße unangestrengte akustische Electronica, wie sie zum Beispiel von den Tenniscoats und Spirit Fest praktiziert wird. Ein sehr angenehmer Zeitvertreiber.


Stream: The Sensory Illusions – Bagpipe Dream

Ein ganzes Album mit spätromantischen bis impressionistischen Miniaturen am Solo-Piano? In 2019 ist das ja fast schon wieder Avantgarde. Aber wenn das einer ohne Zynismus durchziehen kann und darf, dann Volker Bertelmann alias Hauschka, hat er doch Boom und Elend der klavierigen 2004er-Schule der Neoklassik entscheidend geprägt und mitverantwortet (neben Max Richter, Chilly Gonzales, Dustin O’Halloran, …). Auf den Alben, die nach Hauschkas Debüt in jenem Jahr erschienen, hat er die gerne etwas zuckrige Leichtigkeit einfach perlender Melodien nie wieder so ungebrochen gefeiert wie damals. Bis jetzt, bis A Different Forest (Sony Classical, VÖ 8. Februar). Die unaufwändigen, spontan improvisiert wirkenden und durchwegs kurzen wie lieblichen Stücke dürfen sich frei entfalten, ohne modernistische Klangpräparationen oder post-moderne Kompositionstechniken. Thema des Albums ist, ganz und gar zeitgeistig, das Naturerleben mit Bäumen. Das Album fungiert also als eine Art psychoakustisches Waldbaden für gestresste Stadtbewohner – und diese Aufgabe erfüllt es ganz hervorragend. Der Antwerpener Pianist und Soundtrack-Komponist Guy van Nueten, der mal bei der ungefähr drittbekanntesten belgischen Indie-Rock Band The Sands mitspielte, haut mit Contact (Sony Classical) sogar noch tiefer in die Romantik-Kerbe. Der finale Teil seiner Pacman-Trilogie schwelgt äußerst kultiviert in Nostalgie und Sentiment, was dann sehr-spät-romantisch bis zu-spät-romantisch werden kann. Richtig gut ist van Nueten wenn er die Noten spärlicher setzt, melodisch weniger auf Sättigung hin agiert. Dann klingt es wie eine Pop-geschulte Deutung des kargen Modernisten Morton Feldman. Die Inspirationsquellen des australischen Pianisten Erik Griswold liegen eher bei der Minimal Music Terry Rileys und in der Wahl der kompositorischen Technik des präparierten Pianos bei John Cage. Auf Yokohama Flowers (Room40) verwandelt Griswold sein über hundertjähriges Klavier aus schwäbischer Manufaktur in eine gewaltige Spieluhr.


Video: Hauschka – Curious

Eine ganz andere Art von „Neo-Klassik“ wird in der experimentellen Elektronik-Szene im Iran praktiziert. Die Tracks von Siavash Amini, Porya Hatami, Arash Akbari, Hesam Ohadi (Idlefon) oder Shahin Entezami (Tegh), seien sie mit Hilfe von Modularsynthesizern, am Laptop oder mit elektronisch bearbeiteten akustischen Instrumenten eingespielt, sind einerseits klar in einem globalisierten und jetzt-zeitigen digitalen Soundverständnis verpflichtet, sind aber immer mehr oder minder in der traditionellen persischen Musik verankert, sei es Klassik oder Folk. Das gilt ganz besonders für Saba Alizadeh. Er ist der Sohn eines der bekanntesten Komponisten und Interpreten persischer Klassik und Moderne, Hossein Alizadeh, und hat das Sound- und Strukturverständnis dieser Tradition praktisch von Geburt an verinnerlicht. Auf Alizadehs internationalem Debüt Scattered Memories (Karlrecords, VÖ 15. Februar) liefert das Timbre der Setar-Laute (eine Verwandte der Mandoline, der indischen Sitar und der uigurischen Pferdekopfgeige) und der Kamancheh (ein ähnliches Instrument, das aber nicht gezupft, sondern mit einem Bogen gestrichen wird) die zutiefst wehmütige Grundfärbung für Tracks in einer absolut aktuellen, scharf geschnittenen Digital-Ästhetik zwischen Drone, Glitch und prozessierten Samples. Von einer schweren Melancholie geerdet wirkt diese Kombination aus Klassik und Moderne, zumindest in Alizadehs Ausführung, weniger erschöpft als das Gros der hiesigen “Neoklassik”.


Stream: Saba Alizadeh – Blood City

Die ursprüngliche Idee von Ambient, als Konzept akustischer Möblierung und theoretisch unendlicher Variation sinnentleerter Grundmotive ist definitiv noch nicht ausgespielt. Ein Projekt etwa, wie die von Wolfgang Voigt kuratierte und alljährlich zu Weihnachten erscheinende Pop Ambient-Reihe ist mittlerweile bei der neunzehnten Ausgabe Pop Ambient 2019 (Kompakt) angekommen und bietet wieder – wie immer – erlesenen Wohlklang delikat feinherber Textur von durchwegs männlichen Produzenten aus dem näheren Label-Umfeld. Wobei, fast eine kleine Sensation, es diesmal doch tatsächlich der Singer-Songwriterin Maria Estrella Aggabao gelang, sich zumindest via „featuring“ in die sentimentale Männerwelt einzuschmuggeln. Trotz der konstant hohen Qualität der Beiträge und vereinzelten Ausflügen in angrenzendes Terrain wie Neoklassik oder Hauntology scheint der Schwung der kontextlos wabernden Eleganz ein wenig verloren gegangen zu sein. Aber es hilft ja alles nix, es gilt wie jedes Jahr: Schönheit ist immer ein Argument.

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