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Mai 2024: Die essenziellen Alben (Teil 1)

Big Dope P –  Toto La Castagne (Moveltraxx)

Endlich kann man wieder mit bunten Eiswürfelgetränken draußen rumsitzen und alles schön finden: Schankvorgartenkonstruktionen neben Durchfahrtsstraßen, Duschgel mit Gutelaunegarantie. Oder dieses Album von Big Dope P. Der kommt eigentlich aus Paris, macht aber was in London. Ein Label zum Beispiel. Moveltraxx ist die Concorde der Gegenwart, in zwoeinhalb Klicks ist man drüben, in Chicago oder Miami, dort gibt es Ghettoblastergefühle plus Juke mal Bass dividiert durch Disco und die Quadratwurzel aus Footwork. Wer das auf dem richtigen Lösungsweg hinbekommt, sollte Toto La Castagne rausbekommen.

Das ist der Querschnitt von Big Dope P, ein Features-gefeaturetes Album von und für Menschen mit Cabriovordächern – die sind im Vorteil, das Ding gehört ja laut gespielt im öffentlichen Raum auf unvernünftig vielen Rädern, das spielt dann alles hinein in dieses Schattenraus-Sommerrein-Gefühl. Was eigentlich viele Gefühle auf einmal sind, ist nämlich alles drin in diesem bunten Signaturedrink, vor allem die Wirkformel. Christoph Benkeser

FJAAK – FJAAK The System (FJAAK)

Aus drei mach zwei. Nachdem Kevin Kozicki das Spandauer Techno-Trio (ehemals vier) 2019 verlassen hat, kommt hier das erste FJAAK-Album seit sechs Jahren. Und das erste in Zweier-Besetzung. Weniger Mitglieder ist gleich mehr Produktivität; so scheint es erst mal, sieht man sich die 23 Tracks starke Liste von FJAAK THE SYSTEM an. Ob das alles seine Daseinsberechtigung hat? Auf dem Opener „Unity” kündigt US-Producer und Vokalist Red Eye an, dass wir jetzt zusammen jacken werden – eine nette Idee, wirkt aber etwas gewollt, sich im Erbe von Fingers Inc. zu platzieren. Die bereits vorab veröffentlichte Single „And You Feel” haut dann aber ordentlich rein und zerstreut alle Zweifel, mit schweren Breakbeats und Rave-Sample – erinnert in seiner Auf-Den-Punkt-Gebrachtheit an den guten Shed. „Redemption” verwandelt ebenso treffsicher die Acid-Rave-Stampfer-Vorlage.

Es folgt Austauschbares. Die Kollabo mit den Ziehvätern von Modeselektor ist aber überraschend industriell-abstrakt, als hätte man sich im Studio einfach freie Hand gelassen, ohne Rücksicht auf Zugänglichkeit zu nehmen. Insgesamt fällt die kurze Spieldauer vieler Tracks auf, die sich zwischen zwei, drei Minuten bewegen und wenig Raum zur Entfaltung lassen. FJAAK sind eben auch Repräsentanten einer jüngeren Generation, deren Musikkonsum anders stattfindet. Für eine herkömmliche LP aber wirken viele der Stücke dadurch eher wie Skizzen, denen ein EP-Release vielleicht besser getan hätte. Leopold Hutter

L.B. Dub Corp – Saturn to Home (Dekmantel)

Auf sein Projekt L.B. Dub Corp greift der Produzent Luke Slater gern zurück, wenn es nicht so klar definiert zugehen soll. Keine reinen Techno- oder Ambient-Geschichten, und selbst der im Namen geführte Dub muss nicht ständig zugegen sein. Slater bringt ihn auf dieser Platte, dem ersten Album unter diesem Alias seit 2018, dafür gleich ein paarmal ins Spiel.

Auf „Golden Star” kann die Sängerin Alexandra Grübler von Baal & Mortimer die Echos um sie herum für ein wenig Introspektion nutzen, und der unvergleichliche Paul St. Hilaire steuert seinen flüsternd angetoasteten Singsanggesang zu einer retrofuturistischen Dub-House-Nummer bei. Das ist nicht nur einer der Höhepunkte der Platte, sondern zeigt auch, worum es Slater hier wohl geht: Songwriting für den Club. Dass ein Track wie „Krank” von fern an seinen frühen Klassiker „Freek Funk” erinnert, stellt keinen Widerspruch dar, sondern zeigt einfach, dass die Sache offen angelegt ist. 

