Die Initimités (Ambiances Magnétiques, 9. April) der Émilie Girard-Charest sorgen ebenfalls für ordentliche Verknotung von Körper und Geist. Die vier elektroakustischen Kompositionen der versierten Improv-Cellistin gehen keinerlei Kompromisse ein, was die disruptive Arrhythmik der Struktur angeht. Ebenso kann das Volumen explodieren, Die Stücke, sparsam und eng am Körper geschneidert, können zu kratzigem Noise explodieren oder minutenlang fast unhörbar auf einer Saite schrubbern.

Das kanadische Streichquartett Quatuor Bozzini hat sich auf die Interpretation zeitgenössischer Komponist*innen spezialisiert, die irgendwo zwischen die alte Neue Musik und die neue alt klingende Neoklassik fällt, also durchaus avantgardistisch und grenzgängerisch neutönend, aber doch meist noch innerhalb eines melodisch-tonalen Rahmens. Was dann eben wie Drone oder wie akustische Splitterelektronik klingen kann – nur eben strukturell aufwendiger, komplizierter konstruiert. Michael Oesterle: Quatuors (Collection QB, 15. April), Quartettwerke des kanadischen Komponisten Michael Oesterle, bevorzugen meist Konstruktion vor Sound, klingen mehr nach später Romantik oder nach frühem Minimalismus denn nach Stockhausen.

Die amerikanisch-kanadische Cellistin India Gailey aus dem abgelegenen Halifax, Nova Scotia interpretiert auf To You Through (Redshift Records, 13. Mai) neuere Klassik und Avantgarde bis zu allerneuster Elektroakustik und mischt diese mit eigenen Stücken. Eine Praxis, wie sie zum Beispiel die Isländerin Gyða Valtýsdottir ähnlich erfolgreich betreibt und die sogar an Pop angrenzen kann. Rau, kratzig, reich an Textur und mikrotonalen Abweichungen, aber doch immer diesseits von Tonalität und Melodik ist Gaileys eigenen Stücken wie denen von Fjóla Evans, Philip Glass, Yaz Lancaster, Michael Gordon und Anne Leilehua Lanzilotti eine elegische Stimmung gemein, die sich ins Erhebende übersetzt. Ein Zittern und Bangen ist in der Welt, aus dem Hoffnung wird.

Also, echt jetzt, wo bleibt das Geheimnis? Der Titel gibt ja schon alles preis und mehr: Slow, Quiet Music In Search of Electric Happiness (Redshift Records 22.April), interpretiert vom kanadischen Gitarrenensemble Instruments of Happiness, macht nämlich exakt das, was es bereits auf dem Cover ankündigt. Spannend ist, wo und wie sie nach dem elektrischen Glück suchen, nämlich in vier langformatigen wie komplexen Auftragskompositionen, die mit typischer Gitarrenmusik, seien sie postrockend, elektrisch verzerrt oder akustisch verjazzt, erst mal nicht so viel zu tun haben. Ob sie nun Elektroakustik, Sound Art, mikrotonale Drones oder Ambient darstellen wollen, für die Kompositionen von Louise Campbell, Rose Bolton, Andrew Staniland und Andrew Noseworthy nutzt das hier als Quartett agierende Ensemble jeweils die äußeren Ränder der erweiterten Spielweisen ihrer Gitarren, die dann eben nicht immer als solche wiedererkennbar sind. Definitiv finden sie darin allerdings die elektrische Glückseligkeit des Titels, in einem langsamen, stillen Extremismus der Schönheit.

Das Duo Joyful Joyful aus Toronto schafft auf seinem gleichnamigem Debüt Joyful Joyful (Idée Fixe, 29. April) etwas ganz und gar Außerordentliches, das doch total normal und selbstverständlich erscheint. Schlüssig sowieso: Eine queere Dekonstruktion von religiösen Musiken, von Gospel und Chorälen, Mönchsgesängen und Folk. Nicht weniger Dekonstruktion von christlicher Ikonografie und queeren Konventionen. Und eine Rekonstruktion in elegischen Songs. Neue Traditionen werden hier geschaffen, neue Welten. Ganz schön weit draußen und doch Kommunion (kinky), Freude und Hoffnung.

