2022 ging endlich alles wieder los. Clubs öffneten ihre Türen, Festivals luden zum Tümmeln ein und DJs reisten wieder wie gewohnt um die Welt. Also alles back to normal im Rave-Jahr 1 „nach Covid”? Nicht ganz. GROOVE-Autorin Laura Aha erklärt, wie sich die Szene verändert hat, was noch auf uns zukommt – und warum es trotzdem Grund zur Hoffnung gibt.
We find our feet again,
and again,
and again.
Fundamentally we’re still the same
Fundamentally we’re entirely changed
Dieses Gedicht spricht die Journalistin Christine Kakaire über ein Recap-Video zum Tag der Clubkultur 2022. Gedankenfetzen über die heilende Wirkung sich aneinander reibender Schultern, die Suche nach der albernsten Version von einem Selbst in dunklen Gängen, die kollektive Transformation durch den gemeinsamen Exzess. Effektvoll unterlegt ist das Gedicht mit melancholischen Beats und Videoaufnahmen voller Dancefloors, voguender Tänzer:innen und frühmorgendlicher Bilder der Hochbahn über dem Kotti. Aufbruchsstimmung und Nostalgie. Euphorie und Apokalypse. Das alles liegt gerade sehr nah beieinander.
Es sind genau diese ambivalenten Gefühle, mit denen sich das Rave-Jahr 2022, anno 1 nach Covid, am besten beschreiben lässt. Die Clubkultur ist nach zwei Jahren im freien Fall wie eine Katze schlussendlich doch wieder auf den Füßen gelandet. We find our feet again. And again. And again. Es gab sie wieder, die langen Schlangen vor den Clubs. Die Sonnenaufgänge auf den Festivals. Die Afterhours mit zehn Leuten aus fünf verschiedenen Haushalten. Im Prinzip alles wie gehabt. Im Prinzip völlig anders als zuvor.
„I wanna see all my friends at once. I’d do anything to get the chance to go bang.”
Es scheint, als wären diese 1981 geschriebenen Zeilen aus „Go Bang” von Arthur Russels Band Dinosaur L gewissermaßen das kollektive Mantra des vergangenen Coronawinters 2021 gewesen. Doch der Neustart kam anders, als es wohl irgendjemand erwartet hätte. Der Beginn des Ukrainekriegs wenige Tage vor der Wiedereröffnung der Berliner Clubs im März löste nicht nur moralische Gewissenskonflikte aus, ob Feiern gehen nun wirklich das richtige Statement sei. Neben all der persönlichen Tragödien, die der Krieg mit sich bringt, und damit Menschen aus ihrer Heimat vertreibt, zieht er auch einen Rattenschwanz an Inflation, Energiekrise und genereller Verunsicherung nach sich, dessen Ausmaß wir vermutlich erst in einigen Monaten oder Jahren vollends begreifen werden. Zu spüren bekommen es finanziell die meisten schon jetzt. Naturgemäß sind Kultur und Feiern die Ersten, an denen in solchen Krisenzeiten gespart wird.
Immer öfter geht es in Gesprächen mit befreundeten BiPoC darum, dass sie an verschiedenen Clubtüren in letzter Zeit zunehmend diskriminiert und respektlos behandelt werden.
Klar, der Andrang auf die etablierten Technobunker wie das Berghain oder den Tresor, der mit der Feier zu seinem 31. Geburtstag von Underground Resistance und Helena Hauff über Goldie bis Octave One alles nach Berlin holte, was Rang und Namen hatte, war trotz Krise erwartungsgemäß ungebremst. Doch für kleinere Kollektive oder ganz neue Clubs wie etwa das RSO in Berlin oder Weltspiele in Hannover dürfte sich der Start aktuell denkbar schwieriger gestalten. Nicht nur aufgrund der Zurückhaltung der Gäste – ob aus gesundheitlichen oder finanziellen Gründen. Es mangelt auch am Personal. Kaum ein Späti, an dem aktuell kein Gesuch nach Mitarbeitenden hängt. Nicht anders sieht es im Nachtleben aus: Nach zwei Jahren Unsicherheit und Abwertung der Branche als „nicht systemrelevant” ist es nur verständlich, dass viele Barleute, Runner, Garderobenmenschen und Türstehende sich mittlerweile nach anderen Jobs umgeschaut haben.
