burger
burger
burger

DJ-Kicks: 10 signifikante Sets aus der Mix-Serie von !K7

Seit fast drei Jahrzehnten zählt die DJ-Kicks-Serie des Berliner Labels !K7 zu den einflussreichsten Mix-Reihen der elektronischen Musik. Was 1995 unter der Leitung des kürzlich verstorbenen Labelgründers Horst Weidenmüller begann, entwickelte sich rasch zu einem musikalischen Zeitdokument, das verschiedene Epochen, Stile und Strömungen der Clubkultur einfängt. Weidenmüller, der !K7 zu einer der wichtigsten Plattformen für elektronische Musik machte, erkannte früh, dass DJs nicht nur Techniker am Plattenspieler sind, sondern auch Kuratoren mit einer einzigartigen Handschrift.

Mit DJ-Kicks schuf er eine Serie, die es Künstler:innen ermöglichte, ihre musikalische DNA fernab klassischer Dancefloor-Funktionalität zu offenbaren – oft mit mutigen, überraschenden Tracklists und einem erzählerischen Anspruch, der über bloßes Mixing hinausging.

In dieser Auswahl blicken wir auf zehn Sets, die die Geschichte von DJ-Kicks definiert haben. Mit dabei sind etwa Kruder & Dorfmeister, deren Beitrag 1996 als frühes Meisterwerk des Downtempo-Sounds gefeiert wurde, oder Erlend Øye, der 2004 als einer der ersten eine DJ-Kicks-Ausgabe mit eigens eingesungenen Vocals versah und so neue Maßstäbe setzte. In jüngerer Zeit haben Künstler:innen wie Peggy Gou und DJ Boring gezeigt, wie sich die Serie weiterentwickelt – Gou mit einem verspielten, genreübergreifenden Set, das ihre Liebe zu House und Disco spiegelt, und Boring mit einem emotional tiefgründigen Mix zwischen Breakbeats und UK-Garage.

Diese zehn Mixe stehen exemplarisch für den Stellenwert, den DJ-Kicks bis heute hat. Sie zeigen, wie sich musikalische Narrative über Genregrenzen hinweg entfalten und warum die Serie bis heute DJs eine besondere Plattform bietet, um ihre Vision von elektronischer Musik zu präsentieren. Dabei geht es nicht nur um Technik, sondern um Persönlichkeit, um musikalische Handschrift – und darum, eine Geschichte zu erzählen, die über die Länge eines einzelnen Clubsets hinausreicht.

CJ Bolland (1995)

Erinnert ihr euch noch an die Zeiten, in denen Techno Zukunftsmusik war? Ich mich auch nicht. Definitiv mitgeschnitten hat sie aber CJ Bolland, der drei Jahre nach der Veröffentlichung seines Überhits „Camargue” die erste DJ-Kicks überhaupt mixen durfte. Darauf bollert Techno, der roher, imperfekter und, man mag’s kaum glauben, weniger digital klingt als heute und noch nicht vom gleichförmigen, moderaten Groove-Diktat von Berghain und Konsorten beeinflusst ist.

Bollands Mix beschießt die Ohren aus allen Lagen – mit ramponierten Hi-Hats, spröden Clap-Feuerwerken und unkontrolliertem Acid. Für die melodische Komponente bürgt zudem ein Trance-Einschlag, der gemeinsam mit den Säurespuren im Wechsel stresst. Bandulu laden zwischenzeitlich mit Spiral-Tribe-Spiritualität zur Selbsterkundung ein, zwei Tracks später zieht B.C.s „Stronghold” mit Dub-Breakbeats unter die Wasseroberfläche. Es sind diese abrupten stilistischen Brüche, die Bollands Mix aus gegenwärtiger Perspektive so interessant machen. Nicht nur als faszinierendes Zeitdokument, auch aufgrund der Reibung, die an den Nähten der Tracks entsteht. Darin lässt sich am ehesten die Maxime erkennen, für die die Serie heute steht: Einen Mehrwert in den eigenen vier Wänden zu bieten. Maximilian Fritz

Kruder & Dorfmeister (1996) 

Angefangen hat bei !K7 alles mit hochwertiger Clubmusik von DJ Hell bis Carl Craig. Seinen Durchbruch hatte das Label aber mit der Negation des Clubs. Die DJ-Kicks von Kruder & Dorfmeister schufen mit THC-induzierter Gediegenheit aus dem Wiener Kaffeehaus einen perfekten Gegenentwurf zum teutonischen Love-Parade-Geballer, wie ein Kritiker damals schrieb. Tatsächlich holten die wuchtigen Trip-Hop-Grooves, der dubbige, tiefe Klangraum und der am Jazz geschulte tonale Reichtum die ab, für die Techno monoton, stumpf und atzig wirkte.

