Teil 1 der essenziellen Alben aus dem März findet ihr hier.
Cristian Vogel – presents NEL Adventures (EPM Music)
Ein Abenteuer in der Welt des in Chile geborenen Techno-Produzenten Cristian Vogel verspricht Cristian Vogel presents NEL Adventures. Ein Versprechen, das locker eingelöst wird. Waren seine vorausgegangenen NEL-EPs für sich genommen schon spannend, zeichnen sie zusammen mit zwei bis dato unveröffentlichten Tracks – dem vorwärtstreibenden „Gullane” und dem teils sphärischen „Earthsea” – ein großes Ganzes. Cristian Vogel hat in England Musik des 20. Jahrhunderts studiert, im Studio erste Erfahrungen gesammelt und machte dann mit seinem großartigen Breakthrough-Album Beginning To Understand weltweit auf sich aufmerksam. Musikalisch so sozialisiert, erklären sich die perfekten Arrangements seiner Musik. Dem Zufall wird nichts überlassen, Komposition ist angesagt.
Bescheiden beschreibt Vogel im Pressetext seine Musik als „analoge Rhythmen, Texturen und Beats mit einem improvisierten Fluss”. Improvisation ist das gewisse Etwas, der kleine, aber feine Unterschied, der seinen Stücken wie dem expressiven „Mirabelle”, dem dunklen „Shadowgraphs” oder dem treibenden Neuzugang „Gullane” Leben einhaucht. Trotz straighter Rhythmen gibt es immer wieder ein Auf und Ab, ein Ein- und ein Ausatmen. Vogels Musik ist eben von einer beachtlichen musikalischen Vielfalt im technoiden Kontext geprägt. Und er vergibt nicht etwa zufällig die Namen seiner Stücke. „Orchid” erblüht langsam und grazil wie eine Orchidee. Oder „Tyrkisk Pepper”, das den Dancern mit Synth-Flächen verwobenen Pfeffer gibt. Eine Gesamtschau über die NEL-Musiken des Cristian Vogel, der sich ohne „h” schreibt. Unterschiede müssen sein. Liron Klangwart
Heavee – Unleash (Hyperdub)
Ja, es ist ein reichlich angestaubtes Klischee, Alben mit Filmen oder Erzählungen zu vergleichen. Aber, wie es so ist mit Klischees, es gäbe sie wohl kaum, wenn nicht auch etwas dran wäre an ihnen. So oder so, Unleash verdient jedes Gleichsetzen mit großen Epen, ob filmischen oder literarischen. Der aus Chicago stammende und der Footwork-Szene zugeordnete Daryl Bunch Jr. entwickelt auf seinem zweiten Album über 14 Tracks einen bildhaften Flow, der, auch wenn man kein Wort versteht, in eine Geschichte hineinzieht, die jenseits von Inhalt rein emotional und – hey, wir reden hier immer noch von Musik – rein musikalisch funktioniert. Footwork steckt nur ganz grob das Terrain ab; das Herz etlicher Stücke schlägt tatsächlich irgendwo bei 160 BPM. Aber wie es so schön im Werbetext zum Album heißt: „Footwork eats all”. Und dieses „alles” meint alle möglichen Genres. Und eben nicht nur die naheliegenden wie R’n’B, Hip-Hop und Grime. Über Jazz geht es auf Unleash schnell in Richtung IDM, und die Dancefloor-Gene haben natürlich einen hohen Verwandtschaftsgrad zu Detroit-Techno und, na klar, Chicago-House. Mit jedem Track wird die Geschichte verästelter und komplexer, und es wäre absolut kein Wunder, wenn schon irgendwo Graphic-Novelist:innen und Theater- oder Filmregisseur:innen an entsprechenden narrativen Umsetzungen sitzen würden. Mathias Schaffhäuser
Ike Yard – 1982 (Dark Entries)
