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Im Studio mit Mathew Jonson: „Wenn ein Dezibel lauter schon zu viel wäre”

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Wie Ricardo Villalobos oder Âme gehört Mathew Jonson zur House-Generation der Zweitausender, die auf das Verklingen der Euphorie der Neunziger mit einem komplexen, klangverliebten und psychedelischen Sound reagierte. 

Viele Künstler:innen dieser Generation ließen sich von den Möglichkeiten der ersten digitalen DAWs inspirieren. Mathew Jonson setzte sich dagegen mit einem analogen Purismus ab, der von der Liebe zu klassischen Geräten wie dem Roland SH-101 getragen wurde. 

Ebenso stilbildend für den Kanadier sind die mehrstündigen Jams, aus denen die Tracks entstehen. In unserem Studiobericht gibt Jonson einen Einblick in sein Studio, das unser Autor Elmar von Cramon noch kurz vor Jonsons Umzug von Berlin nach Lissabon besuchen konnte.

Bald in Lissabon, gerade noch in Berlin: Mathew Jonson (Foto: Elmar von Cramon)

Die Handgriffe sitzen perfekt. Während die Fotos zu diesem Artikel entstehen, schaltet Mathew Jonson seinen Gerätepark ein. Blitzschnelles Justieren an den Parametern von Roland TR-909, SH-101 und dem APB-Dynasonics ProDesk 8 Mixer lassen Melodien und Drumsounds schnell zu einem perfekt aufeinander abgestimmten Loop werden. Druckvoll bahnt sich dieser seinen Weg aus seinem ATC-Boxenpaar auf die Gänge vor seinem Studio, das sich im riesigen Gebäudekomplex des ehemaligen Flughafens am Tempelhofer Feld befindet.

„Wenn wir mit dem Interview fertig sind, muss ich den unbedingt noch aufnehmen”, ist er mit dem Mini-Jam am äußerst live-freundlichen DDP-Pult zufrieden. Jonson erläutert, dass sich seine Arbeitsweise im Vergleich zu früher kaum verändert hat. „Eigentlich brauche ich nur zwei SH-101 für Bassline und Mono-Leadsequenz, meinen Roland JX3P für Pads sowie eine TR-909, TR-808 und eventuell noch einen Drumcomputer wie den Tama Techstar Ts305 oder den Simmons SDS 8.” 

Willkommen im Synthesizermuseum

Jonsons Studiokomplex in Nachbarschaft zu Ostgut-Ton-Künstler Tobias Freund ist jedoch alles andere als ein Hort des Minimalismus. Als er die Räumlichkeiten vor über zehn Jahren bezog, richtete er neben dem Studioraum eine ebenso große Abstellkammer ein, der wie sein Studio im Laufe der Zeit eine riesige Menge an Sehnsuchtsobjekten für Synth-Nerds beherbergt hat und allein ein Dutzend Exemplare seines geliebten SH-101-Monosynthies bereithält.

Essenziell, 101! (Foto: Elmar von Cramon)

Den 101 benutzt Mathew Jonson wegen seines überragenden Gesamtpakets aus intuitivem, fader-basierten Interface, vielseitigem Klang und eines extrem livefreundlichen Sequencers. Dieser funktioniert ähnlich wie bei der TB-303 und erlaubt eine Step-Eingabe der Melodie mit Slides und Accent, die sich über den External-Clock-Input mit 909 oder 808 synchronisiert.

Somit ist blitzschnelles Improvisieren und eine lebendige, abwechslungsreiche Klangpalette möglich. Jonsons bekannteste Tracks wie „Typerope”, „Decompression” oder „Marionette” wären undenkbar ohne den Klang dieses japanischen Synthesizers, der seinerzeit als Bassgitarrenersatz gespielt werden konnte, wenn man ihn mit dem optionalen Modulationsgriff und Gitarrengurt ausgestattet hatte.

