Auch die modernsten Hybride fahren noch mit klassischem Treibstoff. So setzt das Wiener Duo Wælder auf dem zweiten Album Non Places (Denovali) auf die Reibungshitze von cineastischen Trip-Hop Flächen und scharf luftholenden Industrial-Bæats aus zerborstenen Rohren und undichten Ventilen, wie sie in der Frühphase von IDM auf Warp und Planet Mu, etwa von Autechre oder dem Aphex Twin gerne genommen wurden. Mit stotternden Vocal-Samples und üppiger Melodik ein Verbund der in den neunziger Jahren so üppig wohl nicht möglich gewesen wäre, aber heute absolut schlüssig klingt, als hätte es das schon immer gegeben. Das nordenglische Duo worriedaboutsatan ist ähnlich wandlungsfähig. Mit Laptop, Synthesizer und zwei Gitarren basteln sie auf ihrem vierten Album Shift (Wolfes & Vibrancy) einen schwermetallbelasteten Hybriden aus elektronischem Drone und beatlosem Knister-Techno à la Varg, mit einem Post-Rock geschulten Gespür für Pop und Pathos. Der amerikanische Klassikpianist Bruce Brubaker hybridisiert auf Codex (Infiné) dagegen die Avantgarden des fünfzehnten Jahrhunderts, den Codex Faenza, eine der ältesten bekannten Verschriftlichungen von Stücken für Tasteninstrumente, mit einer der populärsten und wichtigsten des zwanzigsten, der Minimal Music Terry Rileys, in Form der Keyboard Study No. 2. Da die ganz alte und die mittelalte Moderne eher rhythmisch und von zahlreichen variierten Wiederholungen geprägt sind, funktioniert das sehr gut. Auch die unwahrscheinlichen Verknüpfungen des Alien Ensemble Posaunisten Mathias Götz alias Le Millipede sind rein akustisch. Sein drittes Album The Sun Has No Money (Alien Transistor; VÖ: 2.3.) hupt sich verhalten beschwingt von nostalgischer Glockenspielmelancholie zu minimalistischer Pop-Lebensfreude.


Stream: Waelder – Loss

Tracks der Kategorie „anstrengend aber toll“ mit ihrem spätjugendlichen Abkömmling „nervig aber swag“, ziehen ihre Größe und Faszination aus der schieren Menge an Material und Ideen (wenn es gut läuft). Der Japaner Yoshinori Hayashi schafft es mit seiner speziellen Art von Überforderungssound sogar in die Disko. Auf der EP Uncountable Set (Disco Halal) laufen immer mehrere Schichten von Loops und Samples gleichzeitig, übereinander, nebeneinander, gegeneinander. Das ist maximal experimentelle freidenkerische House Music in psychedelischer Fülle. Die vier Tracks versöhnen Afrobeat mit Stockhausen, Italo-Western-Soundtracks mit Bollywood und Balkan-Beats mit gezerrten Nostalgie-Vocals. Komplett abstruser Nerdkram, aber wunderbar tanzbar. Die freundliche holländische Dame DJ Marcelle/Another Nice Mess hat sich in den vergangenen zehn Jahren als Haus-DJ für Hans-Joachim Irmlers Faust-Studios als die Musique Concrète- und Cut Up-Turntablistin überhaupt etabliert. Ihre vier Mixalben auf Klangbad vermittelten auf völlig eigensinnige und stimmige Weise zwischen alteuropäischer Musikavantgarde und afrikanischen und jamaikanischen Soundtechniken. Ihre jüngste EP Psalm Tree (Jahmoni) erweitert diesen Ansatz nun auf Techno und Footwork. Der sibirische Newcomer HMOT macht etwas vergleichbar seltsames aus Dubstep und Grime. Die exzellent eigensinnige EP Permament Imbalance (OKQO, VÖ: 30.3) verknüpft Glitch-Elektronik mit klassischem Avantgarde-Gepolter auf der Basis abgründiger Bassmusik. Luis Kürsten alias Hobor aus Leipzig arbeitet dagegen analog. Das Tape-EP Constellations (PH17) setzt auf streng konzeptuelle Weise Tape-Glitches durch minimal zeitversetzte Verschleifung in einen rhythmischen Stolperzusammenhang, der mit Thomas Brinkmanns Studio 1 Variationen eng verwandt ist, aber weniger sparsam rüberkommt.


Stream: Yoshinori Hayashi – Pneuma

“Mehr ist mehr” ist oft auch die Devise wenn Jazz und avanciertes Beathandwerk zusammen kommen. So changiert der experimentelle Drum’n’Bass des Engländers Matt Elliott alias Third Eye Foundation auf Wake The Dead (Ici d’ailleurs) zwischen akustischem Free Jazz mit Schlagzeuger und avantgardistisch heftigen, von Footwork, Grime oder Glitch abgeleiteten Beats wie sie jüngst ganz ähnlich von Jlin oder Klein zur Perfektion geführt wurden. Für das gemischt-ostdeutsche Philipp Rumsch Ensemble ist die Ausgangbasis von der aus sie die ungeahnten Weiten der musikalischen Freiheit explorieren bodenständigster Fusion-Jazz und eine an Weltmusik geschulte Neoklassik nach der Art des Penguin Café Orchestra. Als Fahrzeuge dienen der zwölfköpfigen Combo aus Jazzmusikern und Klassik-Interpreten gleichermaßen die Gerätschaften zeitgenössischer elektroakustischer Komposition wie die der freien Improvisation. Das erstaunliche und erfreuliche am Debütalbum Reflections (Denovali) ist, dass Rumschs Ensemble den Kontakt zu Pop und elektronischer Musik mit und ohne Beat nie ganz abbricht. Sie bewegen sich ziemlich weit draußen, gehen aber nie verloren.


Stream: Philipp Rumsch – Reflections Part 1

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