Man war ja selbst nicht dabei. Und das New Yorker Quartett Ike Yard gehörte seinerzeit auch nicht zu den Bands, die besonders viele kannten oder auf die sich viele Kollegen als Einfluss berufen hätten. Was eine gute Sache ist, denn so kann man das Material auf 1982 mit frischen Ohren hören. Mehrheitlich ist es jedenfalls unveröffentlicht (vier der zehn Titel erschienen 2006 schon auf der Compilation 1980-82 Collected). Ob Suicide-Fans das, was Ike Yard vornehmlich mit Drumcomputer und Synthesizer zelebrierten, damals wohl als zu sparsam empfunden haben? Denn Ike Yard hatten einen wunderbar stoisch-reduzierten Ansatz, der auf eine so obsessive Art apathisch daherkommt, dass man staunt, wie sie mit derart wenigen Mitteln eine Wirkung erzielen, die dringlicher sein kann als die maximalen Ansätze einiger ihrer No-Wave-Mitstreiter. Die Schönheit im Kaputten braucht bei ihnen weder herausgeschrien noch dem Publikum eingehämmert zu werden. Stotternder Beat, atemlos stammelnder, fast stimmloser Sprechgesang und scheinbar zufällig dazwischen fiepende Synthesizer erweisen sich als stringent zusammengefügte Spuren mit einem herrlich nihilistischen, zugleich nervös zuckenden Minimalfunk als Ergebnis. Die mehr als 40 Jahre Wartezeit haben der Sache kein bisschen geschadet. Tim Caspar Boehme
Jensen Interceptor – Jensen & Friends (International Chrome)
Die Chromfelge ist auf Hochglanz poliert, denn Jensen Interceptor fährt wieder um den Globus. Mit der Mission, musikalische Freundschaften zu stärken und Ghettotech aller Couleur in die Welt hinauszutragen. Der australische DJ und Produzent hat sich unter anderem mit der Reihe International Chromies in den letzten Jahren ein Netzwerk von Künstler:innen aufgebaut, die sich bestens darauf verstehen, knüppelharte Breakbeats mit dem gewissen Ass-Shake-Faktor zu versehen und Dancehall-Basslines auf den Technofloor zu bringen.
Ebenjenes Netzwerk wird nun genutzt, um eine Compilation aus zwölf internationalen Kollaborationen zwischen dem Labelmitbegründer von International Chrome und diversen Gästen auf die Beine zu stellen. So geben sich beispielsweise Dagga aus Venezuela, CRRDR aus Kolumbien oder Sinistarr aus Detroit die Klinke in die Hand. Die Tracks variieren dabei zwischen verspielt und ultra-rough, schlagen aber stets ein wie eine Bombe, die in der Lage ist, die Urgewalt des Dancefloors zu entfesseln. Denn irgendwo zwischen Baile Funk, Techno und Electro liegt der unwiderstehliche Sweetspot, an dem eine düstere Tanzfläche und ein augenzwinkernder Hüftschwung in perfekte Symbiose miteinander treten. Till Kanis
Jlin – Akoma (Planet Mu)
Wenn Produzenten von Clubmusik ihre Kernkompetenz zugunsten von „Kunstmusik”, hier mal der Einfachheit halber als Musik für andere Zwecke als die Tanzfläche bestimmt, vernachlässigen, sorgt das mitunter für Brauenheben. Und auch wenn Simon Reynolds mit seiner Begriffsprägung conceptronica vor fünf Jahren keine bleibende Erweiterung des aktiven Wortschatzes gelungen sein mag wie seinerzeit mit seinem Hit Retromania, bleibt ein Grundverdacht: Geht so eine Anbiederung an den Kunstbetrieb nicht auf Kosten der Hauptaufgabe von Produzenten, die Leute zum Tanzen zu bringen? Nun dürfte der Konsens in dieser Frage seit der Pandemie spätestens jedoch geschwunden sein. Zudem war aufregende elektronische Musik, egal in welchem Zusammenhang entstanden, eigentlich schon immer etwas, das einfach wegen der spezifischen Art und Weise, wie darin Klänge und Beats verschaltet werden, interessant ist, begeistert und mühelos ohne direkten Körpereinsatz gehört werden kann.
Footwork, wie Jlin ihn betreibt, ist bei ihr stets eine Neukombination von Elementen, die innerhalb allzu enger Grenzen kaum lebensfähig scheinen. Konzept oder nicht, in ihren Tracks überträgt sich mehr als der bloße Appell an den Körper, bitteschön mitzumachen. Auf Akoma macht sie das erneut so deutlich, dass man beim Hören das Denken am besten allein auf das richtet, was diese Musik transportiert, was in ihr geschieht. Unabhängig davon, was man alles so an Vorannahmen an sie heranträgt. Gegebenenfalls bitte nicht davon abschrecken lassen, dass Björk, Philip Glass und das Kronos Quartet als Gäste dabei sind. Abgehangen? Nein. Fresh? Ja! Tim Caspar Boehme