Vor allem dieser Trademark-Sound aus leichtfüßigen, lebendig modulierten 101-Sequenzen vorgenannter Tracks sorgten dafür, dass der aus dem kanadischen Victoria stammende Künstler sich vor über 20 Jahren schnell eine Fanbase in Europa erspielte. Den ersten Releases auf Itiswhatitis, dem Label, das er mittlerweile selber betreibt, folgte 2002 die erste Europatournee und gemeinsam mit Luciano und dem Track „Alpine Rocket” sein Perlon-Debüt. Danach etablierte sich Jonson mit Veröffentlichungen auf Sub Static, Kompakt oder M_nus

Ein Leben, viele Projekte 

Nachdem Jonson im GROOVE-Leser:innenpoll von 2004 erstmals auf der Pole-Position gelandet war, gründete er zusammen mit Konrad Black das Label Wagon Repair. 2006 war er erstmals auf dem Cover der GROOVE zu sehen. Im Poll desselben Jahres gleich in mehreren Kategorien als Produzent und Live-Act ganz vorne zu finden. Der musikalischen Ankunft folgte nur wenig später der Umzug nach Berlin. Dort entwickelte er seinen eigenen Sound weiter und mischte sich so zu einer der markantesten Stimmen der elektronischen Musik.

Während man alle Projekte von Mathew Jonson aufzählt, kann man ein schönes Foto schießen (Foto: Elmar von Cramon)

Nebenbei trat das Projekt Cobblestone Jazz auf den Plan, das er mit seinen kanadischen Jugendfreunden Danuel Tate und Tyger Dhula gründete und mit Konsens-Hits wie „Dump Truck” und dem Album 23 Seconds Maßstäbe in Sachen spielerisch vorgetragener Techno-Improvisation setzte. Nach Jonsons Album Her Blurry Pictures auf Crosstown Rebels steuerte er mit Fabric 84 eine ausschließlich aus eigenem Material zusammengestellte Mix-CD für die Londoner Club-Institution bei.

Daneben entstanden weitere Bandprojekte wie Modern Left Deep Quartet, Midnight Operator, gemeinsam mit seinem Bruder Nathan alias Hrdvision. Als Units & Measurements lotete er gemeinsam mit The Mole und Christopher Hreno die Grenzen des Machbaren aus und destillierte aus einer 24-Stunden-Jamsession den gleichnamigen Longplayer. Zusätzlich betätigte er sich als Remixer und reicherte unter anderem Tracks von Moby, den Chemical Brothers oder den Inner-City-Klassiker „Good Life” mit seinen Trademark-Sounds an.

Kein bisschen älter geworden, oder? (Foto: Elmar von Cramon)

Beim Blick auf das GROOVE-Cover von damals lässt Jonson die Gedanken 18 Jahre zurückschweifen. Er überlegt, was er seinem damaligen Ich nun raten würde. „Weniger Partys, mehr Businessdenken”, lacht er – wohl wissend, dass der eben aufgezählte Werkkörper mit diesem Mindset wohl kaum entstanden wär.

Mixen wie Mathew

Die Möglichkeiten, genau wie seine berühmte Schulfreundin Nelly Furtado im Pop-Business zu landen, waren da. Allerdings bereut der Kanadier seine Entscheidung für den Underground überhaupt nicht. „Ich hätte wohl mehr Geld verdient und viel mehr Aufmerksamkeit bekommen. Möglicherweise hätte das aber zu einem großen Ego geführt, mit dem ich mich selber früher oder später verzofft hätte. Ego und Kreativität funktionieren nicht zusammen.”

Ob er Nelly Furtado bei Klassentreffen von seiner Akademie erzählt? (Foto: Elmar von Cramon)

Die Intention, den Nährboden der Underground-Kultur zu befruchten, ließ Jonson die  Freedom Engine Academy gründen. Sie soll technisch interessierten Musikenthusiast:innen und DJs die Schatzkiste seiner Produktionstricks nahebringen, denn: „Ich bin dankbar, dass ich nach 20 Jahren im Musikbusiness immer noch das Privileg habe, Musik veröffentlichen zu können.” Mit Blick auf das Ende der Red Bull Music Academy fühlte er den Antrieb, ein Vakuum zu füllen. Und hatte während der Corona-Pandemie endlich die Zeit dazu.