Das hat Auswirkungen auf reibungslose Abläufe in den Clubs: Es gab Abende im Heideglühen, an denen ausnahmslos jede Person an der Bar ihre erste Schicht hatte. Sonntagabend kann man in der Panorama Bar auch gut und gerne mal 45 Minuten auf einen Espresso Martini warten, weil hinterm Tresen nur drei Menschen rotieren. Wesentlich dramatischer als ein bisschen Geduldsübungen an der Bar ist jedoch das, was dieser Personalmangel vor den Türen der Clubs derzeit auslöst. Lennart Wiehe, Mitgründer der Weltspiele in Hannover, erzählt, dass er für die ersten Nächte Türstehende aus Berlin nach Hannover bestellen musste, weil es vor Ort keine gab.
Dass wenig erfahrenes oder ungeschultes Personal an der Tür zu schlimmen Zwischenfällen führen kann, bewies nicht erst der rassistische Vorfall an der Tür des Revier Südost 2021. Der Club hat seine Türstrategie mittlerweile zwar überarbeitet. Ähnliche Vorfälle scheinen sich aber aktuell zu häufen: Immer öfter geht es in Gesprächen mit befreundeten BiPoC darum, dass sie an verschiedenen Clubtüren in letzter Zeit zunehmend diskriminiert und respektlos behandelt werden.
Dass man an Peace, Love, Unity and Respect nun mit Schildern erinnern muss, zeigt, wie sehr sich viele Orte gerade verändern.
DJ Lúcia Lu machte kürzlich in einer Instagram-Story darauf aufmerksam, weil es ihr selbst so ging, als sie mit anderen BiPoCs im Berliner Nachtleben unterwegs war. Einige Bekannte erzählen, dass sie die großen Clubs mittlerweile komplett meiden und sich in ihre eigenen safer spaces zurückziehen, in denen sie selbst über die Tür bestimmen können.
Und dann war da ja noch ein weiterer Horror des Jahres: Needle Spiking. „Viele Befürchtungen, wenig Gewissheiten” hatten wir im Juli unsere Recherche zum Thema überschrieben. Für die meisten FLINTA – mich eingeschlossen – brauchte es aber gar nicht diese Gewissheiten, die statistisch belegbaren Fallzahlen oder genaue Zusammensetzung der mutmaßlich per Nadelstich verabreichten Substanzen. Das Unbehagen beim Clubbesuch war ohnehin dauerhaft präsent. Die Verletzung, die alle FLINTA 2022 erfahren haben, fand im Kopf statt.
In dem Moment, in dem man vorher schon überlegt, ob es überhaupt sicher ist, in den Club zu gehen. In dem Moment, in dem man eine versehentlich streifende Zigarette am Arm spürt und zusammenzuckt. In dem Moment, in dem man eigentlich noch weitertanzen will, aber doch mit seinen müden Freund:innen ins Taxi steigt, weil man ein mulmiges Gefühl hat, alleine im Club zu bleiben. In dem Moment, in dem man sich den nächsten Drink versagt, weil man Angst hat, die Kontrolle zu verlieren. Weil man weiß, dass einem dann später erst Recht nicht geglaubt wird.
Kontrollverlust, auch das war ein wichtiges Thema 2022. Einerseits, weil er uns als Gesellschaft, Krieg, Energie- und Klimakrise kollektiv passiert ist. Andererseits, weil er in geschützten Räumen plötzlich wieder möglich wurde. Aber eben nicht für alle gleichermaßen. Die Kontrolle verlieren zu dürfen, ist ein Privileg, das FLINTA* selten haben. Clubs sollten Orte sein, in denen das möglich ist. Und werden doch allzu oft leider von der Realität eingeholt. Die ganzen „Take Care of Each Other”-Schilder, die plötzlich in den Clubs auftauchten, sind eine nette Geste – erinnern sie doch daran, worum es dort eigentlich geht: Peace, Love, Unity and Respect. Dass man daran nun mit Schildern erinnern musste, zeigt, wie sehr sich viele Orte gerade verändern.
