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Album des Monats: September 2023

Róisín Murphy – Hit Parade (Ninja Tune)

Es könnte so einfach sein. Mit Hit Parade gelingt Róisín Murphy das bislang beste Album einer Karriere, der es bereits zuvor an Höhepunkten nicht gemangelt hat. Im Duo mit Mark Brydon hat die irische Sängerin als Moloko mit unverschämt verführerisch vorgetragenen hedonistischen Sommerhits wie „Sing It Back” und „The Time Is Now” den Soundtrack zur Jahrtausendwende geliefert, bevor sie sich mit einer Reihe von Alben, beginnend mit dem von Matthew Herbert produzierten Ruby Blue (2005) in eine Art Electro-Pop-Diva verwandelte, deren artifizielle Konzeption von Künstler:innen wie David Bowie, Grace Jones, Roxy Music und Siouxsie Sioux inspiriert wirkte. Dass Glamour, Fashion, Art sich vor allem als gegen hegemoniale Authentizitätsmythen in Stellung gebrachte, mithin offensiv auch Genderfluidität einschließende Praxis verstehen, schien dabei nie in Frage zu stehen.

Die Ankündigung, dass Murphy, die 2020 mit Róisín Machine, produziert von Sheffield-Legende DJ Parrot (Sweet Exorcist), ihr bislang erfolgreichstes Album vorlegte, einen kompletten Longplayer mit DJ Koze veröffentlichen wolle – eine erste Zusammenarbeit erschien bereits 2018 auf Kozallas Knock Knock, im Frühjahr 2023 dann mit „CooCool” ein erster Vorbote auf Hit Parade –, gab Anlass zu berechtigten Hoffnungen auf einen neuerlichen Höhepunkt in diesem außergewöhnlichen Lebenswerk.

Das Risiko, eigensinnig zu wirken, aus dem Rahmen zu fallen, zu irritieren, ist Murphy seit Beginn ihrer Solokarriere mit sehr viel Selbstbewusstsein eingegangen.

Doch wenige Tage vor der Veröffentlichung wurden Vorwürfe gegen die Sängerin wegen transkritischer Aussagen auf Facebook laut. Wie auch hier berichtet, hat Murphy von ihrem privaten Account aus einen Beitrag des Regisseurs und Komikers Graham Linehan kommentiert und geschrieben: „Pubertätsblocker sind beschissen” und „Kleine verwirrte Kinder sind verletzlich und müssen beschützt werden.” Und jetzt? Cancel Culture witternde Cis-Hardliner haken sich in „Rettet Róisín!”-Hashtags unter, vor den Kopf gestoßene Ex-Fans der LGBTQI+-Community wenden sich mit Grausen ab oder schreiten gleich zur medialen Steinigung.

Schaut man genauer hin, greift die Polarisierung zu kurz: In einem kurz darauf veröffentlichten Statement zieht Murphy ihre Aussagen zwar nicht zurück, entschuldigt sich aber bei denjenigen, die sie damit verletzt habe, und schreibt, dass sie sich darüber bewusst hätte sein müssen, damit „aus der Reihe zu tanzen”. Und: „Ich habe mein Leben lang Diversität und unterschiedliche Sichtweisen unterstützt, aber ich bevormunde niemanden oder ziele mit meiner Musik in zynischer Weise direkt auf bestimmte Bevölkerungsgruppen ab.” Dieser Vorwurf an die großen Pharmakonzerne („big Pharma laughing all the way to the bank”) war nämlich das Hauptargument ihres ursprünglichen Kommentars – dass sie damit übers Ziel hinausgeschossen ist und eben doch paternalistisch nonbinäre Lebensentwürfe diskreditiert hat, dämmerte ihr also erst im Nachhinein. Das macht es nicht besser, verständlicher allerdings schon. Das Risiko, eigensinnig zu wirken, aus dem Rahmen zu fallen, zu irritieren, ist Murphy seit Beginn ihrer Solokarriere mit sehr viel Selbstbewusstsein eingegangen. Bis jetzt ist sie an den dadurch entstehenden Friktionen jeweils gewachsen, hat an Fallhöhe gewonnen. Ob sich das fortsetzt, bleibt abzuwarten.

Was Murphy und Kozalla im Lauf von sechs Jahren (!) im kreativen Ping-Pong entwickelt haben, ist ein Autoren-Meisterwerk, das seinesgleichen sucht.

Bis dahin liegt die Latte mit Hit Parade im Bereich einer neuen persönlichen Bestleistung, „Did I ever disappoint you? Did I get it wrong, all along?”, singt sie, in nahezu prophetischer Vorsehung, in „Hurtz So Bad”. Stillschweigend hätte man an dieser Stelle ein anderes Album des Monats besprechen können, doch der außerordentlichen künstlerischen Qualität von Hit Parade wäre man damit kaum gerecht geworden.

Was Murphy und Kozalla im Lauf von sechs Jahren (!) im kreativen Ping-Pong entwickelt haben, ist in seinem hochspezifischen Mix aus Hip-Hop-Rave, Dub, Trip-Hop, Neo-Soul, Eurodance, Tropical House, Cosmic Disco, Balearic, Cyber-Gospel und Ambient-Country-Camp ein Future-R’n’B-Singer-Songwriter-Autoren-Meisterwerk, das in seiner paradoxen Verschränkung von überbordenden Mannigfaltigkeiten und skurriler Kohärenz seinesgleichen sucht. Ansonsten bleibt’s kompliziert.

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