burger
burger
burger

Motherboard: August 2024

Es ist eine große Kunst und noch größere Artistik, die Last der Welt auf den zarten Schultern zu tragen und dabei noch vaporös schwebend zu erscheinen. Unser aller Tränen schon immer für uns geweint zu haben, für unsere Sünden schon immer im Voraus gebüßt zu haben: Das ist Ekin Üzeltüzencis selbsterfüllende Aufgabe in ihrer Rolle als Ekin Fil. Was die Istanbulerin auf ihrem wer weiß schon wievielten, vielleicht 20. Album Sleepwalkers (The Helen Scarsdale Agency, 14. Juni) leistet, ist eine immer weitergehende Vertiefung und Verfeinerung von Wut und Trauer, die in gerade noch als solche erkennbaren Songs in geheimnisvoll-unbekannte Tiefen abtauchen, um auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden und nur ein melancholisches Echo ihrer selbst zu hinterlassen.

Es muss eine dieser raren Gelegenheiten gewesen sein, wenn sich der Nebel lichtet, eine ungeahnte Klarheit plötzlich einen Wegpfad aufzeigt ins Unbekannte, in etwas Anderes und genuin Neues. Die in London lebende und produzierende Italienerin Sofia degli Alessandri-Hultquist alias Drum & Lace scheint jedenfalls solch einen besonderen Moment erlebt zu haben, als sie ihr Album Onda (Fabrique Records, 21. Juni) konzipiert und aufgenommen hat. Nicht nur findet regelmäßig ein extrovertierter Beat den Weg unter ihre fragilen Ambient-Songs, das Album wirkt in allen Aspekten freier und selbstbewusster als je zuvor – bereit, sich der Welt zu stellen, bereit, nach draußen zu gehen, ins Neue, und doch die einmal entwickelte Sensibilität zu erhalten. Dass sie sich für diesen Weg mit einigen der profiliertesten Musiker:innen zusammengetan hat, die gerade die Denk- und Emotionsgrenzen von Jazz und Pop erweitern – etwa Patrick Shiroishi, Nailah Hunter oder Violetta Vicci – kommt noch erfreulich hinzu.

Exzessiver Gebrauch und Missbrauch von Auto-Tune ist zumindest unter abenteuerlustigeren Country-Folk-Anhängern kein absolutes No-Go mehr. Lambchop haben vorgemacht, wie die Authentizität – zumindest in einem erweiterten Verständnis – nicht zurückstecken muss, wenn die Stimme unter Schichten von Elektronik zum ganz eigenen Instrument wird. Was ja gerade im Kontrast zu einer ansonsten akustischen Besetzung besonders gut zur Geltung kommt. Nun, die Pariser Songwriterin und Produzentin Lucy Sissy Miller führt diese De- und Rekonstruktion auf Pre Country (Métron, 31. Juli) in ungeahnte Extreme, ohne deswegen extrem experimentelle oder artifizielle, speziell ausgedacht klingende Musik zu machen. Nein, es sind einfach stolpernde, schlingernde, widerhakende Songs. Und was für welche!

Die multiplen Leben des Simon Fisher Turner wären für sich genommen jeweils schon eine Künstlerbiografie wert, vom Beinahe-Popstar im Großbritannien der frühen Siebziger zum Schauspieler der Brit-New-Wave zu Derek Jarmans Soundtrack-Hauskomponisten zum altmeisterlichen Ambient-Allrounder, dem es immer wieder gelingt, die interessantesten Kollaborationen aufzutun, etwa mit Terre Thaemlitz, Klara Lewis oder dem Autor Edmund de Waal. Fisher Turners jüngstes Großwerk Instability Of Signals (Mute, 2. August) bewegt sich vorwiegend im Bereich kargen Ambients und fragmentarischer Neoklassik, bringt allerdings erstmals nach über vier Jahrzehnten wieder seine inzwischen zerbrechlich und rau gewordene Stimme ins Spiel. So wechseln an Dark Ambient orientierte Instrumental-Miniaturen mit elektronischen Songs. Und wie frisch und jugendlich das klingt, gegen alle unüberhörbare Fragilität.

Werden in unendlicher Regression der Abstraktion japanischer City-Pop und japanische Kankō Ongaku und New-Age-Sounds zur selben musikalischen Lösung konvergieren? Die experimentelle Anordnung Bitokagaku (Not Not Fun, 19. Juli) des Tokioter Produzenten-Kollektivs UNKNOWN ME jedenfalls nimmt dies als Arbeitshypothese und macht daraus etwas beeindruckend ungehört Neues und, vielleicht noch beeindruckender, weil so unwahrscheinlich: etwas unmittelbar verständlich Hörbares. Hätte sich Vaporwave nicht zwischen Sarkasmus und kritischen Gesten verloren, vielleicht wäre etwas Ähnliches daraus entstanden. Umso wertvoller ist das japanische Projekt, das den Weg von New Age und Wellness-Klängen völlig angstfrei und unzynisch zu Ende denken vermag.

In diesem Text

Weiterlesen

Features

Renate: „Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir finanziell nicht mehr können”

Die Wilde Renate muss Ende 2025 schließen. Warum der Mietvertrag nicht verlängert wird, erklärt Pressesprecherin Jessica Schmidt.

Awareness bei Rave The Planet: „Eins ist klar: Die große Hilfsbereitschaft innerhalb der Szene war und ist real”

Awareness auf einer Parade ohne Einlass und Tickets? Wir haben das zuständige Team bei Rave The Planet zu dieser Herausforderung interviewt.

Tanith: „Früher war man froh, dass alle Generationen auf einem Floor funktionieren”

Ageismus in der Technoszene? Durchaus ein Problem, meint Tanith. Im Interview erklärt er, was sich ändern muss.