Eine Sache, die ebenfalls zur veränderten Stimmung in den Clubs beiträgt, ist die Omnipräsenz von G. „There is no G in Club Culture”, wie die Clubcommission ihre 2021 gestartete Kampagne überschrieb, ist wörtlich genommen schlicht eine Lüge. There is a lot of G in club culture. G, kurz für GHB oder GBL, wird in den letzten Jahren immer beliebter. Wie viele Menschen die Droge konsumieren, ist schwer zu sagen. Fakt ist, dass der Konsum sehr gefährlich ist, unter anderem, weil die Dosierung so schwierig ist. Ein Tropfen aus der Pipette zu viel kann schon eine Überdosis bedeuten. Immer wieder sieht man weggetretene Menschen, die aus dem Club getragen oder – schlimmer noch – in der Klokabine von Freund:innen versteckt und mit anderen Substanzen vermeintlich wieder aufgepäppelt werden, damit sie nicht aus dem Club fliegen.
Wenn Feiern aber noch mehr zum Privileg von Besserverdienenden wird als ohnehin schon, entledigt sich die Szene endgültig ihrer Wurzeln und der politischen Kämpfe, aus denen sie ursprünglich mal entstanden ist.
Viele Clubs haben sich nach dem tragischen Tod einer jungen Frau im Suicide Club 2021 der Kampagne „Clubculture Against GHB” angeschlossen. Natürlich wünschen sich viele, dass G einfach wieder aus den Clubs verschwindet, führt es bei Konsumierenden doch häufig zu Kontrollverlust, Grenzüberschreitungen und im schlimmsten Fall eben Atemstillstand. „Wie sollen sich Communitys in solch einer Umgebung sicher fühlen?”, schreibt die Berliner Clubcommission in einem Statement zur Kampagne. „Wie können wir die Freizügigkeit der Berliner Szene hochhalten, wenn unter Einfluss von G Konsens und Konsent an Bedeutung verlieren, wenn G gezielt eingesetzt wird, um Sexualstraftaten zu begehen? Wie können wir die Einzigartigkeit der Berliner Clubs feiern, wenn der Einfluss dieser Droge unser Engagement und unsere Arbeit gefährdet?”
Das sind durchaus nachvollziehbare Argumente. Die Null-Toleranz-Politik führt aber auch zu einer Stigmatisierung der Konsumierenden, die es schwermacht, im Ernstfall wirklich nach Hilfe zu fragen. Und erweckt im Umkehrschluss den Eindruck, dass alle anderen Drogen, die weiterhin munter herumgereicht werden, gar nicht so schlimm seien. Es scheint ein unlösbares Dilemma. Wer sich dem G-Vibe auf dem Dancefloor entziehen möchte, hat oft keine andere Möglichkeit, als bestimmte Partys schlicht zu meiden.
Jüngeren Menschen blieb 2022 häufig ohnehin nichts anderes übrig, als auf Privatpartys auszuweichen. Die Eintrittspreise, die in den Clubs aktuell aufgerufen werden, lassen sich mit einem Studi-Budget kaum stemmen. Über 20 Euro sind bei der Klubnacht im Berghain mittlerweile Standard, für einen Weekender im Sisyphos darf man gerne auch mal 40 Euro berappen, die Jubiläumsparty der Bar25 kostete satte 50 Euro Eintritt. Natürlich ist diese Art von Fingerzeig nicht fair oder hilfreich – versuchen die meisten Clubs damit ja ebenfalls nur, die zahllosen entstandenen Finanzlöcher zu stopfen und das eigene Überleben zu sichern. Die Rückzahlung von Corona-Krediten, steigende Energiepreise, Lieferengpässe und Inflation machen auch den Clubbetreibenden zu schaffen. Wenn Feiern aber noch mehr zum Privileg von Besserverdienenden wird als ohnehin schon, entledigt sich die Szene endgültig ihrer Wurzeln und der politischen Kämpfe, aus denen sie ursprünglich mal entstanden ist.