Das Geniale dieses Mixes liegt nun darin, dass die beiden Wiener nicht nur den bürgerlichen Backlash gegen „die ravende Gesellschaft” (Westbam) zelebrieren, sondern die DJ-Kunst durchaus auch auf eine andere Ebene heben. Während klassische Techno- oder House-DJs immer auch Genre-Standards bedienen, zum Beispiel, indem sie Hits spielen, schufen K&D ihren eigenen Klangkosmos, der sich aus einem gänzlich unerwarteten Repertoire von Tracks speiste. Alexis Waltz

Kemistry & Storm (1999)

Bei gelegentlichen Peergruppenversammlungen wie Klassentreffen oder HNO-Wartezimmern hört man den bösen Satz hinter vorgehaltener Hand. Früher, ja früher, da war alles besser. Die Wolken: besser. Autoschlüssel: besser. Krabbelkäfer: besser. Ach herrje, sogar die Musik: besser, besser, besser. Da nicken dann alle und klopfen sich auf die Schulter und sagen: Schön, dass wir das noch erleben durften. Weil ohne das wöchentliche Komasaufen von damals wäre ich nicht Yogatrainerin auf Koh Samui geworden. Tja, Beate. Gut für dich. Ich finde, früher war das alles auch schon nicht so toll. Aber die Ausreißer haben einen halt wirklich rausgerissen.

Ein Beispiel: die DJ-Kicks von Kemistry & Storm. Das Ding landete über eine Freundin und deren Bruder und dessen Kontakte zu irgendwem in meinem Privatbesitz. Und lief dann jeden Tag, fünfhundertmal. Ich wusste zwar nicht, was das war, Breakbeats, Drum’n’Bass, nie gehört. Ich wusste ja nicht mal, wer das war, diese beiden, auf dem Cover. Ungefähr so cool wie Heike Makatsch und Mate Galić bei der Mayday-Übertragung. Ich wusste nur, das ist ein Sound, der Sound! Und wenn ich heute diese CD finden würde, bei einem zufälligen Garagenfund – ich wüsste sofort, bei wie vielen Sekunden mich dieses anzügliche Saxofon wieder umtröten würde. Bei 28:03 nämlich. Christoph Benkeser

Tiga (2002)

2Raumwohnung, Chromeo, Soft Cell und nicht zuletzt der verantwortliche DJ und Producer selbst – die Tracklist von Tigas DJ-Kicks zeigt, was die Stunde Anfang der Zweitausender geschlagen hat: Pop und elektronische Tanzmusik clashen. Und das geschieht entgegen aller Unkenrufe überaus fruchtbar und gibt den Poptimist:innen auf dem Dancefloor recht. Nach der Aufgekratztheit der Neunziger (siehe CJ Bolland weiter oben) und vor der minimalen Narkotisierung der späteren Zweitausender zelebriert elektronische Tanzmusik einen ästhetischen Karneval, bei dem alles geht und alles muss – außer Tristesse und übermäßige Härte.

Tiga sitzt dabei dem Festkomitee vor und lässt über bummelnden Beats allerlei Vocals und sogar Refrains zur Entfaltung kommen. Das bekommt er hin wie kein anderer: Sein Mix besteht aus besonders einprägsamen Minuten voller querschießender Synths, Slap-Bass-Salven und fordernder Vocals, die die einen Klimax nach dem nächsten beschwören, sich zwischendrin aber auch mal kurzen Leerlauf genehmigen. Es ist, als stünden die Sänger:innen neben dem auflegenden Tiga am Mikrofon und warteten geduldig auf ihren Einsatz. Dieser Live-Charakter, das Warten auf den nächsten Schuss, hält nicht nur bei der Stange. Es macht süchtig. Maximilian Fritz

Erlend Øye (2004)

​​DJ-Kicks ist wohl die bekannteste DJ-Mix-Serie überhaupt. Paradoxerweise erlangte !K7 diesen Status, indem sich die DJ-Kicks von der Clubmusik lösten und sich vom Einerlei aus Techno, House und Breakbeats, etwa der Fabric-Live-Serie, befreiten.

