Auch in Zeiten des Coronavirus erscheinen Alben am laufenden Band. Da die Übersicht behalten zu wollen und die passenden Langspieler für die Club-freie Zeit zu küren, wird zum Fulltime-Job. Ein Glück, dass unser Fulltime-Job die Musik ist. Zum Ende jedes Monats stellt die Groove-Redaktion Alben der vergangenen vier Wochen vor, die unserer Meinung nach relevant waren. Im ersten Teil des Oktober-Rückblicks mit Autechre, Call Super, Eartheater und fünf weiteren Künstler*innen – wie immer in alphabetischer Reihenfolge.
Actress – Karma & Desire (Ninja Tune)
Wer den organischen Tiefen von Actress schon seit Längerem erlegen ist und sich in seiner verschwommenen, tranceartigen Ästhetik zu Hause fühlt, wird nun mit Superlativen nicht hinter dem Berg halten können. Das neue Album Karma & Desire des Briten Darren J. Cunningham ist nämlich nichts anderes als ein sensibles Meisterwerk. Von Anfang an cineastisch anmutend, nicht allein durch das Ausfaden der Songs am Ende, saugen die Produktionen in eine nebulös verhüllte Atmosphäre. Eine enigmatische Traumreise beginnt, und führt durch trübe Szenerien, die oft geheimnisumwoben verhangen bleiben, doch gleichzeitig offenlegen, dass hinter dem silbrigen Vorhang aus fragilen Melodien und wehendem Rauschen ein aufleuchtendes Begehren, eine trotzige Freiheit warten.Begleitet wird das Ganze von diversen Gästen, die ihren Beitrag zur Verdichtung des jeweiligen Klanggeschehens leisten. Ein schwebendes Piano-Motiv, das in „Reverend” exponiert wird, zieht sich so modulierend durch das komplette Album, Samphas hauchige Soul-Stimme belädt es später zusätzlich mit ohnmächtiger Schwere. Insgesamt ist die häufige Verwendung des Tasteninstrumentes auffällig, das im Anschlag immer leicht an Nils Frahms Filzklavier erinnert. Die beiden Technoballaden „Loveless” und „Turin” mit Aura T-09 betten sich da perfekt ein und bieten durch klareren Rhythmus eine willkommene Entspannung, die sonstigen intermittierenden Klanglandschaften fordern die Psyche unbewusst schon sehr. So ist beispielsweise das monumentale „Save” vielleicht der intensivste, vielschichtigste und aufregendste Ambient-Song der letzten Jahre. Auch die zwei Soundebenen, die in „Loose” zusammenknallen, nämlich dunstige Schleierwolken aus Syntheziser und Vocals und drahtige, ungestüme Drum-Eskapaden, sorgen dafür, dass sich die eigenen überreizten Nerven anfühlen, als würden sie dauerhaft senden. Der fieberhafte Rausch und aller Schwindel enden schließlich im herzerweichenden „Walking Flames”, womit eine künstlerische Konzeption abgerundet wird, die alle Strahlkraft besitzt, um auch noch nach Jahren hohe Wellen zu schlagen. Lucas Hösel
Autechre – Sign (Warp)
Die beiden Briten Rob Brown und Sean Booth fügen der perfekten Symbiose aus Label und Künstler*in mit ihrem neuen Album Sign ein weiteres Kapitel hinzu. Aber nicht nur Warp wäre ohne die beiden IDM-Avantgardisten schlichtweg undenkbar. Ihre Alben Incunabula, Amber, Tri Repetae und zahllose Singleauskopplungen sind nicht weniger als ein Stück moderne (elektronische) Musikgeschichte. Sign fühlt sich dabei nach ihrem gigantischen und höchstgradig komplexen Output der letzten Jahre wie eine persönliche Befreiung an. Autechre wandeln auf diesen elf Tracks zwar wie eh und je zwischen Genie und Wahnsinn, unendlicher Leichtigkeit und melancholischer Tiefgründigkeit; auch werden jegliche Konventionen wieder einmal gebrochen und das Zusammen- bzw. Gegenspiel zwischen bzw. aus Mensch und Maschine bis in die Extreme ausgereizt. Doch zugängliche Titel wie „si00” und „Au14” lockern, geschickt zwischen monumentalen wie mystischen Ambient-Weltwundern („F7”, „esc desc”, „r cazt”) platziert, das Gesamtbild spürbar auf und tragen mühelos durch das über 50-minütige, filigran orchestrierte Gesamtwerk aus Computer- und Maschinenfunk. Man hört übrigens, dass sich zu Sign noch dieses Jahr ein weiteres Album gesellen soll. Gute Nachrichten gibt es scheinbar also auch 2020 noch. Andreas Cevatli
Byron The Aquarius – Ambrosia (Axis Records)