„Ins Studio zu kommen und Musik zu machen, fühlt sich für mich fast an, wie ein Tagebuch zu schreiben.”

Für die jährlich stattfindenden, dreimonatigen Academy-Kurse gelang es Jonson, sowohl hochkarätige Lehrkräfte wie Grammy-Award-Gewinnerin Beatriz Artola oder Eric Breuer wie auch seine musikalischen Wegbegleiter Danuel Tate und seinen Bruder und Klavierlehrer Nathan zu gewinnen. „Während Nathan ein unglaubliches Wissen über Ableton Live verfügt, ist Danuel für mich nicht nur ein brillanter Künstler und Freund, sondern auch ein wichtiger Mentor gewesen. Die Art, wie er Geschichte, Kultur, Musiktheorie und die Frage, warum und wie wir überhaupt Musik machen, zusammenbringt, ist einzigartig – und macht mich dankbar, ihn in meinem Leben zu haben.”

Im Gegensatz zu vielen anderen Angeboten, die mit Slogans wie „Mix Like A Pro” oder „Release Your Tracks Now” werben, möchte Jonson den Druck beim Musikmachen und Mischen bewusst reduzieren. „Stattdessen will ich die Schüler:innen einladen, den Sinn des Musikmachens für sich selbst zu entdecken, als etwas, das ihnen wichtig ist. Für mich hat es etwas Therapeutisches, das ganz nah bei mir ist. Ins Studio zu kommen und Musik zu machen, fühlt sich für mich fast an, wie ein Tagebuch zu schreiben.”

Nachtzug nach Lissabon

Der Ansatz sei auch eine Reaktion auf gewisse Entwicklungen in der immer größer werdenden Kommerzialisierung im Bereich der Techno-Szene. „Beim Blick auf ein Instagram-Profil sieht man nicht, ob jemand gute Musik produziert. Erst recht nicht, wenn Marketing-Budgets dafür benutzt werden, Artists in bestimmte Playlists oder DJ-Charts einzukaufen.” Die technischen Aspekte kommen dennoch nicht zu kurz. Jonson gibt offen zu, dass er selbst erst durch die Academy gelernt hat, „wie man einen Kompressor wirklich richtig bedient.”

Muss man auch erst mal richtig bedienen können (Foto: Elmar von Cramon)

Um selbst voll als Mentor in das Geschehen eintauchen zu können, reduziert er während der Academy-Klassen seine Bookings und Studiozeit. In diesem Jahr galt es zusätzlich, eine große Veränderung im Terminkalender unterzubringen. Mit seiner Partnerin Jay Medvedeva, selbst DJ und Jazzmusikerin, und der gemeinsamen kleinen Tochter verlegte Jonson seinen Lebensmittelpunkt nach Lissabon – auch wenn er aktuell noch zwischen Berlin und der portugiesischen Hauptstadt pendelt. „Ich bin dankbar für die tolle Zeit in Berlin und die vielen Freundschaften, die entstanden sind. Weil ich nun Vater bin, lasse ich es aber etwas relaxter und gesünder angehen.”

Die Geburt der eigenen Tochter habe bei ihm auch mental für eine Veränderung gesorgt. „Die Dankbarkeit, meine Partnerin und meine Tochter an meiner Seite zu haben, lässt mich eine andere Form von Verbundenheit und Bedeutung spüren. Das spiegelt sich in der Musik, die ich mache, wider. Ich merke das auch während meiner Liveperformances am Feedback zu meinen Tracks.”

