Mouse on Mars – AAI (Thrill Jockey)

Mouse on Mars - AAI (Thrill Jockey)

Was würde eine Maschine sagen, wenn sie frei und selbstbewusst reden könnte? Mouse on Mars imaginieren mit AAI (Anarchic Artificial Intelligence) die Entstehung einer sprechenden Maschine und die Zukunft künstlicher Intelligenz. Das Programmiererkollektiv Birds on Mars schrieb eine Software, die Sprache in Parametern wie Geschwindigkeit, Tonhöhe und Gefühlsausdruck modellieren soll. Diese Software wurde gefüttert mit einem gesprochenen Essay des Wissenschaftlers und Autors Louis Chude-Sokei über künstliche Intelligenz und ahmt diesen nun nach. Zwischen diesen philosophischen Passagen erklingen die Tracks, in denen die Maschine selbstständiges Sprechen lernt. Wie könnte Sprache ohne Bewusstsein und Sehnsüchte entstehen? Am Anfang war das Chaos. Weltmusik und Trommelklänge des langjährigen Mouse-on-Mars-Kollaborateurs und Percussionists Dodo Nkishi öffnen eine Klangwelt, die nicht zuzuordnen ist. Auf dem ganzen Album findet sich kein Track, der einem bestimmten Genre zugehörig ist. Polyrhythmik, Weltmusik und leise Anklänge von Drum’n’Bass mischen sich mit den Artikulationsversuchen der Maschine. Auch künstliche Intelligenzen machen Fehler, diese wirken chaotisch, weil sie aus der zugedachten Form fallen. Die Angst der Menschen vor Maschinen beruht auf deren Automatismus und Unfehlbarkeit. Ihnen Chaos, hier „Anarchie”, zu befehlen, könnte diese Angst mindern, genauso wie das Erleben des Prozesses des Erlernens der Sprache und die damit einhergehende Vermenschlichung der Maschine. Mouse on Mars wollen uns mit diesem Album die Angst vor den Maschinen nehmen. Dafür ist es beim Hören für die meisten wohl leider zu verkopft und stressig. Martina Dünkelmann

Orbe – Beyond Our Ability (Axis)

Orbe – Beyond Our Ability (Axis)

Nachdem er bereits 2016 sein weitgehend unbeachtetes Debüt Kepler 438 auf dem israelischen Label Be As One veröffentlichte, war absehbar, dass Fernando Sanz alias Orbe irgendwann bei Axis landen würde. Benannt nach dem nur ein Jahr zuvor entdeckten Exoplaneten im Sternbild Leier, der sein Gestirn in dessen habitabler Zone umkreist, zeichnete das Album mit reduzierten Produktionen zwischen Bleep, diesigem House und Anflügen von Kosmischer das Bild einer orbitalen Cocktail-Bar mit Panoramablick auf einen Roten Zwerg. Fast forward ins Frühjahr 2021: In Form von Beyond Our Ability kommt nun tatsächlich der Nachfolger via Axis, dem sowohl in Umfang als auch Produktionswerten ein beachtlicher Fortschritt gelingt – durch mehr Druck, höhere Pixelierung, unheilvollen Tenor. Von den satten Bass-Strukturen über die Kicks bis zum Sirren und Flackern verchromter Konsolentöne und der dabei stets minimalistischen Sequenzierung wurde hier alles konsequent einer schlanken, geschärften Weltraumästhetik unterworfen, die zehntausende Jahre entfernte Sci-Fi-Szenarien beschwört. Labelvater Jeff Mills ist als offenkundiger Einfluss natürlich nicht zu leugnen, und an manchen Stellen geht die Inspiration vielleicht sogar etwas ins Imitat über, doch Tracks wie das delikat dubbige „Galaxy Hitchhikers” oder der industriell gesinterte Beat von „Disturbing To The Human Mind” weisen Orbe als eigenständigen Virtuosen eines Styles aus, dem Etiketten wie NASA Techno durchaus gerecht werden. Mit über 80 Minuten Laufzeit sicher eines der in diesem Jahr mächtigsten Genre-Statements, dem gegenwärtige Pseudotrends herrlich egal sind. Tipp: Auflegen, Wiki-Artikel zu Hyperriesen der Leuchtkraftklasse 0 oder The Book Of The New Sun lesen und maximal wegzoomen. Nils Schlechtriemen

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Placid Angles – Touch The Earth (Figure)

Placid Angles – Touch The Earth (Figure)

