Agonis – Neutropia (Amenthia)

Agonis – Neutropia (Amenthia)

Der Schweizer Agonis veröffentlicht seit 2015 vor allem auf dem Label Amenthia Recordings, das er zusammen mit Garçon betreibt, beide gehören zur Posse des Baseler Clubs Elysia, und mit Neutropia legt er nun sein erstes Album vor. So spärlich wie die Informationen im Netz über ihn, so reduziert arrangiert stellt sich auch seine Musik dar. Agonis konzentriert sich in jedem Track auf dessen jeweilige stilistische und Song-spezifische Essenz, egal, ob es um dubbige Downtempo-, Ambient- oder Breakbeat-Tracks geht. Er baut aus wenigen Elementen Stücke, die nichts vermissen lassen, denen dieser gewisse Minimalismus aber nicht vordergründig anzuhören ist. Jedoch lässt die Luftigkeit, die den Stücken innewohnt, Raum für Assoziation und entfaltet gerade bei großer Lautstärke eine besondere Qualität. Nicht umsonst ist im Infotext zur Doppel-LP von „50 Minuten lysergischer Experimente” die Rede – trippig wirkt Neutropia auch schon in komplett nüchternem Zustand. Besonders gut entfaltet sich diese Formel in den beiden schnellsten Stücken des Albums: Das eigentümlich betitelte „0-Future (ㅋㅋㅋ)” hangelt sich aus einem fragilen Anfang in einen geraden Groove jenseits der 140 BPM, den man, ähnlich wie in schnellen Dub-Tracks, auch als Halftime-Beat auffassen kann. Ansonsten greift es nicht auf platt ableitbare Versatzstücke zurück, sondern kombiniert synthetische Groove-Elemente und wenige Sound-Schlieren mit einem Synthie-Bass, der sich etwa zur Hälfte des Stücks zu einer kurzzeitigen auralen Acid-Skulptur aufwölbt und auch im weiteren Verlauf immer wieder abrupte Filterfahrten erlebt, die einzusetzen sich Produzent*innen nur höchst selten trauen. Im fast schon krautrockigen „King Cobra Not Happy” debattiert wiederum ein Bleep- und Blubbersynth-Stammtisch über ähnlich schnelle Beats, und wenn nach knappen drei Minuten schon wieder alles vorbei ist, steht nur ein Wunsch im Raum: Da capo! Mathias Schaffhäuser

Dima Pantyushin & Sasha Lipsky – Peshekhod (Beats in Space)

Dima Pantyushin & Sasha Lispky – Peshekhod (Beats in Space)

Dima Pantyushin und Sasha Lipsky sind Passanten ihrer eigenen Klanggebilde. So zumindest suggeriert es der Titel ihres Debütalbums – Peshekhod, das sich aus dem Russischen als Fußgänger oder Passant übersetzen lässt. Wie im Vorbeigehen aufgeschnappt, inkorporieren die Moskauer allerhand Geräusche, von Kinderlachen über Taubengurren bis hin zu perkussivem Gerassel, in ihren federweichen Synth-Pop. Pantyushin und Lipsky weben ihre Geschichten über das alltägliche Großstadtleben in ein konsequent pastelliges Klangbild ein. Schon der erste Track, „Promenade”, setzt Thema und Farbe des Albums: In der Zuckerwatte-Welt der beiden Russen hüpfen verspielte Synthmelodien auf plüschigen Wolken herum. Der daraus resultierende Synth-Pop ist mit etwas Fiebertraum-Attitüde in einer LoFi-Ästhetik verpackt.