Ein Roland kommt selten allein

Den anstehenden Umzug nutzt Jonson studioseitig zur Evaluation, welches Equipment er wirklich benötigt. „Es ist cool, ein Studio voller Synthesizer zu haben, sie sehen schön aus und wirken inspirierend. Letztlich sind sie aber nicht notwendig, um schöne elektronische Musik zu machen.” Vielmehr seien die Emotionen der Künstler:innenseele entscheidend und die eigene Präsenz, wenn man Hand an sein Equipment legt. „Das ist, was sich überträgt und was die Leute in der Musik wahrnehmen, egal welcher Mixer oder Kompressor verwendet wurde”, so Jonson.

Foto: Elmar von Cramon

Seine Sammlung an Roland-Geräten, die neben den Geräten der x0x-Serie auch System 100, Jupiter-6 oder das legendäre RE-201 Space Echo umfasst, hat er allerdings für „nicht verhandelbar” erklärt: „Kurzzeitig hatte ich sogar überlegt, nur Roland-Geräte zu behalten”, so Jonson. „Dann stellte ich fest, dass mir auch der Verzicht auf meinen Rhodes Chroma schwerfallen würde.” Dieser äußerst seltene und hochpreisige Synth mit einem enorm eigenständigen und hochwertigen Klangcharakter besitzt eine fast schon aberwitzige Anzahl an Modulationsoptionen, die im Synthesizerbereich sonst nur bei Geräten wie Oberheim Matrix 12 und Xpander oder Waldorf Wave anzutreffen sind. 

Ihr wollt nicht wissen, was das kostet (Foto: Elmar von Cramon)

Einziger Haken ist das kryptische Bedienkonzept, das nur durch den von einem Chroma-Enthusiasten in Handarbeit gefertigten Controller, dem „Enabler”, aufgebrochen werden kann. Diesen konnte Mathew erst nach über zehn (!) Jahren auf der Warteliste erwerben: „Ich besaß damals noch gar keinen Chroma”, lacht er. Kurz nach Lieferung seines Controllers sei er aber fündig geworden. In Hannover erwarb er von einem ehemaligen Kraftwerk-Techniker ein Exemplar in „Mint Condition”.

Out of the box? In der Box!

Andere seltene Sammlerstücke von Johnsons Synthesizerbesitz sollen trotzdem auf den Prüfstand kommen. Als Beispiel nennt er den zwischen den Software-Revisionen 2.2 und 2.3 umschaltbaren PPG Wave, der durch seine charakteristischen Morphing-Sounds beim Durchfahren der Wavetables [„Cycling”, Anm.d.Red.] in Verbindung mit schön klingenden SSM-Filterchips zur Synthesizerlegende wurde und mittlerweile fünfstellige Sammlerpreise erzielt.

Mathew Jonson und ein Prophet (li.) (Foto: Elmar von Cramon)

„Ich kenne mich nach wie vor nur mittelmäßig mit dem internen Sequencer aus. Auch wenn ich es schaffe, mit dem Gerät ziemlich krasse Sounds zu erzeugen”, gibt Jonson zu. Allerdings möchte er sich künftig eher auf Equipment fokussieren, dessen Sweetspots er besser kennt.

„Der Unterschied, der sich in Sachen Tiefe und Weite im Klangbild ergibt, hat mich wirklich umgehauen.”

Dabei helfen soll ihm der SSL BiG SiX. Ein Mixer, der analoge Färbung und Bedienung legendärer SSL-Mischpulte inklusive EQs und Buskompressor der G-Serie mit einem 16-Kanal-Audiointerface verbindet. Neben dem bequemen Handling, seine Geräte direkt in den Rechner einschleifen zu können, hat es Mathew Jonson besonders der Klang angetan. „Die Qualitäten bei der Klangsummierung sind beim BiG SiX außergewöhnlich. Der Unterschied, der sich in Sachen Tiefe und Weite im Klangbild ergibt, hat mich wirklich umgehauen.” 

