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Motherboard: Juli 2023

Der Pariser Produzent Pierre Rousseau hatte mit Paradis ein einschlägiges Projekt am Start. Dass er nie zu den ganz großen Stars der Szene wurde, mag am nicht so umfangreichen Output liegen. Oder an einer gewissen Eigenwilligkeit, die nie so recht auf den Peaktime-Euphorie-Moment aus war. Diesen (relativen) Außenseiterstatus lebt er seit geraumer Zeit solo aus, als genuine Mischung aus Synthesizerwizards altfranzösischer Schule, Jean-Michel Jarre oder Vangelis, und altdeutschen Krautrock-Kosmische-Bands der Art von Cluster oder Popol Vuh. Mémoire De Forme (Rvng Intl., 23. Juni) schließt so einen Zyklus, der mit Musique Sans Paroles begann (Motherboard berichtete). Ein interessantes Projekt, das den produktionellen Maximalismus seiner früheren Arbeiten in Ambient übersetzt, ohne je an Üppigkeit und klanglicher Brillanz einzubüßen.

Wer eine mehr als stabile Neuerfindung alter Stile, von Electronica und Breakbeats und Brettspielen sucht, ist bei Nathan Micay bestens aufgehoben. Der in Kopenhagen und Berlin lebende kanadische Soundtrack-Produzent für Film, Fernsehen und Games hat sich mit To The God Named Dream (Lucky Me, 31. Mai/28. Juli) ein mehr als solides Update all der alten Post-Genres ausgedacht, in dem sich Dinge, die mal „intelligente Tanzmusik” geschimpft wurden, oder Glitch oder sonst irgendwas mit Trance und Hirn drin, plötzlich wieder neu anhören. Dazu gehört schon einiges. Dass er zudem noch sehr gut bei Caroline Polachek (und Madonna) hingehört hat, hilft ebenfalls. Gerade Polacheks irre souveräner Umgang mit den Soundklischees von Autotune und Sample-Glitch findet in Micays Stücken ein interessantes, mehrfach gebrochenes Echo.

Ambient, positiv verstanden, hat manchmal eine Qualität der ultimativen Flüchtigkeit. Schon während des Hörens vergisst du, was du eigentlich gerade hörst. So ist die nächste Begegnung mit diesen Sounds wieder wie neu. Wenn dann noch die Ahnung hinzukommt, hier könnte eine potenzielle Lieblingsmusik vorliegen, also der Wunsch, die wie im Flug vergangene Zeit wiederzuholen, erneut zu erleben, ist eventuell die höchste Meisterschaft dessen erreicht, was Ambient kann und will. Die ISAN-Hälfte Robin Saville hat genug Erfahrung, um diese Erkenntnis, die wohl als Weisheit bezeichnet werden sollte, in organische Sounds umzusetzen, die für ihre Leichtigkeit doch erstaunlich handfest sind. Lore (Morr Music, 23. Juni) erzählt vom Verschwinden und der Persistenz der Dinge, von Naturerfahrung und Verlust. Das alles begleiten Nachtigallen, was perfekter kaum passen könnte.

Von den kaum noch zählbaren Kollaborationen, Neben- und Mischprojekten aus dem näheren und weiteren Umfeld von The Notwist und des Labels Morr Music war Saroos immer das tendenziell unauffälligste und definitiv das stilistisch unaufdringlichste. Das soll sich nun aber ändern. Mit Gastvokalist:innen und Gastmusiker:innen wird aus dem leicht dubbigen Electronica-Postrock so richtig voluminöser Pop. Dass sie den können, bedurfte eigentlich keines Beweises mehr. Aber so charmant, wie auf Turtle Roll (Alien Transistor, 16. Juni) zu hören, ist es natürlich keine vergebliche Übung. Da treibt die Kombination jahrzehntelanger instrumenteller Erfahrung, eleganter Zurückhaltung und Offenheit gegenüber äußeren Einflüssen und den Eigenheiten der Gäste reichlich bunte neue Blüten aus der alten Erde.

Kunsaf Halil alias Kundan Lal war und ist einer Kulturaktivisten der seit zehn Jahren in Hamburg geankerten MS Stubnitz. Sein Wirkungsbereich reicht wesentlich weiter und ist mehr oder minder global. Mit den rund um die Welt, vor allem aber im Mittleren und Nahen Osten gesammelten Field Recordings arrangiert er auf seinem zweiten großen Album Power of Ra (YNFND, 26. Mai) exotische Percussion, Downbeats und Dub zu einer imaginären wie hybriden neuen World Music, zu kleinen Hörspielen voller spannender Details vom Leben in den Straßen und Gassen der meist im (globalen) Süden lokierten Metropolen und Dörfer.

Melancholie hat immer Recht. Humor aber eben hin und wieder auch. Die in Paris lebende Österreicherin mit dem schönen Namen Tratenwald baut auf ihrer Debüt-EP Lost Noise (Infiné, 12. Mai) knochige Lieder aus den dunkelsten Residuen von This Mortal Coil und dem geisterhaften Verschwinden in Dark Ambient, nimmt sich dabei aber nie so ernst, wie das Genre es gerne vorgeben möchte. Während also die Musik der elegischen Selbstauflösung in einer Speckgürtelvorstadt-Fußgängerzone entgegenfiebert, entknotet sich das Pathos im großbürgerlichen Wohnzimmerambiente direkt wieder.

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