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Motherboard: Juni 2023

Das enigmatische Projekt Wave Temples, von dem offiziell nur bekannt ist, aus Florida heraus zu operieren, umarmt die Freuden des Eskapismus in Form wundervoller Analogsynthesizer-Exotica, die auf Panama Shift (Not Not Fun, 5. Mai) immer seltsam genug bleibt, um nicht in die Klischees der Surf/Tiki-Electronica zu fallen. Die fehlende Greifbarkeit, das immer etwas außerhalb von allem Stehende dieser Sounds macht es sogar noch leichter, die unmittelbare Schönheit der Klänge in ihrer (sehr subtilen) Abwegigkeit zu erkennen. Und da 20 Tracks bei Weitem nicht ausreichen, um diese ausgreifende Klangwelt auch nur annähernd auszuloten, gibt es noch das zeitgleich erschienene Tape Portals (Not Not Fun, 5. Mai), das die archaisch-mythischen Aspekte des Projekts in warmem Lo-Fi-Sound exploriert.

Die Gäste auf V (Noorden, 14. April), dem zweiten Album des Kölner bildenden Künstlers und Produzenten Vincent Schmidt alias Panta Rex, sind schwer fassbar. Es sind emotionale Erinnerungen, Gespenster aus der Kindheit und von alten New-Age-Platten. Diese werden allerdings nicht zu pastellen-vergilbtem Ambient oder ins Imaginäre gewendet, sondern verschieben die minimalen Strukturen von Techno und Sample-Electronica in etwas leicht Irritierendes, teilweise Beunruhigendes in strahlend frischem, knusprigen Sounddesign. Mit oder ohne geraden Beat, hier glitzert etwas hinter der manchmal schwummrig-grummeligen House-Psychedelik.

Ob sich Dark-Wave, Kraut-Synth älterer Schule und uralte Carpenter-Soundtracks mit elektrischem Jazz dekonstruieren lassen, um Electro-Pop und Post-Techno neuester Machart werden zu dürfen, und ob das überhaupt eine Frage sein muss, das schert den US-Amerikaner Reid Willis zum Glück herzlich wenig. Sein vielfältig ausgreifendes Album Sediment (MESH, 11. Mai) ist vielmehr eine Definition dessen, was Electronica heute alles sein will (kann und darf). Nicht zuletzt, weil die IDM-Neunziger, Minimal-Nuller und EBM-Zehner irgendwann einmal zu Ende gehen. Willis weiß, was dann noch aus der Vergangenheit kommen könnte, um eventuell einmal Zukunft zu werden.

Alexandra Drewchin alias Eartheater ist nicht nur ein rares musikalisches Genie (das wusstet ihr ja schon alle), sie hat auch einen interessanten Freundeskreis, der angefangen mit Madonna und Familie bis zum undergroundigen Experimental-Punk auf ihrem Label Chemical X Spuren hinterlässt. Griffin Pyn aus Los Angeles ist ein Beispiel für Letzteres, er hat über die Jahre eine Spur aus Synth-Noise und sonischer Verwüstung hinter sich gelassen, hat als Sewn Leather und Skull Catalog eine eigene Variante von Digital Hardcore durchgezogen, bis er vor einigen Jahren zu Gott (die Brahma-Madhva-Gaudiya-Vaisnava-Sampradaya-Variante) gefunden hat, zum Extremsport, und unter dem neuen Projektnamen Antimaterial Worlds nicht unpassend zum Industrial-Rock und Nu-Metal-Prog der Neunziger und dem guten alten Ur-New Yorker Synth-Punk der Siebziger. Also genau die krude Mischung aus Askese und Exzess, aus extremer Selbstkontrolle, ultimativer Selbstoptimierung und dem Imperativ, den ganzen Dreck der Welt an sich heranlassen und in Noise transformiert wieder herauslassen zu müssen, die seinen Sound schon immer informiert hat. Double Saturns Last Purification Exercises (Chemical X, 28. April) ist also Ritual und Reinigung, Katharsis und Transformation.

Oberflächlich geradeheraus als House mit einschlägigen Bässen und transparenter Produktion kommen die Outsider-Beats der semi-anonymen Produzentin H-M O aus Oulu, Finnland daher. Aber wie der Albumtitel Weird & Proud (Lamour, 5. Mai) es klarer nicht machen könnte: die Details dieser verschrobenen Tracks sind herrlich schräg und verkanten sich gekonnt in ihren Soundelementen. Doch nie zu Ungunsten von Groove und Flow. Also House oder Techno nicht aus dem Club für den Club, sondern aus der blühenden Fantasie eines einsamen, aber nicht isolierten Genies vom Nordrand Europas, als moderne Electronica ohne Grenzen. Nicht zufällig hat H-M O allein in den vergangenen drei Jahren mindestens 20 Alben im Eigenverlag herausgebracht, die zwischen Ambient, Soundtrack, Freak-Folk und Synthpop allesamt überhaupt nicht das einüben, was uns auf Weird & Proud nun um die Ohren flattert.

Die grammatische wie semantische Textstückelung der Tracktitel von Räumlichkeit (Marionette, 18. Mai) demonstriert ebenfalls einen widerständigen Geist, der sich den Konventionen der Synthesizer-Electronica gleichermaßen entzieht, wie er ihnen auf das allerbeste nachkommt. Bastian Epples Projekt MinaeMinae schüttelt derlei Paradoxa locker aus dem Ärmel. Seine Sounds sind einfach zu gut gemacht, zu sorgfältig durchdacht, zu perfekt austariert und produziert, um als Kontingenz oder Zufall auf ihren Sinn zu warten. Das sind alles ausgewachsene, erwachsene instrumentale Songs von höchster handwerklicher Güte und erfreulich unkonventionellem Geist.

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