Neben seinen Hardware-Synths will Jonson künftig vermehrt Software einsetzen. „Ich möchte mir vor allem die Sachen von Fabfilter und iZotope näher anschauen. Zu sehen, wie Beatriz [Artola, d.Red.] damit mixt, hat mir gezeigt, was damit alles möglich ist”, verrät er. Im neuen Heim in Lissabon haben bislang ein Arturia Matrixbrute, eine Elektron Machinedrum, ein Roland JD-08 [die Boutique-Version des JD800, d.Red.] und die unvermeidliche SH-101 zwischen einem Paar Adams-Monitorboxen Platz gefunden. Geräte, die bis auf den Polybrute auch zu seinem Live-Setup gehören. Dort kommt außerdem der livefreundliche Roland TR8S-Drumcomputer aus der AIRA-Serie zum Einsatz.

Was lange währt, wird auf dem Dancefloor gut

Von den letzten Livegigs ist ihm besonders sein Solo-Auftritt auf dem Säule-Floor des Berghain in Erinnerung geblieben. „Niemand macht dort das Warm-up und niemand spielt nach dir. Es war fast wie bei einem Konzert. Nachdem ich mein Equipment aufgebaut hatte, überkam mich aber ein kurzer Moment der Unsicherheit: Ich bin der einzige Act. Was ist, wenn der Club nebenan tobt, aber niemand dich sehen will?” Die Bedenken verflogen schnell, sodass Jonson auf einen gelungenen Goodbye-Gig zurückblicken konnte.

Release-seitig stand in seinem letzten Berlin-Sommer die SOS EP auf Deset an. Die Songs stellen eine Compilation von Tracks aus Jonsons vergangenen 15 Jahren dar. Labelboss Caruan fragte ihn explizit nach „weird Stuff” und bekam fünf äußerst unterschiedliche Tracks. Zwei Ambientnummern, eine jazzige Improvisation und ein Four-to-the-Floor-Jam mit Colin de la Plante werden mit einem leichtfüßigen Electro-Workout abgerundet. „Das ist der neueste Track von allen, er entstand mit meinem Cwejman S1 MK2 und einem Roland Integra-7-Soundmodul”, so Jonson.

Foto: Elmar von Cramon

Ältere Tracks zu veröffentlichen, sei für ihn nichts Ungewöhnliches, eher die Regel. Auf seiner EP Diamond Eyes wurde ein neuer Ambient-Track („Rain In Kyoto”) mit dem bereits zwölf Jahre alten Titeltrack auf Vinyl gepresst. „Bei den meisten Tracks fühlt es sich erst nach mehreren Jahren richtig an, sie zu veröffentlichen.” Selbst „Decompression”, einer seiner erfolgreichsten Tracks, brauchte Anlaufzeit. „Jedesmal, wenn ich ihn spielte, leerte sich die Tanzfläche, erst nach einem Jahr wurde der Track erfolgreich.”

Diese Erlebnisse nähren in Jonson die Vermutung, dass seine Musik für die Zukunft bestimmt sei. Auch fühle er sich beim Musikmachen wie ein Medium, das wie ferngesteuert agiert. Das erklärt auch das Zustandekommen des Namens seines Tracks „Marionette”. „Ich höre in mich hinein und transkribiere das, was mir dabei begegnet. Dabei passiert es, dass dieser entscheidende Funke überspringt und daraus eine Melodie und ein Track entstehen. Vielleicht kommen die Melodien aus meinem Unterbewusstsein oder aus einer anderen Dimension. Ich weiß es nicht, habe aber auch keinen Beweis für irgendeine Theorie. Allerdings scheint es einige Musikmachende zu geben, denen es genauso geht. Sie fühlen sich dabei nicht notwendigerweise verbunden mit ihren Melodien, weil sie ihnen von irgendwoher zufliegen.”

Keine Angst vor KI

Gegen Ende des Interviews kommt das aktuell allgegenwärtige Thema Künstliche Intelligenz (KI) zur Sprache. Ähnlich wie Luke Slater sieht der Kanadier die Ankunft der künstlichen Intelligenz nicht so dramatisch wie in anderen Bereichen der Musik. „FKA Twigs hat sich in einem Interview besorgt gezeigt, dass KI die Tonalität und den Klangcharakter ihrer Stimme bis auf kleinste Nuancen realistisch wiedergeben kann. Diese Angst kann ich bei Vokalist:innen oder im Singer-Songwriter-Bereich schon nachvollziehen.”

