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Motherboard: Februar 2023

Schon spannend, wie sich manche Karrieren so über die Dekaden entwickeln. Zum Beispiel die des schüchternen dünnen Jungen mit kahlgeschorenem Kopf, der vor fast 25 Jahren am Ende einer langen Wochentagsfestivalnacht vor circa fünf zahlenden Gästen introvertiert an den Echo-, Filter- und Hallknöpfen drehte und seinen Maschinen einen völlig neuartigen, abstrakten Dub entfleuchen ließ, der in seiner ambienten Wirkung ziemlich quer und antithetisch zu fast allem stand, was um die Jahrtausendwende die Floors (sogar die abstrakt-minimalen) füllte.

Wenige Jahre später war das Haus voll, wenn Sasu Ripatti unter einem seiner bekannteren Aliasse antrat, es kamen Frisur und Schnäuzer, und die Sounds wurden extrovertierter, sogar tanzbar unter dem House-Alias Luomo. Über die Jahre hat sich das Soundverständnis erweitert, der Dub wurde experimenteller und weitschweifender, und die Dance-Tracks raviger in aller Eigenwilligkeit. Ripatti ist immens produktiv geblieben. Nun hat er noch das Label Rajaton gegründet das er erst mal selbst bespielt.

Die auf vier EPs und einen Bonus angelegten Dancefloor Classics (Rajaton, ab 18. Januar) unter eigenem Nachnamen, deren erste Folge im Januar erschien, radikalisieren den samplebasierten Glitch-Ansatz von Luomo zu einer Art launigem IDM-Gabber. Die mäandernden, auf angenehmste Weise nie irgendwo ankommenden Dub-Scapes seines Vladislay-Delay-Alias hat Ripatti ebenfalls fortgeführt, verfeinert und noch weirder gemacht. Vielleicht als dialektisches Gegenstück zum überdrehten Krawall der Dancefloor Classics gedacht, handelt die ebenfalls viereinhalbteilige EP Reihe Hide Behind The Silence (Rajaton, ab 18. Januar) von Stille, ohne deswegen besonders leise sein zu müssen. Das neu gemasterte Reissue des bislang nur als CD erschienenen Albums Whistleblower (Rajaton, 3. Februar) von 2006 macht das Ripatti-Paket rund und zeigt sehr gut, was in all den Jahren passiert ist.

Es ist an der Zeit, zum wiederholten Mal an die immense Inspiration zu erinnern, die ungefähr jede Spielart elektronischer Musik von der französischen Komponistin Éliane Radigue erhalten hat. Die inzwischen über Neunzigjährige arbeitet noch aktiv. Seit der Jahrtausendwende hat sie den Fokus ihrer Arbeit allerdings von synthetischer Klangerzeugung (siehe das Motherboard aus dem Januar 2019) auf wechselnde akustische Instrumentierung verlagert. So hat das fortlaufende Megaprojekt Occam seit 2010 etwa 80 verschiedene Iterationen und Mutationen erlebt, in massiv verschiedensten Ausformungen von Klangfarbe und Instrumentierung. Vom Solokontrabass über ein Harfenduo, Tape-Manipulation oder Modularsynthesizer bis zur klassischen großen Orchesterbesetzung. Eine der intensivsten und stimmigsten Variationen der zwischen 20 und 60 Minuten changierenden Dronestücke ist die Version für Streichquartett Occam Delta XV (Edition QB), aufgeführt vom Montrealer Quatuor Bozzini. Besonders spannend, weil die zwei Versionen des Stücks auf dem Album, aufgenommen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen, so gleich und doch so verschieden klingen. Eine Schule des tiefen Hörens und der tiefen Emotionen.

Jede Wette, dass auch Marthe Lasthuis alias Honingbeer bei Éliane Radigue genau hingehört hat; und gelernt hat, einen weiten Bogen zu spannen und in der Schönheit kleinster Details zu schwelgen. Ihr Debüt auf Frank Wiedemanns Label, die Opia EP (Bigamo, 17. Februar) demonstriert jedenfalls eine ganz und gar außergewöhnliche Tiefe mit einem kompositorisch wie instrumentell sparsamen Setup aus Violine und elektronischen Effekten.

Das exzellente Debüt ihres Duoprojekts Yhdessa ist kaum ein halbes Jahr her, da hat die in Berlin lebende Produzentin Aimée Portioli schon wieder eine neue Soloarbeit als Grand River am Start. Und was für eine: All Above (Editions Mego, 24. Februar) geht von etwas aus, das an Neoklassik erinnert, arbeitet sich im Geiste des beseelten Amateurs an komplexen Strukturen ab und bringt diese ohne Umschweife in den elektroakustisch informierten Post-Club. Rhythmisiert loopen und winden sich Akustisches, Synthetisches und Gesampletes in dichte Soundscapes, die mit Ambient, Electronica und Neoklassik an sich nicht viel zu tun haben, aber dennoch so funktionieren können. Diese Offenheit wie Vieldeutigkeit sowohl einzelner Klänge wie ganzer Stücke ist etwas, das mit dem neuen Biedermeier der neuen Klassik so gar nichts zu tun hat. Es ist eindeutig Clubmusik für offene Ohren, für Körper und Geister.

Die Klänge der ebenfalls von Berlin aus operierenden Martina Bertoni bilden eine Brücke zwischen der altbekannten Neoklassik und elektronischen Drones, zwischen akustischer Instrumentierung (Cello, Stimme) und elektronischer Prozessierung. Sie lassen sich aber in keiner dieser Ausdrucksformen häuslich nieder, machen es sich nie allzu gemütlich. Die LP Hypnagogia (Karlrecords, 20. Januar) spielt im Raum zwischen den Überlagerungen. Bertonis Musik ist eigentlich sehr üppig, schichtet viele Lagen flächiger Sounds diverser Quellen übereinander, reduziert diese dann aber wieder so weit, dass nur eine feinst gewobene Klangfläche aus samtenen Drones zurückbleibt, deren Volumen und Wucht erst klar werden, wenn sie verklungen sind. Mehr ist hier weniger und doch mehr.

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