Mit Kruder & Dorfmeister und besonders Erlend Øye erschlossen sich die Labelmacher aus Berlin-Tiergarten auch Musikstile, die mit DJ-Musik nicht direkt etwas zu tun haben und sich eher aus dem Crossover von Indie und Elektronik speisen, das in den Neunzigern und Zweitausendern virulent war. Erlend Øye steht dafür wie kaum ein anderer Act.

Als Sänger der Kings Of Convenience und von The Whitest Boy Alive, die nach eigener Aussage Popmusik zum Tanzen machten, trieb Øye diese Entwicklung zusammen mit Acts wie LCD Soundsystem oder The JuanMcLean voran. Dabei macht Øye nicht einfach nur Tanzmusik für Leute, die lieber Pop hören. Øye schlägt unerwartete musikalische Brücken – etwa zwischen seinem eigenem Depeche-Mode-affinen „Sheltered Life” und dem Kölner Minimal House von Jürgen Paape, der mit einem Hildegard-Knef-Sample einen eigenen Pop-Bezug herstellt. Alexis Waltz

Breach (2013)

Zwischen Melancholie, minimalistischem Techno und House-Klassikern gibt Breach mit diesem Mix einen Einblick in die musikalische Vielfalt, die Ben Westbeech als Produzent und DJ aufweist. Die Trackauswahl spiegelt seine Vielseitigkeit und sein Gespür für tiefe, groovige Klänge. Der Einstieg mit dem atmosphärischen „Triangle Vision” von Wire People führt langsam in eine Reise voller introspektiver und energetischer Momente. Zwischendurch sticht vor allem der Track „Hoyle Road“ heraus, der abseits der rhythmischen Beats mit tropischen Xylophonklänge und Vocals in andere Sphären abdriften lässt. Der Mix wechselt geschickt zwischen verschiedenen Stimmungen und Tempi. Seinen eigenen Track „Beroving” mischt Breach gekonnt ins Gesamtbild und demonstriert sein Können als DJ wie auch sein Schaffen als Produzent. Fließende Übergänge und eine stimmige, zusammenhängende Atmosphäre ziehen sich durch den Mix. Jacob Runge

Moodymann (2016)

Die einzig treffende Beschreibung für diese berüchtigte DJ-Kicks: eine wunderbare Synthese. Jazz, Funk, Soul, Blues, House, Liebeskummer und Verliebtheit verschmelzen hier zu einem großen Ganzen. Bei dieser unerwarteten Mischung ist es fast überraschend, wie gut alles zusammenpasst – als ob man in Moodymanns Lebensbuch blättern würde. Aber genau das macht den legendären Detroiter aus. Moodymann ist in so vielen Dingen einzigartig – er spielt nicht nur die größten Hits, sondern schafft für seine Hörer:innen ein intensives Erlebnis. Es ist, als würde er seine Welt mit uns teilen und dabei etwas zutiefst Menschliches vermitteln. Man kann sich fast vorstellen, in seinem Wohnzimmer zu sitzen und seine private Plattensammlung zu hören – eher Mixtape als klassisches DJ-Set. Ein absolutes Highlight ist Sandy Riveras „Classic Mix” von „Fall For You” – ein Track, der die Leichtigkeit frischer Liebe einfängt und eine Atmosphäre schafft, die an warme Sonnenuntergänge und unbeschwerte Momente erinnert. Jacob Hession

DJ Tennis (2017)

Auf einem Hügel sitzend, Augen geschlossen, die frische Luft einatmen, die von den schwingenden Bäumen umspielt wird – so oder so ähnlich muss DJ Tennis sich den Beginn dieses Sets vorgestellt haben. Der italienische DJ und Produzent ist bekannt für seinen eklektischen Stil, der Elemente von House, Disco und Techno vereint. Und genau das macht er in diesem Mix.

