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Motherboard: Juni 2023

Das Cover legt es ja nun sehr deutlich nahe, aber der Auftakt von Tesseract (Phonometrograph, 2. Juni) klingt tatsächlich wie die Feuerwehr beim Löschen brennender Mülltonnen. Flammen, Wasserstrahl und dringlich-dinglicher Noise, der sich langsam beruhigt und in einer delikaten Streicherdrone mündet. Die Violinistin Meredith Bates aus Vancouver weiß definitiv die Aufmerksamkeit zu lenken und hochspannende, erzählende Soundscapes zu konstruieren. Und das allein im ersten Stück ihres zweiten Soloalbums. Die weiteren Tracks stehen dem in nichts nach. Sie entziehen sich weitgehend jeder Art von Klassifikation, spielen mit Elektroakustik und Neoklassik wie mit typisch kanadischem Post-Rock und elektrischen bis elektronischen Post-Club-Irritationen – und das bei Tracklängen zwischen acht und 46 (!) Minuten.

Langer Atem und ein Sinn für Spannungsaufbau und Katharsis sind Tugenden, die auf den Dortmunder Drone-Gitarristen Hellmut „N” Neidhardt definitiv auch zutreffen. Wobei die jüngsten beiden Alben doch eher zurückhaltend agieren, was den harscheren Noise angeht. Unter den grundsätzlich durchnummerierten, aber nicht zwingend in der numerisch-temporalen Reihenfolge erscheinenden Arbeiten markieren das Soloalbum Tremonia (Denovali, 28. April) von N (87) wie Sismo (Denovali, 28. April) von N (58) & Tzesne daher eine ungewöhnlich milde Stimmung, die ihm vielleicht sogar ein paar neue Fans bescheren könnte.

Bei Dirk Dresselhaus liegen die Sommertage leichter Electronica und populärer Cover sehr weit in der Vergangenheit. Stattdessen buddelt sich sein jüngstes Doppelalbum als Schneider TM halstief in die kalten Nächte von Dark Ambient, Noise-Drone und zerfleddert schmutzigem Doom-Dub. Ereignishorizont (Karlrecords, 26. Mai) spielt dies allerdings auf technologisch allerhöchstem Niveau aus, bedient sich der jüngsten, hipsten und individuell gemachtesten Cutting-Edge-Werkzeugkästen, bis hin zum KI-generierten Cover von Sebastian Mayer. Und beides, Cover wie Sounddesign, schaffen es damit, auf höchst interessante Weise völlig uninteressant zu sein. Sie hinterlassen dabei dieses nicht befriedbare Jucken im Kopf, das doch immer wieder zu diesen Bildern und Klängen hinzieht, in diese hineinzieht. Ist man erst mal hinter dem Ereignishorizont, ist eine Rückkehr bekanntlich nicht mehr möglich.

Gavin Millers wundersames Projekt worriedaboutsatan mäandert indes um die bekannt dunkelblau abgetönte Trip-Electronica herum, in immer weitere Kreise ziehende krautmotorische Keta-Holes. Dann zu Shoegaze und Dark-Wave-Glitter in brodelndem Warehouse-Techno. Das in aller Dunkelheit ungewöhnlich abwechslungsreiche jüngste Album hat wie der Titel The Pivot (This Is It Forever, 5. Mai) einen Anker, findet immer zurück an die Oberfläche zum Luftholen, Lichtholen. Diese immer neuen Iterationen des originell Ahnlichen erinnern manches Mal an Anna Jordans The Allegorist ohne dessen epischen Überbau. Millers Tracks erzählen kleine individuelle Geschichten, der große Erzählbogen ist implizit.

