Die Mixe des Monats aus dem Oktober findet ihr hier.
Blawan – SickElixir (XL Recordings)
Mit SickElixir legt Jamie Roberts alias Blawan sein bisher radikalstes Statement vor – ein Album, das klingt, als würde jemand die DNA des Techno zerlegen. XL Recordings überrascht mit dem Album, das roh, unruhig, zutiefst körperlich daherkommt. Der Opener „The GL Lights” klingt wie eine Wiedergeburt unter Neonlicht, ein schwer atmender Maschinenorganismus. Doch schon mit dem Focustrack „NOS” zündet Roberts das eigentliche Konzept: Hochkompression trifft auf Katharsis. Hier verschiebt sich Blawan endgültig vom puristischen Techno hin zu einem emotionalen Noise-Hybrid, der seine Wut in Struktur verwandelt. „Rabbit Hole” mit Monstera Black ist das Herz des Albums – ein fiebriger Trip durch gebrochene Rhythmen und körperliche Verzerrung. Der Track hat etwas Paranoides, fast Theatralisches: Bass als innerer Monolog. Dann plötzlich: „Birf Song”, eine fragile Miniatur, die wie ein Rest Licht in einem dunklen Raum wirkt. Zwischen all den martialischen Texturen blitzt hier ein Moment echter Verletzlichkeit auf. Und im Titelstück bündelt sich schließlich alles – die Härte, die Intimität, die unterschwellige Hoffnung. Es ist kein kathartischer Abschluss, sondern ein offener Bruch, ein Riss.
Blawan gelingt auf SickElixir das Kunststück, seine industrielle Ästhetik zu humanisieren, ohne sie zu entschärfen. Wo frühere Veröffentlichungen wie Woke Up Right Handed noch wie Experimente im Maschinenraum wirkten, entsteht hier ein komplexes, fast biografisches Klanggebilde: Techno als Selbstporträt. Liron Klangwart

Cahl Sel – Traces (Reflective)
Das Debütalbum von Cahl Sel beginnt mit einem nervösen Drummachine-Beat, bald fangen diese Unruhe aber spacige Synthie-Flächen und ein repetitives Melodie-Motiv ein. Wohin die Traces, die der Nordkalifornier hier auslegt, führen werden, ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu erahnen. Denn das Album entpuppt sich erst nach und nach als eine Reise in Richtung Entspanntheit, die aber – wie das bei größeren Trips oft so ist – anfangs Reisefieber und Nervosität prägen. Den ersten vier Tracks wohnt durchgehend eine Spannung inne, die sich aus der kompletten Gefühls-Palette speist und durchaus negativ belegte Emotionen verarbeitet – und diese auch zu vermitteln weiß. Das latent Brodelnde erzeugen dabei nicht in erster Linie die Breakbeats, sondern auch nervöse Chords und Arpeggios. Aber spätestens bei „The Game” hat sich diese Unruhe gelegt, wurde Stück für Stück abgeschüttelt und mündet im darauf folgenden „Regeneration” in pure Entspannung. Der Song umschifft trotz klanglich angedeutetem Wasserplätschern jede Peinlichkeit und kann bedenkenlos in die persönliche Relax-Playlist wandern. Das Energielevel des Albums verharrt aber nicht auf Ambient-Niveau; im nächsten Stück kombiniert Cahl Sel einen funkigen Synth-Bass mit minimalistisch arrangierten Drums und rhythmischen Akkorden, was zusammen ein vielfältiges Klang- und Groove-Gebilde inklusive seltsam aus der Rolle fallendem Synthie-Schmatzen ergibt und „Halflife” zu einem der Höhepunkte auf Traces macht. Vier Songs weiter bildet dann „Leaf” den meditativen Abschluss eines einnehmenden trippigen Neo-90s-Albums. Mathias Schaffhäuser

Daniel Avery – Tremor (Domino)
Daniel Avery baut auf Tremor keine Tracks, sondern Klanglandschaften aus Stahl, Staub und Licht. Das Album trägt eine Schwere in sich, die zugleich anzieht und abstößt. Zwischen vibrierenden Maschinenrhythmen und verwaschenen Gitarrenriffs entfaltet sich ein Raum, der seine Fäden durch das gesamte Spektrum dunkler Klänge zieht. Avery setzt Gegensätze in Bewegung. Elektronische Präzision trifft auf ein lebendiges Zittern, industrielle Härte auf zarte Melancholie. Seine Beats wirken nicht bloß programmiert, sondern geformt aus einem Material, das rau und empfindsam zugleich ist.
„Greasy Off the Racing Line” mit Alison Mosshart und „The Ghost of Her Smile” mit Julie Dawson markieren die emotionalen Pole des Albums. Hier prallt eine pulsierende Energie aus Bass und Beat auf eine fragile Zerbrechlichkeit, getragen vom Zusammenspiel zwischen Averys Rolle als Klangarchitekt, der keine Tracks, sondern Räume erschafft, und den sanften, beinahe schwebenden Stimmen von Mosshart und Dawson. Tremor ist laut, aber nie um der Lautstärke willen. Inmitten des Dröhnens blitzt etwas Zerbrechliches auf. Momente, in denen Lärm zu Emotion wird. Ein Album wie ein Nachzittern – intensiv, schön und erfüllt von jener unruhigen Energie, aus der Kunst entsteht. Wencke Riede