Bereits 2019 hat John Beltran sein Moniker Placid Angles wiederbelebt und 22 Jahre nach The Cry mit First Blue Sky einen Nachfolger vorgelegt. Vielleicht auch als Reaktion auf seine Auseinandersetzung mit Peacefrog Records, die ein Jahr zuvor mit Ten Days Of Blue ohne sein Einverständnis das Album wiederveröffentlicht hatten, das weithin als Meilenstein einer Definition von Techno gilt, bei der Elektronik und Emotionalität Hand in Hand gehen. Die 13 Tracks von Touch The Earth knüpfen direkt an sein Frühwerk an: Nach wie vor besteht Beltrans Meisterschaft darin, ultrasouverän auf dem schmalen Grat zu wandeln, der seinen Musikentwurf vom Kitsch trennt, berührende Melodien mit der crispen IDM-Soundästhetik von Acts wie Aphex Twin oder Autechre sowie den Errungenschaften von Detroit Techno zu verbinden. Spezifisch ist seine gleichermaßen plastische wie transparente Klanggestaltung. Der Opener „Osiyo (Hello Again)” ruft mit funky Drum-Loops, Jungle-Flavour und gesampelten Interjektionen Reminiszenzen an die Neunziger ab, durch „Dakota” zieht sich der seit „Sueño Latino” und 808 States „Pacific State” populäre Ruf des Seetauchers. Auch „Cha’kwaina” verweist, wie einige der Titel, aber auch Field-Recording-Elemente von Touch The Earth, auf die Kultur der Native Americans, die diesem Album als eine Art thematischer Kern innewohnt. Breakbeats überwiegen, in Tracks wie „At One With” lässt Beltran seiner Ambient-Ader freien Lauf. All das kann 2021 selbstverständlich nicht mehr im Geringsten für sich beanspruchen, in irgendeiner Form experimentell zu wirken, geht aber über die reine Befriedigung nostalgischer Sehnsüchte trotzdem weit hinaus. Ein trotz mancher Sub-Bassline und metallisch aufpeitschender Percussion-Pattern geradezu entspanntes Hörerlebnis, weil Beltran längst niemand mehr etwas beweisen muss. Harry Schmidt 

PLO Man & C3D-E – public state v. (Acting Press)

PLO Man & C3D-E – public state v. (Acting Press)

Seit circa sechs Jahren schoppt PLO Man, der Macher des Labels Acting Press, in den verspulten 1990er Jahren zwischen XTC-Trance-Flyergrafik, digital nachgebauter – aber nach kopiert aussehender – Fanzine-Collagen-Ästhetik der 1980er Jahren und Warp Label-Ambient-Breaks. Dabei schrammt er als DJ auch ab und an die internationale High-Art-Szene wie beim Stream-Launch für das Buch über Mark Leckeys Fiorucci Made Me Hardcore im OHM letzten Februar. Public state v. ist ein Live-Act-Mix, den PLO Man mit C3D-E 2019 auf dem Linecheck – eine Musikmesse und ein Festival in Mailand – aufgenommen hat. Ihre Percussion- und Layer-Studien, die notorisch schlecht gelaunte, Biocracker-essende Gen-Z-, Trans- und heteronormierte Klima-Kids überlaut im ICE auf dem Weg nach oder von Berlin auf drahtlosen Over-Ear-Kopfhörer hören, starten auf der B-Side mit Jaydees „Plastic-Dreams”-Synth-Tropfen. Dann wandert der Mix flächig in Richtung Chill-Out-Come-Down-Triolen-Polyrhythmik und Hallraumfahnen. Manchmal ist sogar etwas Harthouse Frankfurt, Cosmic Baby, Tangerine Dream oder Brian Eno erkennbar. Das ist ein okayes Muji-Diffusor-Räucherstäbchen-Samplingverfahren, das möglicherweise sogar mit etwas Modulartechnik verschränkt wird. Allerdings nerven die Ableton-Live-Loop-Hänger dann doch irgendwann gewaltig („Pt. Vi – Pt. X”). „Pt. I – Pt. Iv” macht logischerweise – als Liveset – dort weiter, wo die B-Seite aufhört. Dabei ist es völlig egal, wie rum man die Platte hört. Es piepst und fiepst wie ein Sci-Fi-Film aus Hollywood über ein altes 90s-Modem verloren aus dem Cyberspace in das leere Studi-Pandemie-Zimmer. Dann wackelt ein Zug durchs Bild, um in den alten, leicht zerschredderten Pop-TR-808-Amen-Break von Soul II Soul zu crashen. Auf LSD ist das vielleicht ganz lustig, denn die Sound-Fetzen aktivieren womöglich ein paar verstaubte Neuronen und schalten längst verdrängte synaptische Erinnerungscluster wieder scharf. Au Backe, wo war gerade noch mal der Ausgang in der zwei Quadratmeter großen Toilettenkabine? Mirko Hecktor

