Woche für Woche füllen sich die Crates mit neuen Platten. Da die Übersicht behalten zu wollen, wird zum Fulltime-Job. Ein Glück, dass unser Fulltime-Job die Musik ist. Zum Ende jedes Monats stellt die Groove-Redaktion Alben der vergangenen vier Wochen vor, die unserer Meinung nach relevant waren. Dieses Mal mit Catnapp, Jeff Mills, Young Marco und 7 weiteren Künstler*innen – wie immer in alphabetischer Reihenfolge.
Antwood – Delphi (Planet Mu)
Für sein drittes Album hat Tristan Douglas alias Antwood gemeinsam mit seiner Freundin Olivia Dreisinger einen fiktionalen Charakter ersonnen: die titelgebende Delphi. Sie symbolisiert die Hürden und Probleme, mit denen es moderne Liebende und nicht zuletzt Douglas selbst aufnehmen müssen. Sie wird auf dem Album durch eine wiederkehrende Melodie repräsentiert. Soweit das Konzept, aber wie klingt das? Wie schon auf seinen beiden vorhergehenden Alben schöpft Antwood aus einem Füllhorn an Musikstilen: das reicht von modern interpretiertem Electro – „Club Dread” geht als veritabler Clubhit durch – bis zu kontemporärem, instrumentalem Grime – der mittlerweile ja weitaus näher an Electronica und IDM ist als an HipHop – und Juke, Bass, Ambient oder moderner Klassik. Da treffen dann Tracks, die von Dreisingers Stimme dominiert werden und an Laurie Anderson oder Solostücke von Bongwaters Ann Magnuson erinnern, auf melancholische Piano-Miniaturen, markerschütternde Bässe oder sich endlos steigernde Trance-Arpeggios. Das alles freilich ohne beliebig oder per Zufall zusammengewürfelt zu klingen, sondern vielmehr wie eine sich logisch entwickelnde aurale Geschichte. Die Geschichte von Delphi eben. Tim Lorenz
Catnapp – Break (Monkeytown)
Und jetzt das Kinderlied: Was hämmert so spät durch Nacht und Klub? Das ist die Catnapp mit ihrem Sub! Die argentinische Wahlberlinerin Amparo Battiglia manifestiert auf ihrem Debütalbum auf Modeselektors Monkeytown ihren Ruf als Sound-Outlaw. Hart, frontal, brutal. Catnapp zehrt auch weiterhin von einer wilden Mischung aus Break- und Big Beat, Hardcore und Drum & Bass, sowie Rap und Post-Internet-Sound.Die anfänglich betonten Sub-Frequenzen sind damit auch bloß das Fundament, auf dem sich ganz viel Treble-Trouble breit machen darf. Hier rasseln die Snares in bester Trap-Manier, dort kicken die Drums nicht in die Eingeweide, sondern geflissentlich zwischen die Beine. Wenn man es nicht wüsste, dann könnte man auch einfach raushören, dass Catnapp bis heute Veteranen wie The Prodigy als Einflussquelle nutzt. Gleichzeitig klingt Break nicht abgeschmackt, sondern ziemlich frisch. Die heavy-distorted Shouts erinnern gleichwohl auch an den Electropunk der Nuller, werden dann wiederum konterkariert vom mysteriös-infantilen Sprechgesang. Man merkt: Auch bei dem Neuling Break ist es gar nicht so einfach, einzufangen, was alles passiert. Sollte aber nicht abschrecken, sondern zum wiederholten Ein- und Auflegen einladen. Lars Fleischmann
Clark – Kiri Variations (Throttle Records)
Man könnte meinen, der Neoklassik-Schlafwagen sei mittlerweile abgefahren. Die Leute stampfen in Clubs doch lieber wieder zu ausgenudelten Platten aus den Neunzigern, als sich von Richter’schen Serenaden in selbstgebastelten Traumwelten einlullen zu lassen. Und dann platzt Chris Clark mit seinem neuen Album in die Chill Out-Lounge und alle fallen sich auf den mitgebrachten Schlafkissen in die Arme. Aber Moment mal! War Clark nicht der gerissene Typ, der Warp Records in den Nullerjahren von den Ketten der eigenen Vergangenheit löste, indem er nicht wie ein verkopfter Aphex Twin-Epigone den 228. Versuch unternahm, das aufgewärmte Selected Ambient Works als neuen heißen Scheiß zu verchecken? Eben! Clark steckte die Grenzen des Machbaren mit Bums, Barock und Brimborium lieber selbst ab. Deshalb war er auch so gut. Mit Kiri Variations, der neuen Scheibe, die der in Berlin lebende Künstler auf seinem eigenen Label Throttle veröffentlicht, sieht die Sache ein wenig anders aus. Es ist ein Album, das eigentlich keines ist, sondern der Soundtrack zu einer Serie, die in Deutschland nur in Binge-Watcher-Kreisen ein Begriff ist: Kiri. Das darf man wissen, wenn man den 14 Skizzen lauscht. Denn anders als mit dem 2017 erschienenen Soundtrackdebüt für The Last Panthers kratzt Clark mit Kiri gerade mal an der shiny Oberfläche seines eigenen Klangapparats. Gut, er meinte in einem Interview selbst, dass das Album eher als Skelett neuer Ideen zu verstehen sei. Warum es also nicht als Serienmusik benutzen? Weil die Musik in den vier Episoden (anscheinend absichtlich) nur sehr sparsam vorkam. War also genug da, um noch ein Album rauszuquetschen und das Ganze als „kurzweiliges Erlebnis” zu framen. Capitalism strikes! Teilweise hören sich die Stücke an, als hätte sich Clark im Spiegelsaal von Versailles hinter den Flügel geklemmt und an Bachs Sonaten abgerackert, nebenbei die eigene Stimme entdeckt, ein bisschen ins Mikro gehaucht, um mit der freien Hand am Cello rumzufiedeln. Klar, kann man machen. Hört sich ja auch alles pipifein an. Nur so abgekapselt von der Serie, als eigenständiges Ding, funktioniert das halt nur so lala. Christoph Benkeser
Gladio – Means To Freedom (L.I.E.S.)
