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Motherboard: Juli 2023

Annika „Anika” Henderson, die in den vergangenen zehn, 15 Jahren zwischen Berlin und Bristol eben mal kurz den psychedelischen Indie-Rock runderneuert und als introvertierten Shoegaze-Pop neu erfunden hat, hatte nie Probleme, sich mit elektronischen Clubmusiken zu verbinden. Sie kann aber noch mehr, wie sich in dem Konzert-Mitschnitt Eat Liquid (Edition Dur, 9. Juni) nachhören lässt. Die Musik zum multimedialen Event im Februar dieses Jahres im Berliner Zeiss-Großplanetarium wurde speziell für diese eine Aufführung an diesem Ort konzipiert und übersetzt Anikas psychedelische Inspirationen, etwa Timothy Leary, aus dessen psychedelischem Manifest Textpassagen in die Aufführung eingingen, in minimalistische, weitgehend instrumentale Song-Drones. So ist es einerseits ein bisschen schade, dass Hendersons tolle Vokalkünste so selten zum Einsatz kommen, andererseits aber umso toller, was sie allein mit minimalsten Mitteln aus einer E-Gitarre und einem einfachen Analogsynthesizer zaubern kann. Es muss eine magische Nacht gewesen sein. Die Residuen sind in „Eat Liquid” deutlich zu hören, haben nichts von ihrer Wirkung eingebüßt.

Das Schwere im Leichten einer psychedelischen Tradition, die dem Industrial und Drone entspringt, gibt dem kongenialen kalifornischen Duo aus der Cellistin Alison Chesley alias Helen Money und Soundtrack-Komponist Will Thomas ein neues Zuhause. Ihr Debüt Trace (Thrill Jockey, 12. Mai) findet Spuren von Schönheit in von Schwermetallen und Noise verseuchten, desolaten Klanglandschaften ewiger Finsternis – in höchstmöglicher Ultra-Anything-HD-Auflösung. Metalmaschinenmusik nochmal neu, nochmal anders. Ein schwerstens beeindruckendes Klangbild, das bei Chesley, die schon mit Jarboe von den Swans gespielt hat, durchaus naheliegend wirkt. Bei Thomas, der seinen Lebensunterhalt bisher mit TV-Serien-Untermalung eher mainstreamiger Art bestritt, schon ungewöhnlicher. Das Ergebnis überzeugt jedenfalls restlos.

Mit ihrem Debüt Simple Sentences auf Joakims Label Tigersushi hat die in Brüssel lebende Japanerin Shoko Igarashi auf ungeahnte und geniale Weise die New-Age- und funky Easy-Listening-Sounds der belgischen (vergleiche etwa die erste Dekade von Les Disques Du Crépuscule) und japanischen (Kankyō Ongaku, klar, aber auch YMO und Midori Takada) Achtziger und Neunziger neu belebt. Aber warum auf dem Erreichten beharren, wenn man etwas ganz anderes machen kann? Das Project TENORI (Faneca Music, 7. Juli) beschränkt sich technisch auf ein einziges Instrument, den grafischen Synthesizer, Sequenzer und Looper Tenori-on. Aus dem holt sie riesige Wimmelbilder von jazzigen, hibbeligen Blubberwubberbimmelsounds, die erst mal einfach nur Spaß machen, aber ähnlich wie bei der geistes- und klangverwandten Kate NV bei näherem Hinhören eine immens originelle, neue Art von freier Musik darstellen. Eine absolut aktuelle und doch komplett zeitlose Avantgarde jenseits modernistischer Klischees von Free Jazz oder Neuer Musik.

TWEAKS, they/them-Vielfachkünstler:in aus Miami mit eigenem Label und Dependancen in New York, Los Angeles und London in Mode und Performance, Absolvent:in von Nicolas Jaars Overtones-Workshop, aus dem auch die tolle Compilation Portals hervorging, vereinigt die multitalentäre Verflüssigung und Nichtbinär-Werdung von Genres, Kulturen und Styles in einer von vielen Person(en). Ihr Debüt Move San, Let Gate (Seet Deh Records, 30. Juni) ist somit folgerichtig ein Hybrid aus Soul, elektronischer Neoklassik und Elektroakustik, Autoren-R’n’B und Autofiktion, aber eben gleichzeitig viel mehr als das, etwas, das die Verflüssigung von Identität auf die gesamte Lebensführung und die Kunst, die daraus resultiert, übertragen möchte. Biografisch dicht, queer, kompliziert, distanziert nahekommend, traumatisiert lebenshungrig, jung, experimentell. Alles in delikatester detailverliebter Produktion.

Jon Leidecker alias Wobbly ist simultan, aber nicht immer gleichzeitig ein Sound-Aktivist der ersten Stunde (aktuell immer noch aktiv in einer späteren Form des seit den späten Siebzigern aktiven Klangcollage-Avantgarde-Kollektivs Negativland) und so etwas wie ein hochindividuelles Weirdo-Einzelstück. Der aber immer gern mit Gleichgesinnten (künstlerisch am ergiebigsten etwa mit People Like Us oder Matmos) kollaborierte. Die Kollaboration unter dem Vorzeichen einer spezifischen Eigenwilligkeit zeichnet sein was-weiß-ich-wievieltes Album Additional Kids (Hausu Mountain, 9. Juni) aus. Qualitativ hochwertigster Quatsch, unter dem sich teils brillante Popsongs (Pop im Sinne zum Beispiel des frühen Yellow Magic Orchestra) verbergen, aber nicht verstecken.

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