Als Coup hat sich der Techno-Veteran Slater für „You Got Me” den House1-Veteranen Robert Owens hinzugeholt. Die Zusammenkunft enttäuscht nicht, das Ergebnis überzeugt als moderat nostalgische Deep-House-Hymne mit obligatem Klavierpart. Selbstironie gehört zur Inszenierung bei Slater übrigens ebenfalls dazu: Das Cover zeigt sein Konterfei mit den Ringen des titelgebenden Saturn um den Kopf, was bei ihm aussieht wie ein breitkrempiger Hut im Stil der Amische. Tim Caspar Boehme

Matrixxman – Identity Crisis (The Grid)

Charles McCloud Duff alias Matrixxman kennt sich in vielen Bereichen der elektronischen Musik aus, hat Hip-Hop-Acts produziert, das weite Feld von UK-Bass-Music durchkämmt und mit Depeche Mode gearbeitet. In der Clubszene ist er aber vor allem für Acid-Minimalismus und ravige Technotracks bekannt.

Nun kommt also Identity Crisis – plakativer könnte ein Albumtitel kaum sein. Und wie so oft in dieser Lebensphase tauchen Geister der Vergangenheit auf, im guten wie im anstrengenden Sinne. Wir wissen nicht, wie Matrixxmans Dämonen ihm gesonnen sind und wie ernst er dieses Thema überhaupt meint, feststeht, dass seine Vergangenheitsbewältigung aus einer Rückbesinnung auf Dubstep und das ihm Verwandte besteht und die komplette Palette von clubbig bis sofakompatibel abdeckt.

Identity Crisis ist eine Liebeserklärung an den Wobble-Bass, aber auch an Songs und Gesang – von souligen Frauenstimmen bis hin zu Dancehall-Toasting. Der viele Matrixxman prägende trockene Sound ist auf Identity Crisis einer vielschichtigen Produktion gewichen. Duff benutzt neben den genretypischen Hall- und Delayeffekten auch für seine Vita eher ungewöhnliche Klänge wie einen warmen Flöten-Sound in „aLwAyS” oder die an Sechziger-Science-Fiction-Soundtracks erinnernden Chöre im finalen „Distant Future”.

So komplex und very british die Produktion des Amerikaners ist, die Verbindung zu Duffs luftiger Handschrift, zu seiner Fähigkeit, Reduktion auch auf hohem Energie- und Emotionslevel als ästhetische Kontrollinstanz walten zu lassen, findet sich erfreulicherweise auch in den aktuellen Tracks. Mathias Schaffhäuser

Mixmaster Morris, Jonah Sharp & Haruomi Hosono – Quiet Logic (WRWTFWW) [Reissue]

Man darf das durchaus ein Treffen von Giganten nennen: Ambient-Legende Mixmaster Morris und San Franciscos Jonah Sharp, Chef des nicht minder legendären Electronica-Labels Reflective, fanden sich 1997 in Haruomi Hosonos Studio in Japan zusammen, um Quiet Logic aufzunehmen. Womit wir bei der dritten, sicherlich größten Legende des Trios wären. Ist Hosono doch nicht nur durch seine zahlreichen, höchst eklektischen Soloalben bekannt, die er seit den Siebzigern veröffentlichte. Er ist auch, mit Ryūichi Sakamoto und Yukihiro Takahashi, Gründungsmitglied des Yellow Magic Orchestra, Japans kongenialer Antwort auf Kraftwerk. Man durfte also durchaus erwarten, dass bei dieser Begegnung etwas Formidables entsteht. Und so geschah es denn auch.

Sechs lange, mäandernde Ambient-Tunes finden sich auf diesem Release, das hiermit zum ersten Mal, nach der CD-Veröffentlichung 1997, auf Vinyl erscheint. Vier davon haben Morris und Jonah zusammen produziert, bei zweien fungiert Hosono als Co-Autor. Alle wirken dabei wie aus einem Fluss. Wobei „Fluss” genau das richtige Wort ist, um diese schweifenden Sphären-Meisterwerke zu beschreiben – ewig fließende, sich immer wieder verpuppende und neu aus sich selbst heraus schlüpfende Tracks zwischen Ozeanen aus Delay und Reverb. Meisterhaft verbinden die zwei beziehungsweise drei Produzenten Labyrinth-artig in sich verschachtelte Ambient-Ebenen mit Electronica-Artefakten und entspannten Breakbeat-Passagen, Ambient-Drum’n’Bass, wenn man so will. Musik auf jeden Fall, in die einzutauchen eine Wonne ist. Tim Lorenz

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