Im Schnitt erfindet Danny Wolfers mehr als ein Alias pro Jahr, um seinen scheinbar endlosen Ideenreichtum zu kanalisieren. Nicht alles davon kann er als Legowelt unter die Leute bringen. Acid Techno und Outsider House, Psybient und Electro-Disco, progressive Synthesizermusik und substanzschwangerer Clubsoundtrack kommen bei dem Holländer in immer wieder anderer Dosierung zum Einsatz. Unter mittlerweile fast 40 Pseudonymen feuert er via Labels wie Clone und Crème Organization oder seinen eigenen Imprints Strange Life und Nightwind Records ohne Unterlass Produktionen mit gänzlich eigener Handschrift durch die europäische Clublandschaft – seit über zwei Dekaden. Neben den eher aktiven Accounts Legowelt, Franz Falckenhaus, Smackos oder Occult Orientated Crime gibt es da auch immer noch weniger bekannte Namen wie Klaus Weltman, Venom 18, Polarius, Squadra Blanco oder Gladio. Letzteres steht im Italienischen für das Kurzschwert der antiken Gladiatoren, was wohl nur über die scharf gelaserten Synth-Arpeggien und muskulös wummernden Bässe mit dem nun auf L.I.E.S. erschienenen Debüt Means To Freedom in Verbindung zu bringen ist. Dass sich der Gladio-Sound nach den schon mehr als zehn Jahre alten EPs Slave Of Rome und Hadrian’s Wall noch mal aufpäppeln ließe und im Club unheimlich tanzwütig macht, war so nicht zu erwarten, wurde aber auf den Release-Partys zum Album offenkundig. Tracks wie das Intro „Of Hyperborea”, das mystische „Temple Of Pervesius“ oder die Amiga-Atmo von „Fist Of Gladio” bestechen auch unterm Kopfhörer mit einer gewissen Fitness und Knusprigkeit. Dieser Sound bleibt auch deshalb so eigen, weil Wolfers seine Samples eigenhändig einspielt, schneidet und nicht selten durch Analogisierung verfremdet. Nils Schlechtriemen
Jeff Mills – Moon: The Area Of Influence (Axis)
Jeff Mills will die Erde verlassen und wer könnte es ihm verübeln. Einmal zum Mond und zurück, einmal diese Entfernungen auch nur im Entferntesten verinnerlichen, die da jede Nacht am Himmel sichtbar werden – das rückt der Technosoph mit Moon – The Area Of Influence zumindest in den Bereich des Hörbaren. Viele der (bio)physikalischen Prägungen, die unser Trabant mit seiner Gravitation auf der Erde und in ihrer Bewegung hinterlässt, sind messbar und als wissenschaftlicher Fakt dokumentiert. Er stabilisiert die taumelnde Planetenachse, steuert die Gezeiten und in vielerlei Hinsicht unsere Schlaf-Wach-Zyklen, hat aber schon durch seine bloße Strahlkraft unzählige Auswirkungen auf Flora und Fauna, ohne unserer Welt je seine dunkle Seite zu zeigen. Hervorragendes Konzeptmaterial also für Mills, der neben Seeschildkröten und Einstundenmücken unter den feinfühligsten irdischen Lebensformen rangiert, für die der Mond taktgebend ist. Schon auf The Messenger, den visionären Vertonungen von Fritz Langs „Woman In The Moon“ und Georges Méliès’ „Le Voyage Dans La Lune”, setzte er sich mit unserem nächsten stellaren Sehnsuchtsort im Rahmen extravaganter Sci-Fi-Plots auseinander, die aus der Literatur und Filmgeschichte, aber auch aus Träumen stammten. Anlässlich des 50. Geburtstages der Mondlandung vom 20. Juli 1969 ist Moon – The Area Of Influence auf das fokussiert, was dieser hypnotisch strahlende Ball mit uns als denkenden, fühlenden Lebewesen macht. Die futuristische Soundpalette wird dafür weit aufgefächert und manifestiert sich im weit weg träumenden Ambient Techno von „The Tides” oder dem bedrohlich bleependen Aufbäumen eines „Lunar Power” umwerfend klar, kühl, kontrolliert. Hier sitzt jede Kick, jedes Pad, jedes Anfluten und Abebben. Dass dabei vom besten Wizard-Material seit Emerging Crystal Universe die Rede sein könnte, ist auch der sorgsamen Balance von pulsierenden und Ambient-esken Tracks während dieser gut 67 Minuten zu verdanken. Gerade total untanzbaren Skulpturen, wie das entrückte Intro „Control, Sattva And Rama”, die irisierenden „Peaks Of Eternal Light” oder das finale „Absolute”, geben dem Album im Verlauf eine bemerkenswert cineastische Qualität. Unterm Strich also wieder viel Faszination für den Kosmos in Klang und Konzept, vom Axis-Gründer routiniert realisiert. Nils Schlechtriemen
