Foto: Frank P. Eckert

Die Elektronik der Zukunft in der Gegenwart kommt aus Afrika. Definitiv zu pauschal und womöglich viel zu steil als einfach dahingeworfene These, bestätigt die EP Kilumi (Infiné, 21. April) der Newcomerin Coco EM aus Nairobi, Kenia allerdings sämtliche Euphorie und Hoffnung, die mit dieser Aussage verbunden sind. Allein die globale Sichtbarkeit der supermodernen, hyperkomplexen Post-Club-Beats in Verbindung mit polyabstrakter Percussion, futuristischem R’n’B-Pop und lokalem Hip Hop ist schon ein Wert an sich. Und die Tracks natürlich erst recht. Jeder eine eigene Welt, mit Vorbildern, sicher, Jlin oder Loraine James können Ähnliches, aber eben mit einer lokalen Eigenwilligkeit und Radikalität – im Wortsinne: Verwurzelung –, die auf den ersten Blick nicht viel mit den afrodiasporischen Beats zu tun hat – und doch alles.

Die Zukunft gehört nicht weniger JakoJako. Und zwar deswegen, weil die Berliner Produzentin mit den Werkzeugen der Vergangenheit, Analogsynthesizern und Modular-Racks, etwas macht, das sich anhört, als hätte es schon immer existieren können, schon sehr lange da sein müssen, das aber nie da war, und selbst, wenn es dagewesen wäre, doch eine ungreifbare, flüchtige, utopische Qualität hätte. Sibel Jacqueline Koçers Debütalbum Metamorphose (Bigamo, 1. April) erreicht diese gar nicht paradoxe Zukunft-aus-Vergangenheit-Anmutung über ein extrem durchdacht und ausgefeilt wirkendes Sounddesign, mit dem sie noch die ausgeleiertsten Hüllkurven-Patterns zu etwas Exquisitem transformieren vermag. Wenn es eine würdige Nachfolge und Weiterentwicklung zu Caterina Barbieris Synthesizerklassiker der 2010er, Ecstatic Computation, gibt, dann ist sie hier zu finden.

Die Osnabrücker Feinmotoriker Sankt Otten ziehen indes ihren Stiefel durch, als gäb’s kein Morgen. Vielleicht nicht der dümmste Ansatz in diesen instabilen wie gefährlichen Zeiten. Postrockende bis kosmische Synthesizer plus E-Bow-Gitarre in ausladenden Krautetüden mit schmunzelig-klugen Tracknamen gibt es auf Symmetrie und Wahnsinn (Denovali, 9. April) jedenfalls im Übermaß. Es ist immer wieder eine Freude, die regelmäßigen Lebenszeichen aus der ostwestfälischen Provinzmetropole zu hören. Die machen das jetzt seit fast 25 Jahren und haben es irgendwie geschafft, ihre Inspiration auf einen so kleinen, engen musikalischen Fokus zu konzentrieren, und holen da doch immer so erstaunlich viel heraus.

Mari Maurice aus Austin, Texas hat sich mit ihrem aktuellen Projektalias More Eaze in der vergangenen Handvoll Jahre als eine der interessantesten Erzeuger*innen experimenteller Klänge zwischen Genres und Szenen etabliert. Weder besonders streng in der Form noch besonders radikal im improvisierenden Gestus, sondern spielerisch und frei von Experimentatorendünkel entwickeln sich die Stücke unvorhersehbar und behalten doch immer einen gewissen Bezug zu Pop. Auf dem als Tape oder 10-Inch-Vinyl erhältlichen Mini-Album Oneiric (OOH-Sounds, 8. April) hat sie diese Freiheiten in sechs traumwandelnde Beinahe-Lovesongs gedengelt. Das ist niemals weniger als genial.

Dass Mari Maurice genauso locker mal super-kawaii Hyperpop aktuellster Machart aus dem Ärmel schütteln kann, sollte hoffentlich keine Überraschung mehr sein. Claire Rousay and More Eaze, das Duo mit der nicht weniger frei aufspielenden Perkussionistin und nicht weniger experimentellen Komponistin aus San Antonio, Texas, bubblegum-basst sich auf Never Stop Texting Me (Orange Milk, bereits im Februar erschienen) locker neben die arrivierten Avatar-Pop-Größen von PC Music oder sogar zwischen die aus Korea und Japan.

Und Claire Rousay? Macht solo auf everything perfect is already here (Shelter Press, 22. April) wieder etwas ganz anderes, nämlich feinsten halbakustischen Knusper- und Kruschtelambient, der Morton Feldman und John Cage ähnlich glücklich im Grabe rotieren lassen müsste wie Erik Satie. Und klar, Mari Maurice spielt hier ebenfalls mit.

James Cooke, Producer aus Portland, Oregon, hat die analoge, modulare Synthesizertechnik zum musikalischen Lebensinhalt auserkoren, was schon das schwer synthnerdige Alias Graintable aussagt. Was bisher allerdings blubbernde, fiepende Electronica war, ist heuer auf The Rain In The Trees (Ransom Note, 8. April) zu beinahe reinformatigem, beatlosen Ambient geworden. Hi-Fi in höchster Auflösung, das vom Fokus auf Sound und Wissen um die verwendete Technik immens profitiert. Schon lange kein so durchdachtes, durchgearbeitetes wie wohlgeformtes Ambientalbum mehr gehört.

Wohlgeformt und lange durchdacht, viel nachgefühlt und an kleinsten Details geschraubt, danach hört sich das zweite Tape Wave Iridescence (100% Silk, 15. April) des Kanadiers Jeremy Rawkins alias PARC an. Vollkommen unspektakulär, aber im Detail so reichhaltig und jederzeit umarmend warm. Da stört es nicht mal, wenn ein sanfter Breakbeat über dem Synthteppich knattert, als wäre es schon wieder 1993 und LTJ Bukem gerade der hotteste Kram der Saison.

Die EP-Reihe Music For Home des tollen malaiischen Labels mü-nest bekommt gerade eine Reihe von Remixen als Single-Veröffentlichungen spendiert. Zuletzt das technoide, innerkoreanische Rework A Song For The Wounded (D & The Compass’ Healing Mix) (mü-nest, 25, März) des Ambient-Stücks von Dae Kim. Davor ebenso fein und umgekehrt La Luna (Flica’s Moonlight Remix) (mü-nest), das das IDM-Techno-Stück von D & The Compass des Kuala Lumpurer Produzenten und mü-nest-Labelhoncho Flica zu Ambient verweht. Und um den Kreis zu schließen: Our Season (Dae Kim’s Our Home Remix) (mü-nest) der Japaner Marihiko Hara & Polar M, von ambienter Electronica zu electronicaeskem Ambient transformiert von Dae Kim.

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