In der elektronischen Musik seien viele Sounds jedoch von vornherein Samples. „Auch wenn ich selbst Schlagzeug und etwas Piano spielen kann, bin ich noch kein Session-Musiker, sondern benutze Strings aus einem Synthesizer. Die 808- oder 909-Sounds sind genau genommen vorgefertigte Sounds, auch wenn zahllose Technoklassiker damit entstanden sind.”

In Berlin geht bald das Licht aus (Foto: Elmar von Cramon)

Kreatives Sounddesign oder das Zusammenkürzen längerer Tracks seien eindeutig eine Stärke, die er der künstlichen Intelligenz zuschreibt. „Ich habe es mit einem KI-generierten Edit eines meiner eigenen Tracks ausprobiert. Das ist auf äußerst kreative Weise passiert. Ich weiß nicht, ob ich das besser hinbekommen hätte”, gibt Jonson freimütig zu.

„Erst wenn ich eine Weile daran gearbeitet habe, werden die Details deutlicher hörbar.”

Sorgen bereitet ihm allerdings die Tatsache, dass Produzierende finanziell immer weiter hinter DJs zurückfallen. „Vom Produzieren kann heute kaum noch jemand leben. Du musst entweder auftreten oder die Musik als Hobby neben deinem eigentlichen Job betrachten”, so Jonson. Vor diesem Hintergrund schätzt er Initiativen wie von DVS1, die sich mit seiner Plattform Aslice für eine faire Vergütung der Produzent:innen einsetzt [Das Interview mit Mathew Jonson entstand, bevor das Aus von Aslice bekanntgegeben wurde, d.Red.].

Alles glänzt so schön neu

Das Gegenteil dieser Anstrengungen findet sich für Jonson im Gebaren der Streamingfirmen wieder. Auf Playlists zu setzen, die ausschließlich KI-generierte Musik spielen, geht zu Lasten richtiger Künstler.” Außerdem sei die Vergütung für die einzelnen Plays auf Spotify oder YouTube viel zu niedrig. Ein Cent pro Stream wäre vermutlich schon genug. Dann gäbe es für junge Menschen, die sich heute entscheiden, ihr Leben der Musik zu widmen, eine Zukunft.”

Apropos Zukunft: Einen Tipp an jüngere Produzierende hat Mathew Jonson auch. „Denkt nicht zu stark über das Endresultat eurer Musik nach, sondern hört zu – auf euch selbst. Und auf den Raum, in dem ihr Musik macht, und stimmt eure Instrumente nach dem, was ihr hört. Achtet auf Veränderungen: Selbst minimales Justieren von Faderposition, LFO-Timing oder Synthesizer-Parametern können eine große Wirkung haben. Besonders wenn man im Mixdown schon weit fortgeschritten ist”, so Jonson.

Davor muss das alles aber erst nach Lissabon (Foto: Elmar von Cramon)

Wenn er beginnt, einen Track zu mixen, könne er am Anfang ziemlich grobe Klangveränderungen darin vornehmen, ohne dass diese sofort auffallen, weil alles noch ziemlich unaufgeräumt klinge. „Erst wenn ich eine Weile daran gearbeitet habe, werden die Details deutlicher hörbar. Verändert sich die Lautstärke eines Instruments oder eines Filtersettings, hört sich der Unterschied vergleichsweise groß an. Realisiere ich, dass die Snare zu leise ist, ein Dezibel mehr aber schon zu viel wären, weiß ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin.”

Dabei helfe es, die Parameter innerhalb der DAW in möglichst feiner Auflösung zu editieren. Die Kunst sei, jedem Sound eine eigene Wertigkeit zu geben und Liebe zum Detail zu beweisen. „Die Schönheit der einzelnen Instrumente kann nur dann zutage treten”, so Jonson, „wenn man ihnen im Mix den Raum gibt, den sie benötigen, um zu glänzen.”

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