Könnte man sagen, dass uns die Gegenwart heute gar nicht mehr bewusst ist? Sind wir gefangen in einem Loop – unfähig, neue Erinnerungen zu erzeugen?
Wenn man es pointiert formuliert, würde ich sagen ja. Es gibt eine Art Atmosphäre, eine Stimmung der Endlosigkeit von Gegenwart. Das entzieht sich jetzt natürlich einer wissenschaftlichen Beweisführung. Eine Stimmung ist mehr ein Gefühl der Gesellschaft. Ich glaube aber schon, dass es dieses Gefühl gibt, einerseits aus dieser Empfindung heraus, die Vergangenheit nicht loswerden zu können, sie quasi im Rücken sich auftürmen zu sehen und zugleich den Bezug und die Perspektive auf eine Zukunft verloren zu haben, die etwas anderes ist als die Verlängerung der Gegenwart. Natürlich passiert die Zukunft, sie bedrängt uns sogar in vielerlei Hinsicht. Aber sie präsentiert sich nicht als utopische Qualität. Die Vorstellung, auf den Mond fliegen zu können, ist uns abhanden gekommen. Wir sind schon sehr lange nicht mehr am Mond gewesen. Die Zukunft ist in gewisser Weise abgesagt.

Sie haben vor kurzem Im Sumpf ein Interview mit dem Soziologen Heinz Bude geführt, der das ähnlich formuliert hat: “Die Zukunft ist verbaut, sie ist eine Kategorie der Bedrohung”. Die verlorene Zukunft als Äquivalent zur endlosen Gegenwart, wäre das nicht sogar das plakativere Leitmotiv?
Könnte man so sehen. Die Zukunft ist allerdings schon länger verbaut, zugestellt und zurückgewiesen. Kulturell oder populärkulturell beginnt die Zukunftsskepsis ja bereits in den späten 1960er Jahren, die sich dann im Punk, in “No Future” und dem Vorwurf gegen die Wreckers of Civilization, den Industrial-Ikonen Throbbing Gristle zeigt. Schon in den 1970er Jahren erschien die Zukunft als verdüsterte, graue Qualität. Punk war ja dann so etwas wie eine symptomatische, kulturelle Verdunkelung dieser Aussicht auf Zukunft. “No Future” war eben nicht ohne Grund eine exemplarische Aussage von Punk. Auf einem geschichtsphilosophischen Level hat man dann in den späten 80er Jahren von einem Ende der Geschichte gesprochen; sicher auch eine berühmte Zeitdiagnose, die ja eher mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus und der Vorstellung zu tun hatte, dass sich dann so etwas wie eine marktwirtschaftlich orientierte, liberale Demokratie als dominante Regierungsform global durchsetzen würde. Eine Zeit lang hat es ja auch so ausgesehen, als würde das im Großen und Ganzen hinkommen. Jetzt sehen wir, dass das realpolitisch so nicht zu halten war. Eine zusätzlich neue Qualität ist mittlerweile, dass die Verdunkelung der Zukunft atmosphärisch schon dadurch gewährleistet ist, dass wir das Gefühl haben, sie jeden Tag durch das zu verbauen, wie wir leben. Es braucht also keinen “roten Knopf” mehr wie in früheren Dystopie-Vorstellungen.

Heute äußert sich die Vorstellung des Katastrophischen der Zukunft so, dass die Gegenwart einfach weiter geht, dass wir den Kipppunkt also schon versäumt haben, um das Rad der Geschichte neu zu justieren. Nach dem Motto: “Es ist schon fünf nach Zwölf, nicht mehr fünf vor Zwölf”. Und möglicherweise haben wir gar nicht auf die Uhr gesehen, oder sehen die Uhr nicht. Diese Vorstellung ist relativ neu. Aus meiner Sicht kommen aber noch zwei andere Wahrnehmungen dazu. Das eine ist der verstärkte Rückgriff der Zukunft auf die Gegenwart, die die Gegenwart ständig neu umbaut. Zum Beispiel im Bereich der Finanzspekulationen, wo man auf die Zukunft wettet, diese Wetten aber rückwirkend andauernd die Gegenwart umformen, und zwar in einer Art der Beschleunigung, der Engführung von Gegenwart und Zukunft. Das sind dann keine getrennten Kategorien mehr, sondern ein ineinandergreifendes, maschinelles Netzwerk. Zum anderen verlangt die Digitalisierung heute im Alltag ein beständiges Kontinuum von uns selbst in Netzwerken. Man steht in der Früh auf, schaltet den Computer ein und es ist egal, wann dir jemand eine Mail geschickt hat. So tickt ja auch die Ökonomie, nicht ohne Grund heißen Supermärkte “24/7”. Alle Warenumschlagplätze laufen 24 Stunden.

Vor kurzem habe ich von europäischen Nachrichtenportalen gelesen, die in Australien oder New York eigene Büros aufmachen, um die Zeitverschiebung zu umgehen. Weil es eben nicht mehr reicht, den ständigen Feed nur noch zu den eigenen Bürozeiten zu füllen. All das beschreibt ja auch eine Endlosigkeit der Betriebsamkeit, die sich gegen den Schlaf als Unterbrechung und gegen jegliche Formen menschlicher Zeit richtet. Das Festival MaerzMusik in Berlin spricht zum Beispiel von einem Krieg der verschiedenen Zeitlichkeiten, in dem wir uns befinden. Digitale, netzwerkkapitalistisch organisierte Zeit vs. menschliche Zeit vs. Zeit, die sich in Form von Naturphänomenen ausbreitet. Gletscher haben ein anderes Zeitempfinden als Menschen und die wiederum ein anderes als digitale An- und Verkäufe an den Börsen. All das beschreibt, was man unter dem Stichwort der endlosen Gegenwart benennen könnte.

Das geht in einer gewissen Weise auch mit einer Uniformität, einer Gleichförmigkeit der globalisierten Welt einher. Dabei wäre doch Spannung die notwendige Ressource für Transformation und Veränderung. Fehlt gegenwärtig die Spannung in der Kunst, in der Gesellschaft, vielleicht auch in der Musik?
Vielleicht ist die netzwerkkapitalistisch organisierte Zeit eine ganz gute Beschreibung für eine auf Uniformität, auf eine Synchronizität und Gleichförmigkeit – im Sinne eines Austausches von Zeichen und von Kapital abstellende Qualität, die sich weiter ausbreitet. Im Zuge des Festivals interessiert es mich aber nicht allein, diesen Umstand bloß festzustellen und in eine defätistische Haltung zu verfallen, sondern vielmehr zu sehen, wo denn Störgeräusche möglich sind, wo etwas zu knirschen beginnt und wo es es ein temporal zu fassendes Aufbegehren gibt – als eine Art Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, das man auch zeigen und vorstellen kann. Natürlich ist das nicht so leicht zu finden und natürlich bieten sich hier auch keine einfachen Lösungen an. Es ist eher ein Versuch, aus diesem globalisierten Takt der Zeit herauszufallen. Ich glaube, dass das durch verschiedene Formen entstehen kann. Beispielsweise durch Übertreibungen, Überaffirmationen, die eine Tendenz erkenntlich machen und dadurch eine Verdichtung, eine Kompression oder gewissermaßen Irrwitz vorstellen, der einen in Turbulenzen stürzt. Umgekehrt können es aber auch genauso gut Verlangsamungen und Brüche sein, die den Versuch des Heraustretens beschreiben. In beide Richtungen tendiert das Programm des Donaufestivals.

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