Kein gutes Jahr für irgendwen, doch Byron Blaylock lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Im Gegenteil. Nachdem der Pianist und Produzent erst im Vorjahr mit Astral Traveling seine Debüt-LP unter dem Namen Byron the Aquarius vorlegte, folgten im Mai und September eine EP für Shall Not Fade sowie eine Mini-LP für Apron und nun also Ambrosia, sein innerhalb zweier Tage aufgenommenes Zweitwerk, das in enger Zusammenarbeit mit Jeff Mills für dessen Label Axis entstand. Ein größerer Kontrast zur klimatischen wie politischen Wetterlage ist kaum denkbar, denn diese zehn Songs schlagen mit jedem Klavier-Riff freudige Funken. Jede der buttrigen (Kontrabass-)Basslines kommt einer sanften Meeresbrise gleich, die verspielte Percussion zieht einen Zuckerrand über die Dinge. Blaylock changiert unmerklich zwischen jazzigem Deep House und deep-housigem Jazz, lässt seine Stücke sich langsam entfalten und bringt trotzdem die Füße zum Zucken. Ambrosia ist detailversessen, aber nicht verbissen, tiefenentspannt und doch nicht slackerhaft. Ein wohltuendes Licht am Ende des Tunnels, durch den es diesen Winter unweigerlich gehen muss und mindestens ein adäquater musikalischer Urlaubsersatz für alle, für die es in diesem Jahr nur zum inneren Exil gereicht hat. Kristoffer Cornils
Call Super – Every Mouth Teeth Missing (Incienso)
Joe Seaton war schon immer einer dieser technisch total versierten Produzenten, bei dem jeder winzige Sound bis ins Detail ausgearbeitet wird, egal wie kleinteilig das Arrangement auch sein mag. Und trotzdem wirken seine Tracks dabei so ungemein natürlich und organisch gewachsen, als würden sie sich fast von selbst spielen. Auf seinem dritten Album – dieses Mal auf Anthony Naples Incienso, beide Vorgänger erschienen auf Seatons Houndstooth – verabschiedet sich Call Super noch weiter vom Dancefloor und lässt seiner Kreativität einfach freien Lauf. Das macht Spaß, weil es immer etwas Neues zu entdecken gibt. Niemals stehen die Stücke still, dauernd passiert etwas, sprießt neues Leben hervor. Seaton hat ein beeindruckendes Geschick und Gespür für das mosaikhafte Zusammensetzen ungewöhnlicher Rhythmusstrukturen, die umeinander tanzen, sich schließlich zum großen Ganzen zusammenfinden und dann noch eine Weile wirken dürfen, bevor sie in sich zusammenfallen und es zur nächsten Idee weitergeht. Leopold Hutter
Daniel Bortz – Stay (Permanent Vacation)
Sieben Jahre Zeit hat sich der Augsburger DJ und Produzent Daniel Bortz für sein zweites Album gelassen. Und so klingt es auch: Keiner der elf Tracks erweckt den Eindruck, mit heißer Nadel gestrickt zu sein. Umgekehrt hat aber auch nichts auf Stay etwas angestrengt Getüfteltes an sich. War Patchwork Memories, sein Debütalbum für Suol, noch dem Slow-House-Trend verpflichtet, präsentiert Bortz sich hier als versatiler, gereifter Producer, der niemandem mehr etwas beweisen muss. Keine Novelty-Gimmicks, kein Avantgarde-Anflug trüben das Bild. Allenfalls mit einer Prise Acid („Holding You”), ravigen Sequenzen („You Can Stay Forever”) oder prononciertem Synthesizer-Einsatz („South Beach”, „Smells Like CK One”) wird dem Zeitgeschmack Referenz erwiesen. Ansonsten bleibt es, obwohl oder gerade weil Bortz vor recht prominenten Samples nicht zurückschreckt, beim angenehm unspektakulären, im Down- („Grind“”) und Breakbeat- („Isolation“) geerdeten Deep House. Fast hätte hier jemand old-fashioned gesagt, oder ist das schon das Mitt-Neunziger-Alex-Gopher-Revival? French House scheint auf jeden Fall eine der Inspirationsquellen für Stay gewesen zu sein. Sollte am vielzitierten Klischee vom schwierigen zweiten Album etwas dran sein, hat Bortz die Aufgabe mit großer Gelassenheit und einer guten Portion Nonchalance gelöst. Harry Schmidt
Donato Dozzy & Eva Geist – Il Quadro Di Troisi (Raster)