Der nordbritische Künstler mit dem Pseudonym Craven Faults hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die ökologischen (und sozialgesellschaftlichen) Verheerungen der postindustriellen Landschaften des britischen Nordens in all ihrer immensen ruinösen Schönheit zu dokumentieren und in melancholischer Musik und Bilder schwarzgrauer Ästhetik zu transformieren. Das alte und neue Leben der Industrieruinen Manchesters und der sozial wie physisch zerfallenden ehemaligen Bergbaukommunen Yorkshires findet sich sowohl in den brillanten Fotografien, die das zweite Album Standers (The Leaf Label, 12. Mai) begleiten, wie im Drone-schweren, krautig-warmen und extrem durchdachten Modularsynthesizersound, der zum Markenzeichen des Projekts wurde. Kaum ein Track unter zehn Minuten, und keiner je zu kurz.

Das Leichte und das Schwere, das Komplizierte und das Einfache aufs Schönste zu verbinden, ist eine Fähigkeit, die Hanno Leichtmann nicht immer einsetzt, aber in den vergangenen Jahren doch immer öfter, und unter dem relativ neuen Alias Chromacolor praktisch durchwegs. Das Debütalbum Chromacolor (Arbitrary, 19. Mai) funktioniert, wie der Name andeutet, erzählend und cinematisch als imaginär kalifornischer Sepia-Sundowner und Noir-Soundtrack, der auf elegante Weise das Gefällige mit dem Ambitionierten, das Beliebige mit dem Spezifischen, Lounge-Jazz mit Free Improv mit Elektroakustik versöhnt. So einfach geht das manchmal.

Sogar der Berliner Konstantinos Katsikas alias Subheim, einer der profiliertesten und qualitativ konsistenten Produzenten von cinematischem Dark Ambient und Downtempo/Chill-Hop, findet immer wieder zu (relativer) Leichtigkeit innerhalb der bekannten schweren Melancholie. Auf seiner exzellenten Mini-LP Raeon (Denovali, 28. April) bricht das Licht sogar regelmäßig ein. Feine Strahlen von Hoffnung und bittersüßer Lieblichkeit im dunkel brütenden Charakterfluss. Es gilt weiterhin, und hier in besonderem Maße, dass Subheim-Tracks nie da enden, wo sie begannen, und doch einen stetigen Flow und Zusammenhalt zeigen, der unkopierbar eigen ist. Jedes der kurzen Stücke steht für sich und doch im Zusammenhang. Das ist außergewöhnlich, nicht nur im Rahmen des Genres, in dem sich Subheim bewegt.

Das Leben und die Musik nicht schwer nehmen, aber immer ernst. Immer tief gehen, und doch freundlich, zugänglich und angenehm bleiben, es könnte eine Überschrift sein für die Arbeit von Yasuhiko „Yas” Fukuzono, der nicht nur in Tokio das tolle und stilistisch immer wieder überraschend umgreifende und unkonventionelle Label Flau betreibt, sondern als aus in leider zu großen Zeitabständen auch selbst immer wieder genretrotzende alle(s) umarmende Musik produziert. Auf Everis (Flau, 26. April) endlich wieder im Großformat. Durchaus experimentell, erkennbar sorgfältig verarbeitet und eigenwillig, sind die Stücke doch immer auf nachgerade unverschämte Weise freundlich, offen und einfach schön. Wenn Electronica doch immer so menschenfreundlich menschlich sein könnte.

Der Schon-ewig-Berliner Patrick Rasmussen alias Raz Ohara ist ebenfalls jemand, der immer zwischen Club und Pop vermittelt hat, der mit Techno-Produzent:innen ebenso gut kann wie mit Indie-Rocker:innen, Jazzer:innen oder Neoklassiker:innen. Dass er solo nie so wirklich allein arbeitet, sondern lieber mit vielen Gästen, ist folgerichtig, ebenso wie es logisch erscheint, dass er stilistisch immer wieder in den goldenen Schnitt von Club und Pop namens Electronica findet. Bereichert und erweitert von Neoklassik und folkigem oder sogar chansoneskem Singer-Songwritertum, ist ihm mit Tyrants (Denature, 19. Mai) ein großer Wurf gelungen. Ein unaufdringliches Alleskönner-Album, das doch lieber im ambienten Hintergrund verschwindet.

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