Lamin Fofana – Black Metamorphosis (Sci Fi & Fantasy)
Wenn jemand sein Album mit dem Titel „I Am Your Question” beginnt, ist er entweder sehr selbstbewusst oder hat vor allem ein ernsthaftes Anliegen. Für den Produzenten Lamin Fofana, der in Sierra Leone geboren ist und nach Stationen in Guinea und den USA inzwischen in Berlin lebt, spielen Fragen von Migration und Fremdsein auch in seiner Musik stets eine Rolle. Der Eröffnungstrack seines Albums Black Metamorphosis ist dabei keine didaktische Übung, sondern ein abstrakt-melancholischer Ambient-Track, in dem eine silbrig verfremdete Stimme immer wieder den Satz I am here spricht. Die Abstraktion setzt sich auch in Nummern wie „Dawn” fort, die an die kaputtesten Momente etwa von Actress denken lässt, mit Beats und Sounds, die wie Spurenelemente ihrer selbst wirken. Die Klänge und Stimmungen bewegen sich immer wieder in einer Spannung zwischen Verlorenheit, Sehnsucht nach Wärme und Verlust, etwa in den flächigen, wie ihrem eigenen Schicksal überlassenen Klängen von „Sono”. Nicht alle Tracks wahren eine einheitliche Atmosphäre. In „Enchantment” will der Synthesizer immer wieder aus den ruhigen Strukturen ausbrechen, fällt am Ende jedoch in sie zurück. Anders als auf seiner Platte Brancusi Sculpting Beyonce verzichtet Lamin Fofana diesmal auf harsche Effekte oder tanzbaren Beat. Es ist eine rätselhafte Musik, die beim Hören stets genug Raum zum Denken lässt. Tim Caspar Boehme
Rod Modell – Captagon (Tresor)
Sommer, Sonne, Dub Techno. Der Sound, bei dem man druff und nach drei durchgeschwitzten Nächten immer noch alles checkt, weil die Hüll-mich-fest-in-einen-Hauch-aus-Hall-Akkorde nur einsam rumtröpfeln und jeder Aufmerksamkeitsstörung mit rot gerahmten Augen entgegenspringen. Rod Modell, der Deepchord-Dude, zwirbelt seit über 20 Jahren an seinem Gerätepark herum und hat so ziemlich alle Facetten von Dub und Techno schon einmal ausgereizt – denkste! Schließlich wäre Modell nicht der Pfeife rauchende Wolfgang Voigt aus Detroit, würde er den Zauberberg nicht regelmäßig auf neuen Routen besteigen. Im Nebel, ohne Seil, free solo! Captagon, sein Debüt auf Tresor, schmeißt der Dub-Engel aus Motor-City unter seinem eigenen Namen raus. Da kippt einem vor Verwunderung die Kinnlade runter, taugten doch Rod Modell-Scheiben in der Vergangenheit eher als Ambient für Psychonauten im fortgeschrittenen Achtsamkeitsstadium. Sinneswandel oder schizoide Sound-Tendenzen – eine verknackst vor sich hin rauschende Deepchord-Platte ist Captagon aber auch nicht geworden. Dafür treiben die Stücke mit ihren locker-lässig aus der Hüfte geschossenen 150 Beats pro Minute zu sehr an. Ganz schön gewagt, die ganzen Couchkrieger*innen mit Gabber-Light aus ihren Haremshosen zu schütteln. Dabei ist der Zinnober doch eigentlich ganz zahm. Wir reden hier immer noch von Dub Techno! Und da wummert in der gähnenden Leere immer ganz schön viel rum. Zumindest bei Rod Modell. Christoph Benkeser
Scan 7 – Between Worlds (Deeptrax)