Wer heute von Italo-Disco labert, lutscht bei neun Grad im Regen an Aperol-Spritz-Sorbet mit Prosecco und stößt inmitten der allgemeinen Gesamtscheiße auf – hust! – La Dolce Vita an. Der letzte Urlaub in Italien war zwar 1986 mit den Eltern, der Mythos glänzt aber so beständig wie ein aufgeblasener Hustinetten-Bär im Paillettenkleid. Deshalb lässt sich der Limoncello weiterhin aufzuckern, deshalb klebt der Scheiß so gut. Donato Dozzy hat mit Andrea Noce alias Eva Geist eine Cantante an seiner Seite, die er beim gemeinsamen Philosophieren über Lebemann und Schauspiel-Star Massimo Troisi kennengelernt hat. So weit, so romantisch, aber: im nächsten Augenblick eine Italo-Schmonzette aus den Maschinen zu bügeln, um mit schwenkenden Italienflaggen beim 18-Uhr-Gathering am Raster-Gemeinschaftsbalkon die Nationalhymne anzuklatschen, hat das Innovationspotenzial von Poké-Bowls mit Avocado und Reis. Dozzy, der 2013 für die Platte Sintetizzatrice mit Anna Caragnano zusammengearbeitet und Experimente am offenen Herz der Stimme durchgeführt hat, schaufelt mit Noce lieber Piano-Geklimper über Disco-Schirmchen. Bei „Real” schlüpfen sogar Streicher in die Seidenunterwäsche. Huch, ist das jetzt geil oder gestört? Christoph Benkeser
Eartheater – Phoenix: Flames Are Dew Upon My Skin (PAN)
Bill Kouligas und sein Label PAN sind immer wieder für eine Überraschung gut. Nicht dass es außergewöhnliche wäre, dass ein neues Eartheater-Album auf PAN erscheint. Ebenso ist es nicht erstaunlich, dass die in New York lebende Künstlerin neue Songs und nicht experimentelle Tracks produziert hat. Und dennoch: Phoenix: Flames Are Dew Upon My Skin markiert eine frische, in sich gekehrte Wendung im Werk der US-Amerikanischen Musikerin, Komponistin und Performancekünstlerin. Im Mittelpunkt steht wieder, wie schon in früheren Alben wie RIP Chrysalis, die Gitarre. Als Nukleus von Songs, die keine klassischen Songs sein wollen. Als Rettungsanker für tragisch emotionale Kompositionen, die den Song nur als Schimäre ausstellen. Als Gattungsform ohne Form. Man könnte alles als träumerisch modernen Folk bezeichnen, der Ambient, Shoegaze und zittrige Elektronik sowie Klassik vereint, ohne jemals einem Stil Eindeutigkeit zu gewähren. Über allem steht Pop. Ganz groß. Mit viel Melancholie ausgemalt. Vielleicht die größte Pop-Platte, die PAN je veröffentlicht hat. Feminin, digital und dann doch wieder so Lagerfeuer. Alles in Isolation selbstkomponiert, während eines Künstlerstipendiums in Saragossa, Spanien. Später aufgenommen allein und mit der Hilfe von Freund*innen wie dem beachtenswerten New Yorker Duo LEYA, die sensibles Camp-Harfen- und Violinenspiel beisteuerten. Für die leisen orchestralen Momente schrieb Eartheater zudem Violinenpassagen, die vom spanischen Ensemble de Cámara eingespielt wurden. All das verwebt sie minimal mit ihrem Gesang und kreiert so eine durchgehend intime Stimmung, die ihre zwischen opernhafter Höhe und samtiger Tiefe schwingende Stimme bestimmt. Das wundersame an Phoenix: Flames Are Dew Upon My Skin ist aber, dass das Album schnell Vertrauen aufbaut. Auch bei Geschmäckern, denen allzu artifizieller Pop nicht behagt. Stets vorausgesetzt, dass dem Album eine aufmerksame Chance gewährt wird. Denn nur dann entsteht eine Freundschaft mit Eartheaters sensibel-offener Künstlerseele, die sich hier trotz artifizieller Verpackung sehr apodiktisch entriegelt. Michael Leuffen
Fiesta Soundsystem – Rites Of Passage (Shall Not Fade)
Seit den Zehnerjahren wird der 90s-Breakbeat-Sound immer wieder neu entdeckt. Während man zunächst die Hardcore-Ära neu in Szene setzte, ist man inzwischen bei Drum & Bass gelandet. Also bei Drum & Bass, so wie Drum & Bass einmal war; mit gesampleten Drumsounds, das heißt in Opposition zu den teilweise hyperfunktionalen Tracks der Gegenwart mit ihren hyperdigitalen Beats. Das wäre auch der Ansatz von Fiesta Soundsystem, einem Projekt aus London, hinter dem ein Produzent steckt, der sich einfach Jack nennt. Wie so viele andere drückt der dabei meist ganz ordentlich auf die BPM-Bremse, ansonsten grummeln in seinen eher abgespeckt daherkommenden Stücken natürlich nach Herzenslust die Reese-Basslines. Dabei erfindet der Londoner allerdings so rein gar nichts neu. Man könnte sogar in den Raum werfen, dass die zehn Tracks auf seinem ersten Album wie Photek ohne Raffinesse klingen. Oder wie Doc Scott ohne Killer-Punch. Oder wie einst eine Downbeat-Compilation auf LTJ Bukems Label Good Looking. Rites of Passage ist ein Album, das man wirklich gut durchhören kann – weil es wunderbar nebenher läuft. Holger Klein