Trotzdem versinkt das Album nicht in einem Marshmellow-artigen Einheitsbrei. Je mehr Zeit man Peshekhod gibt, desto mehr Facetten erreichen die Ohren. Mit Ideenreichtum spielen Pantyushin und Lipsky mit verschiedenen Klangtexturen und Field Recordings. 80er-Anleihen paaren sich mit einer Glockenmelodie bei „Changes”, das Raum zum Tanzen gibt und gleichzeitig an fernes Kirchenläuten an einem Sonntagspaziergang erinnert. Bei „Pigeon” gibt das Gurren jener Vögel das Grundgerüst des Tracks, das noch von Beatboxing, ähnlich wie das Gegacker von Hühnern, untermauert wird. Und mit einem Augenzwinkern versehen klingt „Nature” nach Tingel-Tangel-Musik eines Karussells, wie man es vielleicht noch aus den 1950ern kennen würde. An einigen Stellen gelingt es den beiden sogar mit der Absurdität ihrer Klangpaarungen ein kleines Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Und auch wenn man ihr Debüt astreiner Pop ist, gibt es genug Dreidimensionalität und Detailreichtum, dass es nicht bis zur Farblosigkeit abgeschliffen klingt. Der schwebend-fluffige Dream-Pop von Peshekhod erzeugt Tagträume so sehr, wie er aus diesen während eines Gangs durch Moskau entstanden klingt. Louisa Neitz

DJ Surgeles – Triglav (Axis)

DJ Surgeles – Triglav (Axis)

Großer, manischer Preacher – das zweite Axis-Album des niederländischen Techno-Produzenten Kole Leijen alias DJ Surgeles. Auf gesamter Länge Science-Fiction-Detroit-Techno-Fieber durch und durch. Obwohl nicht wirklich neu in Sachen Zutaten, klingt Triglav ungemein futuristisch. Was die Frage aufwirft, wieso ein sich im Kern nicht verändernder Techno-Ansatz bis heute so unmissverständlich nach stellarer Zukunfts-Utopie klingt? Es wird wohl unerklärlich bleiben. In ihm tanzen bleepende Klänge mit gelegentlichem Industrial-Schleier. Dazu nervös hohe BPM-Schlagzahlen. DJ Surgeles beherrscht das Axis-Techno-Vokabular perfekt. Kaum zu glauben, dass er seine musikalischen Zukunftswelten im beschaulichen Städtchen Alkmaar in der Provinz Nordholland produziert. Aber nah am Meer leuchtet das Himmelsgewölbe zuweilen besonders deutlich. Surgeles hat sein Handwerk alerdings vor allem als eifriger Studioarbeiter und nicht als Weltraumbeobachter geformt.

Seit Anfang der 2000er veröffentlicht er beständig Alben und Maxis auf Labels wie Diffuse Reality aus Barcelona, Evot Limited aus Italien, seinem eigenen Imprint U.F.F Records und Axis sowie dessen Sublabel Something In The Sky. Mit jeder neuen Veröffentlichung kommt er näher an die faszinierende Techno-Handschrift eines Jeff Mills heran. Kein Wunder also, dass dieser ihn protegiert. Zum Album hat DJ Surgeles auch eine kleine Geschichte verfasst. Darin heißt es: „The exploration craft Isis001, a spaceship sent by humanity, has crashed into the unknown world of Triglav, with one of the most important discoveries in galactic history. Below, a handful of humans fight an armed group of outsiders and the entire hostile planet to protect the secret – the fate of the Triglavs, the legendary first species to show wisdom in the stars.” Deren Schicksal lässt sich perfekt durch Sci-Fi-Techno-Suspense beschützen, die ebenso auf jede Party wie ein Teilchenbeschleuniger wirkt. Einziger Wehrmutstropfen: wer Triglav schön laut durchhört, wird sich schwer nach einer langen, verschwitzten Clubnacht sehnen! Michael Leuffen

·

Floating Points X Pharoah Sanders X LSO – Promises (Luaka Bop)

Floating Points X Pharoah Sanders X LSO – Promises (Luaka Bop)

LSO bedeutet hier: London Symphonic Orchestra. Dazu noch der kitschige Titel Promises, da fährt der und dem Musik-Aficionado doch der Schreck in die Knochen! Ist das jetzt Breakbeat meets Jazz meets Classic im großen Format für die ganz überwältigenden Emotionen, das Stadion-Gefühl für Dahoam? Die Musik setzt ein, langsam, zärtlich, ganz privat. Ohne Zaudern jedoch. Denn was als Allererstes tönt, das gibt sich im Laufe der neun, lediglich mit den Zahlen von 1 bis 9 betitelten Tracks als Grundmotiv zu erkennen.