Simona Zamboli – Ethernity (Mille Plateaux)

Simona Zamboli – Ethernity (Mille Plateaux)

Die Ewigkeit im Äther? Auf ihrem Label-Einstand bei Mille Plateaux klingt die Mailänder Produzentin Simona Zamboli ähnlich rätselhaft wie der Titel ihres Albums. Reste von Techno-Tracks finden sich in ihren analog-digitalen Hybriden allenfalls als rhythmische Muster, die selten einen Beat brauchen, doch entschieden auf Repetition setzen. Der Club ist in dieser als „ultraschwarz” angepriesenen Erzählung bloß noch eine Erinnerung aus der Vor-Pandemie-Welt, mit der Realität von Ethernity jedoch wohl nicht mehr vereinbar. Zamboli, die in anderen Veröffentlichungen, etwa auf Insane Industry, schon mal ihrer Vorliebe für rumpeligen Knüppel-Techno nachgeht, gelingt hier ein scheinbar paradoxes Miteinander von Amorphem und Struktur, eine Art von abstraktem Downtempo, wenn man so will, in dem atonale Frequenzen neben harmonischen Figuren friedlich koexistieren, spröde-abweisend und seltsam anheimelnd-warm zugleich. Bei all ihrer Detailliertheit wirkt die Musik nie selbstverliebt, aber durchaus wie ein Selbstzweck, ein tönender, seltsamer Attraktor. Tim Caspar Boehme

Vatican Shadow – SR-71 Blackbird Survivors (Hospital Productions)

Vatican Shadow – SR-71 Blackbird Survivors (Hospital)

Schneller, höher, weiter – und unsichtbar: Der SR-71 Blackbird war das ultimative Spionageflugzeug im Kalten Krieg und sammelte in weit über 20 Kilometern Höhe mit Spitzengeschwindigkeiten von 3500 km/h militärisch relevante Informationen. Für den Global War On Terror wäre er fast zurückgekommen. Mittlerweile nutzt das Pentagon die Triebwerke des SR-71 für … irgendetwas anderes. Verschlusssache, versteht sich – und damit wohl für kaum jemanden interessanter als Dominick Fernow. Der New Yorker Produzent und Gründer von Hospital Productions nimmt sich auf SR-71 Blackbird Survivors des Mythos dieses nach wie vor schnellsten bemannten (und bekannten) Flugzeugs der Geschichte an und integriert ihn in die kunstvoll konspirative Collage seiner Diskografie als Vatican Shadow. Gedrosselten Industrial Techno verschraubt Fernow hier abermals mit raunenden Pads und einem Repertoire sorgsam selektierter Synths, die seinem Gespür für unheilvolle Harmonien unterworfen werden. Stilistisch also kaum etwas Neues im Gesamtwerk, was bei einer derart konsequent zu Ende gedachten Ästhetik aber nicht weiter tragisch ist. Denn selbst nach 14 Alben und weit über 20 EPs bleibt der Sound dieses Mannes spannender als jeder Film, jedes Buch, das den militärisch-industriellen Komplex, den Tiefenstaat, die Geheimdienstsphäre und alles dazwischen irgendwie zu behandeln sucht. Tracks vom Kaliber des allen Ernstes zugleich träumerischen, rituellen und apokalyptischen „Nothing Lived Here” oder die merkwürdige Melancholie in „All The Molds And Dies Destroyed” gehören mit zum Besten, was seit den irrwitzigen Washington Buries Al Qaeda Leader At Sea-Decks von 2011 unter dem VS-Alias erschienen ist. Selbst die einigermaßen straighten Club-Cuts „Never Reveal The Secrets Of The Worlds Most Ominous Bird” und „Rescue” (als Bonus-Track auf der limitierten Flexi-7’’) fügen sich brillant in die Endzeitvision des Albums ein, die ja eigentlich nur der Gegenwart entlehnt ist. Vielleicht leben wir also schon im Untergang, können es aber nicht sehen. Nils Schlechtriemen

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