Glücklicherweise gibt es sie aber noch, die Graswurzel-Kollektive. Eine ganze Woche hat der Tag der Clubkultur sie 2022 abgefeiert und ausgezeichnet. Queere Partyreihen wie LECKEN, Fluid.Vision, No Shade oder Brenn. Afrodiasporische Formate wie Freak de l’Afrique oder Emergent Bass. Experimentelle Ansätze wie Creamcake oder DRY. Und sexpositive Kollektive wie Berlin Strippers Collective oder Pansy and the House of Presents. Die Szene ist zum Glück auch 2022 noch bunt und ausdifferenziert. Fernab des Techno-Mainstreams gestalten diverse Veranstaltende und Performende besondere Partyerlebnisse, die den entsprechenden Bedürfnissen ihrer jeweiligen Crowd angepasst sind.
Diese Diskussion über diese vermeintlich ursprünglichen Werte und die Philosophie der Szene zeigt auch, dass sich vielleicht gerade ein Generationenwechsel ankündigt.
Ob diese Fragmentierungung in Sub-Szenen nicht dem ursprünglichen Gedanken vom Dancefloor als vergemeinschaftendem Ort, wo jede:r willkommen ist und friedlich koexistieren darf, entgegenstehe, wurde ich kürzlich nach einer Paneldiskussion gefragt. Gefolgt von nostalgischen Anekdoten, die davon handelten, wie in den Neunzigern im Tresor brandenburgische Arbeiter:innen neben studentischen Kriegsdienstverweigerern im gleichen Beat gestampft hätten. Das ist ein schönes Bild und eine Entstehungsgeschichte, die gerne erzählt wird. Wie viel nachträgliche Glorifizierung dabei mitschwingt, steht auf einem anderen Blatt.
Und selbst wenn es stimmt: Ja, die Szene hat sich verändert. Es gibt heute ein höheres Bewusstsein für Themen wie Awareness. Gerade für marginalisierte Menschen gibt es nach wie vor Bedarf an relativ abgeschlossenen safer spaces, in denen sie ausnahmsweise mal die Regeln selbst bestimmen dürfen. Und die Klassenfrage wird angesichts der Inflationswelle in den nächsten Jahren sicherlich mehr Menschen vom Nachtleben fernhalten, als uns lieb ist.
Diese Diskussion über diese vermeintlich ursprünglichen Werte und die Philosophie der Szene zeigt aber auch, dass sich vielleicht gerade ein Generationenwechsel ankündigt. Im Sound ist der jedenfalls jetzt schon zu hören. Kaum etwas spaltet die Dancefloors gerade wie der Trance-Hype und das Hard-Style-Revival; das schamlose Feuerwerk aus kitschigen Pop-Edits von Pokémon über Joachim Witt bis Bushido, das Acts wie DJ Heartstring, DJ Fingerblast, DJ Fuckoff, DJ Daddy Trance oder Narciss gerade auf den Dancefloors abfackeln. „Techno muss wieder Spaß machen!”, deklarierte Narciss kürzlich im Interview mit DJ Lab. Narciss nimmt die Techno-Szene als elitär wahr und findet, dass in Diskussionen über Modularsynths und Tools eine Art abgehobener Free-Jazz-Habitus mitschwinge.
Die Marschrichtung in 150+BPM-Geschwindigkeit scheint klar: Weg vom ernsten Techno-Purismus hin zum unbedingten, schambefreiten Fun. Narciss bezeichnet das als Wiederaneignung von Camp. Die zugehörigen Y2K-Outfits und schnellen Sonnenbrillen unterstreichen den Sound. Erreichen wir auf den Dancefloors gerade das Zeitalter der Hyperironie? Nach Auffassung der Autorin Charlotte Krafft entsteht durch diese ein Freiraum, „in dem wir Kunst jenseits der Kategorien von Ernst und Ironie betrachten können. Die Hyperironie erlaubt die unbelastete Art des Genusses, der kathartisch wirkt.” Klingt als Zukunftsperspektive eigentlich gar nicht so schlecht. Und ist vielleicht genau die richtige Attitüde, die es braucht, um diese Krise zu überstehen.
Am Ende des Rave-Jahres 1 „nach Covid” gibt es fraglos viele Probleme und Baustellen. Aber es gibt auch unfassbar viel Bewegung und Potenzial. Fundamentally we’re still the same. Fundamentally we’re entirely changed. Das Fundament wurde erschüttert, hat sich aber als krisenfest erwiesen. Nun warten wir gespannt darauf, was 2023 davon noch übrig ist. Und was Neues darauf wachsen kann.