Erst hört man das Regenprasseln und ambiente Klavierakkorde. Diese gehen über in einen pulsierenden Rhythmus, der irgendwo zwischen Electro und IDM schwebt. Wie man es nennt, ist egal, es bleibt auf jeden Fall sehr reflektiert, bis sich DJ Tennis zum Dancefloor wendet. Aber nicht zum vollen, überfüllten. Zwischen House und Techno, mit Tracks wie Traumprinz‘ „I Love Ya und Robert Hoods „Escapes”, entstehen pulsierende Bässe, die dennoch die Ruhe eines Opening-Sets beibehalten, bevor Kenny Dixon Jrs. „Soul Sounds” für einen frischen Twist sorgt. Es ist genau dieser Zusammenbruch im Aufbau, der den Mix in seiner melancholischen Basis ausbalanciert, während die langen Übergänge dem Set eine ununterbrochene Fließkraft verleihen. Der Fluss wird von einer stetigen Nachdenklichkeit getragen, die den Moment des Glücks verweigert, der nach einer Welle der Traurigkeit normalerweise folgt. Stattdessen hält DJ Tennis in einem Zustand der Spannung und des Loslassens, Teil eines nachdenklichen emotionalen Bogens: Melancholie trifft auf Bewegung. Jacob Hession

Peggy Gou (2019)

Keine Ahnung, ob das superrepräsentativ ist für das, was Peggy Gou aktuell so macht. Da kennen sich andere aus, die können sich ja gerne melden. Aber ihre DJ-Kicks, die von 2019, die mit dem coolen Tiger drauf – an die denk‘ ich manchmal gerne, und das wird sich auch nicht ändern, nur weil da jetzt ein paar Millionen oder Milliarden oder so auf Like drücken, wenn Peggy in Thailand ein Selfie macht.

Ich mein‘, ein guter Griff ist ein guter Griff. Den hat man, oder man hat ihn halt nüscht, sagt Jürgen in der Schraubenabteilung. Außerdem reicht bei der Musik ja meist ein flüchtiger Blick in die Liederliste, da weiß man sofort: Pearson Sound, DMX Krew, Aphex Twin. Das kann jetzt nicht kategorisch abkacken. Wenn man dann noch so halbwegs mutige asiatische Einflüsse reinmischt, kling bim peng, dann ist das quasi interkultureller Brückenbau. Und so höre ich sie wieder, diese DJ-Kicks, die von 2019 und Peggy Gou. Und ich denke mir, wenn die das heute noch so machen würde, dann müsste man da fast mal hin. Oder? Christoph Benkeser

DJ Boring (2024)

DJ Boring steuert mit seiner exklusiven DJ-Kicks Auswahl eine energiegeladene, nostalgisch aufgeladene Mischung bei. House, Breaks und hypnotische Grooves werden miteinander verbunden. Die Tracks schwingen zwischen euphorischen Höhen und introspektiven Momenten, während markante Percussions und warme Texturen von Synthesizern eine tanzbare Atmosphäre schaffen. Seine Handschrift ist in jedem Moment erkennbar: eine Mischung aus verspielten Experimenten, nostalgischen Referenzen an die goldenen Zeiten des House und tiefgründiger Klangästhetik, die sowohl auf dem Dancefloor als auch im Kopfhörer funktioniert. Es sind Tracks, die die Balance zwischen roher Energie und emotionaler Tiefe halten. Ein Sound, der bewegt, ohne vorhersehbar zu sein. Jacob Runge

In diesem Text

Weiterlesen

Features

GROOVE Leser:innenpoll 2024: Die Ergebnisse

Im GROOVE-Leser:innenpoll kommt ihr zu Wort. Welche DJs habt ihr gefeiert? Welche Tracks liefen auf Repeat? Was hat euch persönlich bewegt?

Mischa Fanghaenel: „Es wird den Moment geben, in dem wir uns angrinsen”

Mischa Fanghaenel ist Fotograf. Und Türsteher. Die Überlagerung seiner beiden Tätigkeiten brachte das Projekt „NACHTS” hervor. Wir haben ihn dazu interviewt.

Quelza: Das Streben nach dem reinen Ausdruck

Quelza hat sich in den letzten Jahren als DJ und Produzent profiliert. Wie der Franzose überhaupt zu Techno kam, lest ihr im Porträt.