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Februar 2024: Die essenziellen Alben (Teil 2)

Paranoid London – Arseholes, Liars and Electronic Pioneers (Paranoid London)

Gerardo Delgado und Quinn Whalley alias Paranoid London versetzen mit dem Opener ihres dritten Albums an das Ende der Party, nein, des Rave-Wochenendes und in eine Zeit, die rückblickend leicht und sorglos erscheinen mag – was natürlich blanke Illusion ist: Primal Screams Bobby Gillespie singt in „People (Ah Yeah)” über einen gefilterten Background, aus dem nicht nur fast alle Höhen eliminiert sind, sondern auch die Drums. Trotzdem groovt der Track, aber der Beat scheint meilenweit entfernt. So wie die Neunziger, aus denen diese Erinnerung herüberweht.

Und tatsächlich nimmt das Album explizit Bezug auf die Prozession von Krisen der letzten Jahre, die man laut Delgado und Whalley am besten mit genialer Musik bewältigt. Gefragt nach ihren persönlichen musikalischen Helden nennen die beiden übrigens den US-Electro-Don Aldo Marin, die britische Produzentin Andrea Parker und die Post-Punk-Instanz Wire – quasi die Zusammenfassung der Eckdaten des Paranoid-London-Universums: Acid, Rave und eine immer mitschwingende augenzwinkernd-mürrische Punk-Attitüde – gerne mit einem guten Schuss Gothic wie in „Love One Self”, der ersten Single-Auskopplung, oder dem sehr gelungenen verhalten-treibenden „The Motion” mit Mutado Pintado am Mikrofon. Im Höhepunkt des Albums kommen alle Parameter perfekt zusammen: „Fields Of Fire” ist ein achtminütiger Trip, der nicht auf Vollgas setzt, sondern auf das häppchenweise Auftürmen von Elementen, die einen immer stärkeren Sog erzeugen und den Track zu einem dekonstruktivistischen Update von „I Feel Love” machen – nur dass Gastsängerin Jennifer Touch nicht körperliche Liebe simulieren muss, sondern die Durchhalteparole unserer Zeit beschwörend wiederholt: „We are not alone”. Dank Paranoid London noch ein bisschen weniger. Mathias Schaffhäuser

Photek – Modus Operandi (Proper) [Reissue]

Manchmal braucht es nur zehn Tracks, um ein Genre abzureißen. Mit Modus Operandi gelang Rupert Parkes alias Photek im Jahr 1997 genau das. Was einigermaßen beeindruckend ist und so in der Musikgeschichte selten bis gar nicht vorkommt. Denn auch wenn die Dreifach-LP, die kürzlich auf Proper Records erstmalig auf Vinyl wiederaufgelegt wurde, als Meilenstein des Drum’n’Bass gilt und das natürlich auch ist, erzählen die Beats und Cuts einerseits und das alles zusammenhaltende Sounddesign andererseits eine viel größere Geschichte. Eine Geschichte, die zum Erscheinen des Albums viel und intensiv besprochen wurde – in Magazinen wie auch in Clubs und am Tresen des Plattenladens –, ästhetisch aber schon nicht mehr recht in die immer noch größer, schneller und vor allem lauter werdende Szene passte.

Modus Operandi ist zwar keine leise Platte, konzeptuell jedoch so stark und musikalisch so divers, vom ersten bis zum letzten Ton so durchdacht und ineinandergreifend, dass die sich so bahnbrechende Radikalität als alles aufhaltender Prellbock entpuppte. Ein Mic Drop, auf den praktisch nichts mehr folgen konnte, geschweige denn durfte. Es gibt wenige Produzent:innen im Drum’n’Bass, die mit ihrem Signature-Sound Vergleichbares bewegt haben wie Photek auf diesem Album. Dillinja vielleicht. Hidden Agenda vielleicht. Source Direct vielleicht noch am ehesten. Auf Modus Operandi ist der Signature-Sound von Rupert Parkes derart präzise, konzentriert und reduziert, dass selbst die Hallfahne von „124” schon Material für 20 Remixe hergegeben hätte. Zum Glück ist es zu diesen nie gekommen. Thaddeus Herrmann

Shed – The 030-Files (The Final Experiment)

René Pawlowitz ist kein Nostalgiker. Auch wenn sein kontinuierliches Abarbeiten an verschiedenen Peaktime-Momenten des ravigen Dancefloors dies nahelegen könnte. Denn es ist ein fundamentaler Unterschied, ob man der Vergangenheit unreflektiert nachhängt und sie restauratorisch pflegt oder man Prägendes von damals als Ausgangspunkt für das Morgen nimmt. Shed steht für Letzteres. Ohne hin und wieder den Rückspiegel zu bemühen, würden wir niemals in der Zukunft ankommen.