Efdemin – Poly (Ostgut Ton)
Sechs Jahre hat es gedauert, bis Phillip Sollmann alias Efdemin wieder ein vollständiges Album vorlegt. Schon der Titel deutet es an: Poly meint Vielstimmigkeit, Vielschichtigkeit, das Auflösen starrer Formen zugunsten einer vibrierenden, atmenden Klangökologie.
Das Album beginnt mit „Drift”, einem schwebenden Stück, das wie ein Atemzug funktioniert – langsam, tastend, mit subtilen Verschiebungen zwischen Drone und Dub. Danach öffnet sich das Feld. Der Titeltrack pulsiert mit mathematischer Präzision, aber dahinter glimmt Wärme. Besonders hervorzuheben ist „Signal to Noise” – ein Stück, das Efdemins feines Gespür für Balance zeigt. Zwischen Rauschen und Struktur, zwischen Clubenergie und Kontemplation. Die Bässe sind trocken, das Rauschen flirrt – technoider Minimalismus, der fast poetisch wirkt. „Rauris” und „Aachen” dagegen tragen geografische Namen, als wären sie Erinnerungsorte in Sound gegossen. „Rauris” ist ein meditatives Stück, während „Aachen” mit dissonanten Schwingungen die Brücke zwischen sakralem Raum und Maschinenmusik schlägt. Und dann: „Radical Hope”, meditative Klangflächen durchbrechen ein dichtes Geflecht aus Rhythmen und Texturen, ein Moment von fast utopischer Offenheit. Am Ende, mit meinem Highlight „Below the Surface”, sinkt man sanft in die Schichten unterhalb der Beats, dorthin, wo Efdemin seit jeher seine eigentliche Sprache findet: die des Zuhörens, der Resonanz, des vibrierenden Stillstands.
Poly ist kein lautes Comeback, sondern eine subtile, präzise formulierte Klangschrift. Ein Album, das die Geschichte des Techno hinterfragt – und dabei so leise wie konsequent antwortet. Liron Klangwart

Eusebeia – The Wyrding Way (Livity Sound)
Eusebeia ist Seb Uncles, und Seb Uncles macht Jungle. Seit 20 Jahren beschäftigt er sich mit der britischen Breakbeat-Musik, zunächst mit zwei Plattenspielern, später auch mit Studioausstattung. Dass er in Wiltshire aufgewachsen ist und damit der Region, in der sowohl Wood- als auch Stonehenge ihre magischen Kreise herzeigen, ließ Uncles vor vier Jahren im DJ Mag sagen, er beschäftige sich mit „gnostischen, astrologischen, hermetischen und heidnischen Ideen”. Doch keine Angst, bis heute klingt Uncles’ Musik kein bisschen okkult.
Und das, wo doch The Wyrding Way kein Jungle-Album ist. Sondern frühe Computermusik mit leichtem Soundtrack-Einschlag und deshalb eigentlich anfälliger für raunende Atmosphären. Von Beginn an, hier also ab „Through The Darkness Of Future Past”, werden Synthesizer emuliert und in sich nur langsam aufbauenden Figuren ausgebreitet. Das Soundtrackhafte dabei ist die Offenheit: Tracks wie „Elusive Nature” mit seinen hellen und doch verwaschenen Sounds, das hin und her pendelnde Titelstück oder das verlangsamte „Question Of Time” könnten in Krimis Spannung erzeugen oder in Animes zur Kuss-Szene einsetzen. Nur zwei-, dreimal sind überhaupt Drums zu hören, und zwar spärlich.
Eusebias Jungle-Werk lässt sich rückblickend mit diesen beatlosen Tracks noch besser verstehen, wie kunstvoll er die melodischen mit den bangenden, flammenden Teilen der Stücke miteinander verbindet. Das Pendant zum Der macht nix! aller Gassigehenden muss hier also lauten: Denen fehlt nix! Christoph Braun