Ein melancholisches Glockenspiel-Ding, das nach dem menschlichen Schicksal klingt: Kann denken in metaphysische Höhen, ist beschränkt durch die Bedürfnisse des Säugetiers. Es wird im Laufe der 45 Minuten betrötet vom Seeleninnigsten aller Saxophonist*innen, dem mittlerweile 80-jährigen Pharoah Sanders, der es hörbar locker nimmt und über das Thema improvisiert mit buttrigem Gebläse. Ab „2” gesellen sich die Streichinstrumente der Symphonie hinzu, sie gehen ins leicht Dissonante, wobei diese Dissonanz allerdings eine ist, die wir längst alle kennen aus Filmmusiken. Die Beteiligten bleiben bei einer Sprache der Nähe, sind nah am Mikrofon, halten sich diszipliniert.
Es läuft dann so weiter, immer und immer wieder das eine Motiv, und Sam Shepherd alias Floating Points, der all das komponiert hat, greift zu Buchlas und ARPs und Therevox-Geräten. Kommt es wie in „5” oder „8” mal zu einem Harmoniewechsel, dann wirkt der wie ein Ereignis. Insgesamt ist Promises ein Das-Beste-draus-machen in einer Situation der Beschränkung. In der leben Pharoah Sanders, Sam Shepherd, das Londoner Symphonieorchester und die deutschsprachigen Leser*innen. Und so wird Promises zum Zeitdokument. Christoph Braun

Gabber Modus Operandi – PUXXXIMAXXX (Danse Noire)

Gabber Modus Operandi – PUXXXIMAXXX (Danse Noire)

Wenn die eigene Heimat fremd wird, weil nie enden wollende Tourist*innenenschwärme sogar den letzten Winkel deines Zuhauses, nämlich der indonesischen Trauminsel Bali, für sich beanspruchen und der einheimischen Kultur und deren Einwohner*innen das letzte Bisschen Luft zum Atmen rauben, bleibt nur, sich in das vom Staat geförderte System zu fügen – oder gegen den an Kolonialismus grenzenden Irrsinn anzukämpfen und sich seine Kultur zurückzuerobern! Von ihrer eigenen Regierung im Stich gelassen und sabotiert, weil ihre Ideen und Veranstaltungen Rebellion gegen die ordentlich gefaltete westliche Reisebroschüre bedeuten, entschieden sich Harem und DJ Kasimyn, sich nicht der Konformität des Mainstream-Beach-House-Nightlifes mit buntem Cocktailschirmchen zu ergeben, sondern ihr eigenes Ding zu machen. Den Stecker ziehen, wie es bei Arte Tracks buchstäblich zu sehen war, lassen sich Gabber Modus Operandi nämlich nicht. Ihr erstes Album PUXXXIMAXXX wurde jetzt von Danse Noir verdientermaßen neu in Schale geworfen und wieder ins Rampenlicht geschoben. Wenn man sich die LP anhört, wird auch schnell klar, weshalb die Arbeit dieser beiden Künstler der Regierung ein Dorn im Auge ist. Das Album hat mit seichter Clubmusik im Viervierteltakt ungefähr so viel gemein, wie Alfred Sauter und Georg Nüßlein (beide CSU) mit uneigennütziger Arbeit für Bürgerinnen und Bürger in außergewöhnlichen Krisenzeiten. Cutting-Edge-Breakcore-Beats treffen bei der einen Nummer auf Gamelan, schon im nächsten Track kreischen Neo-Trance-Synthesizer und werden von traditionellen Folkinstrumenten begleitet. Fusion zweier Welten für die Kids der Meme-Generation. Oder wie GMO kurz sagen: „If you think we’re doing ritualistic stuff, we’re not. We are around that area, but we also listen to the Prodigy.” Und das fasst es perfekt zusammen. Gleichzeitig tiefgründig und doch auch so verdammt hardcore. Andreas Cevatli

Guedra Guedra – Vexillology (On The Corner Records)

Guedra Guedra – Vexillology (On The Corner Records)