Die acht 030-Files pulsen purzelnd zwischen zwischen gebreaktem Four-To-The-Floor-Gewitter, verdubbtem, unkenntlich gemachtem Restgeräusch und einer groß angelegten Feldstudie zum Thema, was eigentlich passiert, wenn abstrahierte Hands-in-the-air-Momente durch komplexe Stroboskop-Kaleidoskope wie ein Fiebertraum in der REM-Phase einschlagen. Wer glaubt, dass schmalbandig-gefilterte Chords à la Basic Channel nicht zum Soul drei Floors weiter passen, höre „Let Yourself Go” und schweige still. Die Musik von Shed ist ein Rätsel, für das wir dankbar bleiben müssen. Niemand sonst schafft es, Dringlichkeit in derart elegante Leichtigkeit zu verpacken. Thaddeus Herrmann

Silent Servant – Negative Fascination (Expanded Edition) (Hospital Productions) [Reissue]

Negative Fascination von Silent Servant verlangte nach einem Re-Release. Den perfekten Vorgeschmack dazu bietet das ruhige, Electro-Industrial-getriebene „Process (Introduction)”. Der Opener macht nun einmal einfach Lust, in dieser Wiederveröffentlichung zu schwelgen, einzutauchen und sich zu verlieren. Sieben endlos getriebene Kompositionen zwischen Elektronika, Post-Punk und Industrial erwarten die Zuhörer:nnen, die sich zu und in diesen darken Soundflächen im Rhythmus wiegen können. Geborgenheit im Dunkel.

Das Kollektiv Sandwell District um den kürzlich tragisch verstorbenen Juan Mendez hatte 2012 mit seinem Erstlingswerk einen Meilenstein gesetzt. Wie es mit diesen nun einmal so ist, lassen sie sich nicht immer gleich bei der Erstveröffentlichung ausmachen. Vielmehr gibt es Alben, die wachsen und wachsen, eine Stimmung aus dem Untergrund einfangen, die gerade noch verborgen war, um jetzt umso vehementer Aufmerksamkeit einzufordern. Negative Fascination ist so ein Album, das mit „Moral Divide” oder „A Path Eternal” diese Stimmungen kreiert. Favorit ist „Utopian Desaster”, das letzte Stück, das so frisch klingt wie vor über zehn Jahren und zur vorherrschenden getrübt-rezessiven Stimmungslage passt. Die Zeiten werden härter, die Musik auch – lasst uns tanzen! Liron Klangwart

T.Williams – Raves Of Future Past (Purple City)

So geht das. Aufmotzen der Klänge mit jener rohen Energie, wie sie kurz vor und kurz nach dem Split von geraden und gebrochenen Beats in Großbritannien die Clubs heiß machte. Jungle, Drum‘n‘Bass, UK Garage, damit ist T.Williams groß geworden. Unter dem Pseudonym Dread D. produzierte er Grime. Und jetzt ist jetzt, und damit nach Corona.

Still ruhte die Welt, und Tesfa Williams konnte nicht touren. Eingeschlossen in seiner Londoner Wohnung macht er sich an die Studio-Aufnahmen, unter denen das alles aufgehen soll. Dabei hilft ihm eine Maschine für digitale Drums. Ihr Name sei lediglich genannt, weil sie den Sound des Albums so gut beschreibt: Elektron Digitakt, also ein verdinglichter Retrofuturismus mit Betonung auf Futurismus. 

„Aggy”: sie brechen sich Hals und Bein, die Drums und Keys, in einem kaum noch mit dem Gehör zu erfassenden Tempo. Doch der Typ an den Reglern hat ein Gespür für die Wärme in einem Club und lässt den Körper machen. „Jammy” klingt nach alten Warehouse-Zeiten und fliegt über ein kurzgeschnittenes, hochgepitchtes Vocal-Teilchen in schwebender Eleganz hinweg. Dazu gibt es Würgebässe in schillerndem Gelee-Überzug („T 4000”), behutsam modernisierten Two-Step („Step in 2”, „Deepest Vibes”), Jungle („Garvey Words”) und Peak-Drum‘n‘Bass („She Loves”). Das Irre ist jedoch, dass Raves Of Future Past wie nur selten in der Clubmusik sein eigenes Party-Album ist. Einfach hintereinander gehört, und es geht los. Oh, schwitzen! Christoph Braun

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