Instrumentale Entspannung zwischen Improvisation und Songwriting, zwischen Jazz, Folk und Neoklassik hat eine lange Historie, eigentlich sogar eine, die in jeweils unterschiedliche Traditionen zurückführt, seien es Delta-Blues, Appalachen-Folk, Brit-Psychedelik, Fourth-World-Klänge, instrumentaler Country & Western oder kosmische Kraut-Elektronik. In jüngerer Zeit scheint der dezidierte Nicht-Stil eine kleine Renaissance zu erleben, etwa auf dem Londoner Label Trestle. Dieses hat vor knapp 15 Jahren eher konventionell angefangen, mit instrumentaler Neoklassik etwa, dann aber spannende kollaborative Konzepte wie One Day Band oder From Isolation entwickelt, die einerseits spontanes komponieren und improvisierendes Arbeiten fördern, andererseits erlauben, über Grenzen von Genre und Arbeitsweisen hinweg kollektiv zu arbeiten. Besonders aktiv sind die zentral mit dem Label assoziierten Musiker Nick Downes und Jonathan Fryer, deren viertes Album als Tout gerade erschien. Als kleiner Bonus hat Jonny Fryer das wirklich sehr hübsche Soloalbum Saudade (Trestle Records, 10. Januar) nachgelegt, auf dem er seine edel klingende Akustikgitarre mit unaufdringlicher Elektronik erweitert. Auf Fryers Album hilft Adam Coney mitunter an der zweiten Gitarre aus. Im Gitarre-Piano-Duo Adam Coney & Richard Pike trifft jener auf den vierten Hausmusiker von Trestle. Ihr feines Instrumentalalbum Driftingland (Trestle Records, 31. Januar) bewegt sich ebenfalls mühelos zwischen Ambient und Jazz, mit einem milden Eindruck von Country & Folk im Klangbild.
Vom Jazz herkommende, aber darin nicht unbedingt verweilende Musik kommt traditionell gerne aus Skandinavien. So ist es wenig verwunderlich, dass heuer zwei exzellente Werke zwischen Ambient, Jazz und Neoklassik vom dänischen Multiinstrumentalisten Jason Dungan alias Blue Lake kommen. Mit Weft (Tonal Union, 17. Januar) hat der Kopenhagener einen Sweet Spot zwischen Neo-Country und Neo-Klassik gefunden. Einer, der nicht zuletzt vom Klangbild ungewöhnlicher Instrumentierung – wie etwa einer selbstgebauten Zither – profitiert. Der norwegische Jazz-Gitarrist Stein Urheim praktiziert die Erweiterung von Jazz mit Folk, Country und Post-Rock schon länger, auf seinem jüngsten Album Speilstillevariasjoner (Hubro, 31. Januar) besonders ausufernd und spielerisch. In gewisser Weise Ambient, bleiben seine Stücke dennoch immer.
Der am wenigsten erwartbare Beitrag zur Ambient-Jazz-Hausse dürfte aktuell von Yair Elazar Glotman & Mats Erlandsson kommen. Die Kombination aus dem Berliner Kontrabassisten und Elektroakustiker und dem schwedischen Drone-Orgel-Gitarristen macht aus Glory Fades (Xkatedral, 17. Januar) tatsächlich nicht das naheliegende Dark-Ambient-Album mit avanciertem Sounddesign, wie es noch die erste Zusammenarbeit Negative Chambers vor knapp acht Jahren war. Wobei die Stimmung schon etwas schattig ist, und die Produktion definitiv weit vorne. Der Klangcharakter des Albums wirkt allerdings auf weiten Strecken eher akustisch als elektronisch und hat mit verzerrtem Feedback-Drone oder subarktischen Soundscapes nur wenig zu tun. Es ist viel mehr abstrakter Jazz, instrumentaler Folk (ohne folkloristische Herkunft) von offensiver Freundlichkeit und hoher Detailfreude.
Es passiert nicht so selten, dass sich Künstler aus Pop- und Indie-Zusammenhängen im reiferen Lebensalter gerne mal in milde instrumentale Gefilde trauen. Dass sie sich dort dauerhaft niederlassen, kommt allerdings nicht so oft vor. Der Brite Will Samson ist eine dieser Ausnahmen, die seit einigen Jahren nicht mehr singt, keine Beats mehr in ihre Stücke baut und generell die Tiefen der Oberfläche (sprich: Ambient im klassischen Verständnis) auslotet. Bei Samson, der seine Songs Of Beginning And Belonging (Dauw, 31. Januar) nach Pause nun wieder auf dem exzellenten flämischen Tape-Label Dauw veröffentlicht, war es definitiv eine glückliche Entscheidung, beim Ambient zu bleiben. Denn bei aller Güte seiner früheren Indie-Songs und Techno-Pop-Tracks ist es doch das melancholische Schwelgen in Flächigkeit, das sachte Fließen, das er am besten beherrscht. In der schieren Menge an Ambient, die Jahr um Jahr erscheint, sind Will Samsons Arbeiten immer erkennbar, immer herausragend.
Der Franzose Emmanuel Mario steht voll im Leben und hat als Studiomusiker und Tourbegleitung für Laetitia Sadier, Pink Shabab, Marker Starling, Iko Chérie und einigen mehr vermutlich ein durchaus solides Auskommen an den Rändern des Mainstreams. Vielleicht kann er es sich dadurch leisten, solo als Astrobal wirklich zu machen, was immer er will. Zum Beispiel die schwerst eigenartige Easy-Listening-Avantgarde und die Swinging-Sixties-verehrende Fake-Library-Music von L’uomo e la natura (Karaoke Kalk, 7. Februar). Obwohl das Album quasi ausschließlich aus Zitaten, Verweisen, Produktions-Spielereien und musikologischen Ostereiern besteht, ist Astrobals circa fünftes Album ein echtes Original, musikalisch wie auch sonst. Dass Emmanuel Mario ansonsten vielbeschäftigter Schlagzeuger ist, merkt man seinen Soloarbeiten kaum an. Klar ist das alles extrem lässig und unaufdringlich gekonnt gemacht, aber Perfektion wie Percussion spielen nur Nebenrollen. L’uomo e la natura könnte tatsächlich genauso gut eine viele Dekaden lang vergessene Perle aus einem französischen Radio-Archiv sein, oder Produkt einer letztmodernen KI. Kurz gesagt, es ist zeitlos große kleine Außenseitermusik.