Der Ansatz, nordafrikanische Perkussion mit Elementen „westlicher” Clubmusik zu kombinieren, ist an sich keine ganz neue Sache. Doch der Produzent Abdellah M. Hassak aus Casablanca rührt auf seinem Debütalbum als Guedra Guedra marokkanische Traditionen in Sample-Gestalt sehr konsequent mit Footwork-Rhythmen zu einem stark explosiven Gemisch zusammen, das einfach sitzt. Im vergangenen Jahr hatte er die geneigte Öffentlichkeit mit lediglich zwei EPs auf die kommenden Ereignisse vorbereitet, sodass man Vexillology, nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Platte von Deadmau5, durchaus als erste große Überraschung des Jahres begrüßen kann. Guedra Guedra betreibt seine Flaggenkunde mit synkopiertem Hochgeschwindigkeits-Beat und bei Bedarf hochgepitchtem, vierteltönigen Gesang. Wo es ihm angezeigt erscheint, darf auch das Lied eines Vogels (Amsel?) erklingen. Damit sollen weniger Grenzen markiert als Differenzen ausgelotet werden. Keine stur abgespulte Formel mithin, was Guedra Guedra erkundet. Seine zerhackten Zutaten bleiben bis zum Ende, nun, frisch. Tim Caspar Boehme

Irakli – Major Signals (Dial)

Irakli – Major Signals (Dial)

Den Namen Irakli assoziieren manche vielleicht mit STAUB – dem Label und der Partyreihe, die damals im about://blank stattfand –, möglicherweise auch mit den Namen I/Y und Intergalactic Research Institute for Sound; oder mit ganz persönlichen, mannigfaltigen Erinnerungen an seine DJ-Sets. Nun veröffentlicht Irakli sein Debütalbum auf Dial Records. Major Signals heißt die Platte und besticht durch eine ganz eigentümliche, sich durch alle elf Tracks des Albums ziehende Tonalität. Eine verstörende, unbehagliche, sich entziehende Stimmung liegt darin: dissonante Spiegelnadeln, die fein und subtil durch den eigentlich übersichtlichen Raum nieseln, Unklarheiten stiften, bisweilen eingefangen und beruhigt werden durch plastische Modulierungen und geerdet immer nur von den stets organisch bleibenden Drums und Hi-Hats. Die in ihrer Anzahl recht überschaubaren Objekte dieser Welt haben zunächst klar definierte Konturen, die sich gegeneinander – auch im Delay noch – deutlich abgrenzen. Die Widersprüchlichkeit, das irre und komplexe Durcheinander, die bisweilen leichte Aggression und düstere Purzelei entsteht vor allem durch das sequenzielle Zusammenspiel, durch Anordnung und Klangfarbe.

Einige Tracks verdienen ein paar zusätzliche Sätze: Im Titeltrack blubbern die atonalen Diffusionen nach oben und werden hinterrücks von einem fast housigen Pad unterstützt, das Verwirrung dahingehend stiftet, ob hier An- oder Entspannung angesagt ist. In „OP9” befinden wir uns mitten in einem breiigen Insektenschwarm, während die spitzen, hellen Töne, die an Colundi-Sequenzen von Perälä erinnern (höre auch in „Surface”), hypnotisch durch den Nacktscanner leiten. Doch dann abermals diese Placebo-housigen Pads, und wieder stehen wir am Ende verstört da. In „Circles” wird es nochmal düsterer: Am Boden und im Äther schleichen und blubbern dunkle Artefakte, dazu ein sich verselbstständigendes Piano, das auf dem Weg zur Selbstauflösung wilde Kaskaden ausspuckt. Das ist richtig böse. „Black Windows” bringt dann einen subtilen Cut. Die Stimmung wird klarer und melancholischere, ernstere Facetten dominieren. Die einzelnen Tracks variieren in ihrer Qualität schon etwas, hört man das Ganze aber als Album, kommt der Vibe echt gut rüber. Moritz Hoffmann

Vorheriger ArtikelBIGO Live: Helft Straßenkünstler*innen durch die Pandemie
Nächster ArtikelBerlin: Modellprojekt zur Öffnung des Kulturbetriebs gestoppt