Gute Freunde stehen zusammen, das gilt nicht nur im schunkelseligen Köln, das kommt auch in Brooklyn, NYC vor. Und wenn man Freunde hat wie New-Age-Legende Laraaji, House-Outlier Photay und die zwischen Jazz und Club agierenden Surya Botofasina und Will Logan, dann kann bei einem Ambient-Improvisationskonzert, wie es Carlos Niño & Friends im November 2021 gemacht haben, nicht wirklich viel schiefgehen. Live at Commend, NYC (Commend Here/RVNG Intl., 1. April) dokumentiert dieses Konzert auf eine Weise, die sofort den melancholischen Wunsch dabeigewesen, irgendwie Teil davon gewesen zu sein, auslöst. Ob es in dieser Form noch einmal passieren wird, ist fraglich, da auch der bespielte Raum nur temporär war. Immerhin, der Mitschnitt, die akustische Dokumentation tröstet immens.

Wie schön, Brooklyns guteste Hausu Mountain kommen doch immer wieder mit Ungeahntem herum. Diesmal also statt weirdem Breakbeat-Noise raffinierter Art-Pop mit Infusionen von altem Soul, mittelaltem R’n’B, und neuem Math Rock (und umgekehrt). Das gelenkige Prog-Pop-Kollektiv Erica Eso aus der Nachbarschaft lädt auf 192 (Hausu Mountain, 29. April) zur Blockparty in Kingston, NY ca. 1979 ein. Oder doch zur Abschlussparty der hiesigen Kunsthochschule ca. 1983. Oder zum veganen Jamboree in Williamsburg im Year Zero, aber in Wirklichkeit ist das alles doch extrem jetzt-gerade-gleich. Klingt jedenfalls nach wunderbar locker geflexter Anstrengung ohne Krampf oder Muskelkater. Souveräne Instrumentalisten und Stimmen, die komplizierte Songs einfach machen. Einfach spielen. Es ist sehr, sehr viel drin in diesen Songs, und es wird doch nie ausgestellt. Das Gegenteil von Hipster-Musik.

Akustisch-psychedelischer Drone-Folk mit optionalem Freakout, eine der interessantesten Quellen für alles, was mal elektronisch wurde. Und eben nicht nur Vorläuferin, sondern genauso Begleiterin und noch immer wechselwirkende Inspiration. Vor allem, wenn es mit solcher Inbrunst und Frische betrieben wird wie vom slowenischen Trio Širom. Deren jüngstes Dickbrett The Liquified Throne of Simplicity (Glitterbeat, 8. April) mäandert in gerne mal 20-minütigen Stücken zwischen vorsichtigem Plinkern, Pluckern und Dengeln auf archaischen Instrumenten, die sich verdichten zu beinahe postrockendem Noise und wieder entspannen, anspannen, Luft lassen und wieder die Decke anheben.

Dass es keinen Gegensatz geben muss zwischen Archaik und Moderne, zwischen Elektronik und Akustik, daran arbeitet der niederländische, in New York lebende Virtuose der Laute Jozef van Wissem seit mehr als 20 Jahren– was ihn unter anderem zum Hauskomponisten für die Filme von Jim Jarmusch gemacht hat. Das Instrument des späten Mittelalters und der Renaissance wird bei ihm zu einem Soundgeber des Neoklassischen bis hin zum Postrock mit einer immer deutlichen Schlagseite in Richtung Dark Folk, Gothic und mitternachtschwarzer Americana. Das adäquat biblisch betitelte Behold! I Make All Things New (Incunabulum Records, 18. März) enthält diese spezielle Dunkelheit in konzentrierter Form.

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