In seiner neuen Review-Kolumne GESTERN MORGEN bespricht GROOVE-Autor Simon Popp Texte und andere künstlerische Arbeiten, die vom Verhältnis von Gegenwart und Geschichte in der Technowelt handeln. Im ersten Beitrag geht es um Leonhard Hieronymis Erzählung Trance, die im Korbinian Verlag erschienen ist.
Einer der guten Sätze steht auf Seite 59: „Aller Wahrscheinlichkeit nach war es jedenfalls in Berlin um 1990 NICHT wie in einer Traumsituation, in der alle nur so rumlaufen und irgendwie ‚haah’ machen, sondern es war das Gegenteil, wir sind uns sicher: Es war sehr banal und die Leute hatten Angst, wie immer.”
Juli 2022, 32 Jahre nach 1990: im jungen Berliner Verlag Korbinian erscheint das Buch Trance von Schriftsteller Leonhard Hieronymi. Und wenn direkt Bedenken aufkommen: ob hier wieder ein Neunzigerjahrebuch geschrieben wurde, mit gesammelten Sprüchen und Erinnerungen von Väth, Hegemann, Laarmann und Marusha, oral history also, auch das Tresor-Personal wird zu Wort kommen, Detroit nicht unerwähnt bleiben und Rainald Goetz sicher auftauchen, so wird man damit später Recht behalten, anfangs aber noch nicht.
Denn ein großer und der bessere Teil des Buches Trance spielt weder an einschlägigen Orten noch in den Neunzigern, sondern in hessischen Klein- und Mittelstädten zwischen 2001 und 2007. Wo ein Schulfreundeskreis geschlossen bemerkt: „Wir glaubten, dass wir die letzte große Musikbewegung, die noch möglich gewesen war, verpasst hatten.” Sechzig Stunden Dauerparty heißt Kapitel 1, benannt nach einer kleinen Produktion des Hessischen Rundfunks im Jahr 1996, die später im Internet landete. Und dort vielen Lesern von Trance und Groove vermutlich schon bekannt ist – als eines der deutschen Neunzigerdokumente und als YouTube-Klassiker.
Ein kluger und schöner Griff von Hieronymi, den Erzähler diesen Fernsehbeitrag in seiner Jugend auch gesehen haben zu lassen. Auch wird klar: Das Buch Trance soll nicht nur Popgeschichte zeigen und erneut erklären, wie das mit Techno in Deutschland nochmal war, sondern auch über dieses Hinterherschauen erzählen, vor allem das der Spätergeborenen.
Es ist also Hessen um 2003 – ein seltsamer Platz für Jugendliche, wie Hieronymi berichtet. Während Afghanistan-Einsatz und Irak-Krieg im Hintergrund laufen und an deutschen Schulen das Wort Amok umgeht, entdeckt die Jugend im Taunus das Filesharing. In sich selbst keine wirkliche Jugendbewegung spürend, stürzt sich der Erzähler mit seinem Freundeskreis auf Soulseek, entdeckt dort vergangene Welten und Bewegungen, darunter auch Techno, House, Trance.
Dass diese „untergegangene Frankfurter Trance-Welt” nur wenige S-Bahn-Haltestellen entfernt lag und sie nur wenige Jahre von ihr trennt, schmerzt die Kinder. Das ist die interessante Mechanik des Buches: Was wir heute über die Neunziger erfahren sollen, sehen wir durch die Augen einer weiteren Generation. „Ich mache also den Versuch und stelle nach, wie wir uns in den Vororten in die Trance-Jahre zurückversetzt haben.”
Bevor es dann wirklich zu einer kurzen Historie des Techno in der Welt, in Deutschland und in Frankfurt kommt, wird im Kapitel YouTube umrissen, dass das eigentlich überhaupt nicht gehen kann: anhand von Erinnerungen, Aussagen und nacherzählter Euphorie an historisch haltbare Bilder zu gelangen. Weitere tolle Sätze: „Wir werden genauso wenig Zeitzeugen von etwas sein wie die Raver. Aber die Raver glauben, sie seien Zeitzeugen von etwas gewesen. Und das ist falsch. Die Raver glauben, sie hätten die Mauer zu Fall gebracht.”
