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Motherboard: August 2024

Wem das nicht herb genug erscheint, der sollte Titanoboa – dem mittlerweile Soloprojekt der in Köln lebenden Melanie Wratil – eine Chance geben. Ohne Lena Willikens ist das massive zweite Album Seth (A-Musik, 4. Juli) ein mehr als deutlicher Wink an die hiesige Industrial-Szene der Achtziger geworden. Fortführung und Hommage an eine Zeit, in der getauschte, überspielte Kassetten die Währung der Anti-Coolness waren und dreckigst verzerrte Synthloops mit gelegentlich überbrüllten, enigmatischen Textfetzen die Garanten der undergroundigen Obskurität wie einer europaweiten Zugehörigkeit zu einer Szene radikaler Noise-Afficionados. Wobei das generische Maskulinum damals noch weitgehend korrekt war, heute aber eben gar nicht mehr. Nicht nur deswegen ist Seth zwar durchaus avancierte Nostalgie, aber gerade darin ein wichtiger Beitrag zur Kontinuität und experimentell aufmischender Radikalität des Noise of Cologne in dieser musikalisch oft so selbstgenügsamen Stadt.

Dass gestandene Free-Jazzer auch Ambient machen können (und wollen), überrascht im Fall des Torontoer Gitarristen Colin Fisher nicht wirklich. Hat er seine E-Gitarre doch bereits für Techno- und Elektronik-nahe Acts wie Caribou oder Junior Boys gespielt. Wie locker und überzeugend allerdings sein radikal kratzig-verzerrter Improv-Feedback-Noise mit schwebenden Ambient-Sounds zusammengeht, ist doch erstaunlich und unerhört. Suns of the Heart (We Are Busy Bodies, 12. Juli) überlagert kompromisslose E-Gitarren-Zerknirschung und sphärisch-atmosphärische Flächen, ohne dass sich einer der beiden Klänge je über den anderen beschweren müsste.

Das kurzlebige St. Petersburger Trio mit dem nicht unbedingt Markerschütterndes erwarten lassenden Namen 2muchachos hat nur ein Album und eine Handvoll selbst verlegter CD-Rs, Tape-EPs und verstreute Samplerbeiträge gemacht. Dennoch war die Combo von Andra Evseeva, Vladimir Karpov und Dmitriy Borodin in der Dekade nach dem Jahrtausendwechsel so etwas wie die Keimzelle der russischen Modularsynthesizer-Avantgarde, aus der Projekte wie Andra Ljos, X.Y.R. und Miskotom hervorgingen – alle gerne gehörte Stammgäste dieser Kolumne. Eine vernünftig zusammengestellte Werkschau und Raritätensammlung war also längst überfällig, und Natura: 2009-2012 (Not Not Fun, 14. Juni) löst den Anspruch auf Übersicht und Vollständigkeit bestens ein. Wie damals sublimes Songwriting, Vintage-Sowjetsynthesizer, introvertierter Shoegaze-Spirit und jede Menge Talent zusammenkamen, ist einfach phänomenal.

Wo sich der Frühling und Sommer dieses Jahr sehr viel Zeit gelassen haben und mehr als zurückhaltend agierten, kommt die Frühlingskollektion von Muzan Editions aus Osaka keinesfalls zu spät. Vor allem weil sie etwas experimenteller und herausfordernder daherkommt als im langjährigen Ambientwetter-Mittelwert. Etwa das japanisch-US-amerikanische Duo von Jesse Perlstein & Shinya Sugimoto, die auf dem wie üblich wunderschön gestalteten Tape Fallen (14. Juni) vor Spannung knisternde Soundscapes collagieren, die mithilfe von Feldaufnahmen, synthetischen und akustischen Instrumenten auf einen unvorhersehbaren Klangtrip schicken. Es ist nicht ihre erste Kollaboration – für Perlstein, der ansonsten im Brooklyner Postrock-Trio Sontag Shogun spielt, wie für Sugimoto, der sonst am neoklassischen Ambient-Piano introspektive, Zen-inspirierte Miniaturen komponiert, allerdings definitiv ein Aufbruch ins Unbekannte.

Das Osakaer Duo DUP SYS agiert auf Pure Materials (14. Juni) ebenfalls unüblich üppig und Aufmerksamkeit einfordernd. Es schichtet massive Sounds über Sounds, dass es beinahe wie eine Fortsetzung des wohl ähnlich konzeptuellen Stadion-Ambient von The NRG klingt. Wer weiß, vielleicht stecken hinter dem Projekt ja auch Koki Mitani und Taisuke Hoshii. Ein weiteres außerordentlich gelungenes und in die Reihe passendes Album stellt Daarbuiten (Muzan Editions, 14. Juni) des Belgiers David Edren dar. Von den drei Kassetten der Muzan’schen Frühjahrslieferung ist es die sommerlichste und am nächsten an klassischen Fourth-World- und Kankyō-Ongaku-Ambient modellierte – mit wundervollen Sounds zwischen elektronischem Gamelan und Midori Takadas schwingenden Holzklöppeln.

Tatsächlich gut? Nun, der Hamburger Maskenmann Lambert kann auf Actually Good (Mercury KX, 30. August) der melancholischen Piano-Neoklassik mit instrumental hochklassiger Begleitung durch eine Jazz-Combo einiges Erwähnenswertes abgewinnen. Ein wenig kommt das Album wie ein gemütliches Nebenprojekt von Yann Tiersen daher. Also mit einer gewissen knorrigen Halsstarrigkeit (kein Wunder, wenn man immer ein Trumm von einer Holzmaske aufhat, das geht auf die Nackenwirbel), aber eben mit klarem Gespür für Pop.

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