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Motherboard: Mai 2023

Zu den lebenswichtigen Fragen, die sich niemand je zu stellen wagte: lässt sich Hyperpop aus alten Ambient-Molekülen basteln? Selbstverständlich, sagen Waterbaby. Das Londoner Schwestern-Duo baut auf 22° Halo (Untitled, 12. Mai) ein Haus aus den glasierten Knochen von Kate Bush, Arca, Yeule und den Cocteau Twins. Ihre Remix-Referenzen reichen von Glitchpop-Qu:een BABii bis zu Sound-Art-Subtilstilistin Sofie Birch im Krawallmodus. Ihr Debütalbum geht einen ebenso verschlungenen Weg zwischen ätherischem Waldelfen-Ästhetizismus und Urban-Elektronik-Experimentalismus.

Was sich alles so aus Synthwave und Indie-Pop basteln lässt, weiß Frankie Rose zu erzählen. Die New Yorker Singer-Songwriterin hat ja nicht nur vor sechs Jahren „Seventeen Seconds” von The Cure als Ganzes gecovert (kürzlich vom sich stilsicher über Genres hinwegsetzenden Glasgower Label Night School auf Vinyl wiederveröffentlicht). Ihr jüngstes Soloalbum Love As Projection (Night School, 3. März) bietet eine ähnlich wundervolle Kollektion von ganz Frischem aus Altbekanntem. Sie hat einfach gute Songs (wie eben The Cure zu ihren besten Zeiten).

Auf dem musikalischen Lebensweg, der sie von Brasilien über Wien nach Berlin geleitet hat, konnte Joyce Muniz eine Offenheit und Neugier entwickeln, die sie auf ihrem zweiten Album Zeitkapsel (Joyce Muniz Music / The Orchard, 14. April) zielsicher einsetzt, um Techno, House und Electro unter Einhaltung von Hedonismus und Partytauglichkeit ziemlich weird und queer zu machen. Oder einfach nur, um portugiesischen Rap über einen Electro-Techno-Beat zu legen, was passt wie nix Gutes.

Hat man erst mal die Freiheit erkämpft, ist eigentlich alles möglich. Das weiß kaum jemand besser als Yoshimi Yokota, die als Drummerin der Boredoms seit Ende der Achtziger Noise-Rock an die Grenzen des Möglichen geführt hat, mit OOIOO Art-Pop auf ein fremdartiges Level gehoben hat sowie in Dutzenden weiteren Bands und Projekten seit fast 40 Jahren sämtliche musikalischen Konventionen sprengt.

YoshimiOizumikiYoshiduO ihr jüngstes Projekt mit dem Keyboarder Yoshi Izumiki nimmt sich die Freiheit, einmal (relativ) konventionell zu agieren, auf To The Forest To Live A Truer Life (Thrill Jockey, 24. März) tatsächlich irgendwo zwischen Ambient, Fourth World und avanciertester Katzenmusik. Diese Musik ist der Kunsthochschule schon so lange entwachsen, sie hat schon ihre eigene Akademie gegründet. Die Motherboard-Redaktion sitzt in der ersten Reihe und hört beflissen mit. Yokotas Außenseitermusik wird nie alt.

Eine besonders spannende der zahlreichen Kollaborationen Yokotas gelang vor knapp 15 Jahren mit dem schwedischen Free-Improv-Urgestein und Zirkularatmungs-Champion Mats Gustafsson. Dessen Katalog an Kollaborationen mit experimentellen Musiker:innen rund um den Globus ist beinahe noch unübersichtlicher als der Yokotas.

Seine jüngste Arbeit mit dem Schwedischen Dark-Ambient- und Dub-Produzenten Joachim Nordwall ist allerdings tatsächlich noch einmal etwas Besonderes, weil das erste Album mit dem fantastischen und fantastisch langen Titel THEIR POWER REACHED ACROSS SPACE AND TIME – TO DEFY THEM WAS DEATH – OR WORSE (Thrill Jockey, 24. März) elektronischer als gewohnt ist, beinahe zu polarer Electronica wird, durch die Gustaffsons tiefgefrorener Holzbläseratem röchelt, grummelt und pfeift.

Die alte New Yorker, Tokioter und Pariser Pop-Avantgarde der Siebziger und Achtziger augenzwinkernd in Electronica und (Pop-)Techno übersetzen – das macht die französische Schlagzeugerin und Komponistin Lucie Antunes wie niemand sonst. Auf Carnaval (Infiné, 21. April) ist die Neuerfindung der alten Pop-Erneuerungen von Les Rita Mitsouko, Laurie Anderson, Anne Clark, Telephone oder YMO zu hibbeliger Loop-Electronica mit Gesangsfetzen sogar ganz besonders leichtfüßig und warmherzig gelungen. Völlig unvorhergesehen kommt das nicht, denn Antunes’ Synthpop-Band Moodoïd beherrschte diese Übersetzungsleistung schon ziemlich perfekt. Dennoch ist Antunes solo auf einem ganz anderen Level, scheut nicht vor kleinen Albernheiten und großen Gesten zurück und spielt das alles ein auf einer selbstgebastelten Percussion-Batterie aus Wasserflaschen und Heizungsrohren.

Ebenfalls richtig viel los ist beim Contemporary Noise Ensemble. Vom Sextett auf ein Duo geschrumpft, hat die polnische Kombo unter der Leitung des Jazz-Pianisten Kuba Kapsa auf An Excellent Spiritual Serviceman (Denovali, 31. März) zwar das instrumentelle Personal geschrumpft und elektronischer gemacht, den musikalischen Inhalt aber noch einmal gehörig erweitert. Was einen hibbeligen, von Arpeggien analoger Synthesizer angetriebenen Fake-Jazz ergibt, der im Laufe fast jedes Stücks in Post-Rock mit „Dreimal Alles Bitte” mündet. Ein Krawall, der sich selbst nicht so ernst nimmt und lieber zum Karneval feiern geht.

Schwer zu glauben, aber bei Desire Marea ist heuer sogar noch mehr los. Mit dem Debüt DESIRE führte Marea die Dekonstruktion und das Post-Präfix in die südafrikanische Clubmusik ein (Motherboard berichtete), nun geht es um queeren Soul. Auf On the Romance of Being (Mute, 07. April) regiert maximalistischer Emo-R’n’B alter Schule, eingespielt mit einer 13-köpfigen Band, die in fast jedem Stück voll aufdreht und dennoch kaum gegen die stimmliche Macht Mareas anspielen kann. Aber klar, es geht ja um alles, um Liebe und Freiheit.

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