„Was entsteht, ist jedenfalls eine sehr, sehr bekannte Geschichte.”
Leider passiert im zweiten Teil dann trotzdem das, was der Erzähler selbst befürchtet und eben noch bemängelt hat. Und was aus Dokumentationen, Texten, Podcasts und diversen Produktionen der letzten Jahre bekannt ist, die ebenso alle etwas zu den Anfängen des Techno sagen wollten: Ausgewählte Menschen erzählen das, an das sie sich erinnern können und wollen; an einem Mythos möchte man unter keinen Umständen schreiben (aber eigentlich schon). Der Unterschied zu etwa Der Klang der Familie, einem jüngeren Klassiker der deutschen Techno-Aufarbeitung, liegt darin, dass Hieronymi seine Zitate und O-Töne nicht selbst abnimmt, sondern sie aus anderen Quellen „filtern” will, etwa Live-Berichten und O-Tönen von der Mayday, was eine größere Unmittelbarkeit und ein klareres historisches Bild erzeugen soll. Mitunter schreibt er dann aber selbst aus Klang der Familie ab.
Was entsteht, ist jedenfalls eine sehr, sehr bekannte Geschichte, bei der alle beliebten Charaktere nochmal durchs Bild gehen. Und hat man die meisten Sätze, Anekdoten und Analysen nicht schon einmal woanders gesehen, gelesen oder gehört? Ja, es gibt einen Frankfurt-Fokus und eine sympathische Ausklammerung Berlins, und das Buch macht durchgehend großen Spaß – wirkt aber immer wieder gespenstisch vertraut.
Denn witzigerweise ist, ganz ähnlich dem Freundeskreis im Taunus, der für Omen und Loveparade zu spät geboren wurde, der Korbinian-Verlag mit diesem Buch auch ein wenig spät dran. Der Klang der Familie, das Spuren in Trance hinterlassen hat, ist 2012 erschienen und wurde damals in der GROOVE mit „Noch ein Buch über Berlin und Techno – braucht die Welt das wirklich?” begrüßt. Es folgte eine Welle an Produktionen, Publikationen, Filmen, Kunst-Positionen und eine allgemeine neue Rave-Begeisterung von Feuilleton bis in die Regionalzeitung.
Allein 2022 hat die ARD eine träge Riesendoku produziert, wurde in Frankfurt ein Technomuseum eröffnet, hat der Tresor ein Denkmal aus Sand gebaut. Die deutsche Techno-Aufarbeitung ist seit den frühen Zehnerjahren selbst zum eigenen Genre geworden. Und bei aller historischen Reflexion und Raffinesse in Hieronymis Text, wurde das ein wenig vergessen. Selten, aber doch kann dann der Eindruck kommen, dass der Korbinian-Verlag auch noch rasch eine Techno-Sache im Katalog haben wollte.
Trotzdem ist das Buch Trance streckenweise eine großartige Erzählung. Das liegt aber gar nicht an dem Trance oder dem Techno oder Väth-Sprüchen, sondern an der Beschreibung der frühen Nullerjahre. Hier scheint Hieronymi beim Schreiben das eigentliche Gespür, vielleicht sogar mehr Lust gehabt zu haben für die Bilder, Stimmungen und Wörter aus der Zeit. Und die tollsten Kapitelnamen gefunden, darunter Die Rippen von Marilyn Manson.
Je weiter das Buch dann fortschreitet und in der Zeit zurückwill, desto platter werden die Beobachtungen, desto bekannter die Storys, und die Deutungen des Autors manchmal blöd. Vielleicht ist die Schulfreunde-Erzählung ja gar nicht das Hilfsmittel des Textes, um über die Neunziger zu berichten, sondern es war ein wenig andersrum.
Auf jeden Fall: Kaufempfehlung für alle, denen Frankfurt und die Obstwiesen um Frankfurt in der Technohistorie bisher zu kurz gekommen sind, und die sich selbst ein Bild davon machen wollen, ob man 2022 nochmal ein Neunzigerjahre-Märchen erzählen kann.