Der schnelle, loopige, von den Rhythmen getriebene Techno von Scan 7 kommt ohne den ideologischen und melodischen Überbau der meisten Kollegen aus Detroit aus. 1996 und 1999 veröffentlichte das Musikerkollektiv um Lou Robinson zwei Alben auf Tresor Records. Erst 20 Jahre später erscheint ihr drittes Album bei Deeptrax aus Holland. Between Worlds ist kleinteilig und ruhelos wie die ersten beiden LPs, aber stilistisch wesentlich variabler. Mit Streichern nach vorne preschend geht es bei „Stringing Me Along” los, zwielichtig detroitig weiter mit „No Place Like Home”. „A Wonder Of Space” zeigt die besondere Stärke des Albums. Überraschenderweise gelingt es Scan 7, ihre rhythmische Matrix auch zu heimeligem Ambient-Techno zu verarbeiten. Daneben finden sich auf dem Album Banger wie „I’m Covered” oder „Moments Like This”, bei denen sich die harten Beats mit verträumten Synths verbinden. Der Futurismus der Alben aus den Neunzigern weicht hier einem breitgefächerten Mix aus Samples. „Deep Roots” schlägt jazzige Klaviertöne an, „Shadow Spirit” beweist, dass Scan 7 auch loungig-entspannt können. So funktioniert die Musik von Scan 7 zugleich als Begleiter beim Spazieren mit Kopfhörern, beim Wegdösen in der Horizontalen oder intensiven Tanzen. Lutz Vössing
Unknown Mobile – Daucile Moon (Pacific Rhythm)
Eines der schönsten Sommeralben dieser Saison kommt vom kanadischen Producer Levi Bruce, der als Unknown Mobile mit Chime, Flowers & Fountain Cures bereits ein Tape-Album in Miniauflage und eine Handvoll EPs auf Labels wie No Bad Days, Normals Welcome and Young Adults zu Buche stehen hat. Für Daucile Moon hat Bruce MIDI-Files eines alten GeoCities-Archives gehoben und einem analog-digitalen Wandlungsprozess unterzogen. Ob das Ergebnis nun unter New Age, Techno oder Trance einsortiert werden sollte – Balearic Ambient trifft es wohl noch am besten –, ist eher zweitrangig. Wichtiger ist die durchgehende Qualität der acht Tracks, ihre warme, zugewandte Musikalität. Ursprünglich unter dem Arbeitstitel Melancholic Songs For Dogs entstanden, waren die Eltern und beide Großmütter von Bruce die ersten Hörer*innen dieser Musik, so die Legende. Das mag stimmen oder nicht – dem Gefühl, mit Unknown Mobiles Pacific Rhythm-Debüt ein überaus persönliches Album vorliegen zu haben, entspricht die Story jedenfalls perfekt. Wie auf Midori Takadas Ambient-Klassiker Through The Looking Glass oder Gigi Masins Wind gleiten Minimal und World Music hier organisch ineinander und spätestens die smoothen Gitarrensounds, die Mike Silver alias CFCF auf drei dieser wundervoll relaxten Tracks beisteuert, werfen die Frage auf, wie es sein kann, dass International Feel-CEO Mark Barrott sich die Rechte an dieser zurückhaltenden, im Verborgenen umso anziehender aufblühenden Schönheit entgehen lassen konnte. Bis jetzt nur digital und als MC erhältlich: Pacific Rhythm, wir brauchen ein Vinyl! Harry Schmidt
Young Marco – Bahasa (Island Of The Gods)
Marco Sterk aus Amsterdam hat in knapp zehn Jahren vor allem mit seinem schalkhaften Witz reüssiert. Deepness und ein Verständnis von House als Spielplatz schwangen auch immer mit. Bahasa überrascht angesichts dieser Bio. Denn mit diesem Album entlässt der gefragte Remixer eine Reihe ernsthafter Electronica-Tracks in die Welt. „Bahasa” bedeutet in vielen Sprachen Süd- und Südost-Asiens „Sprache”, und besonders Rituale des Buddhismus bauen hier die Datenbank des Klangmaterials: Glöckchen, Glocken, Obertongesang. Sie schimmern wie Mandelbrod-Fraktale in neuen Farben und beliefern Tracks wie „Temple On A Road”, „Sacred Spaces”, „Time Before Time”. Und es klappt. Beim Spielen mit verwehten Cheapo-Synthies und klassischen Ambient-Tricks macht Young Marco hier eine wunder-deepe Musik ohne Vierviertel-Beat. Christoph Braun