Wie klingt eigentlich Mode? Die ebenfalls kanadische, zurzeit in den USA lebende Komponistin Monica Pearce nimmt diese Frage absolut wörtlich und geht der schieren physischen Präsenz, dem Objekt Sein der Stoffe nach, aus denen Mode gemacht wird. Die Oberflächen, Muster und Texturen der Materialien übersetzt sie auf Textile Fantasies (Centrediscs, 14. Oktober) unmittelbar in eng gewobene, rhythmische pulsierende musikalische Strukturen. Konzeptuell reduzierte Instrumentierung (Spinett und Spielzeugklavier) und minimalistische Strenge in der Konstruktion der Stücke trifft auf üppiges melodisches Ornament. Eine faszinierende medienästhetische Erfahrung.
Es ist ein reichlich unwürdiges Phänomen, dass es heute für einen breiteren Mainstream-Erfolg als Interpret:in von Klassik nicht mehr genügt, über jeden Zweifel erhabene instrumentale Fähigkeiten zu haben, zudem einen eigenen wiedererkennbaren Stil, eine eigene Sprache als Interpretin alter oder neuer Musik. Nein, es scheint mindestens noch ein Insta-taugliches visuelles Profil nötig, um in der Aufmerksamkeitsökonomie der klassischen Musik zu bestehen. Die Cellistin Marina Hasselberg aus (schon wieder) Kanada kann all das im Übermaß vorweisen, hat Bach, Brahms, Beethoven und Vivaldi im Repertoire. Toll und interessant, dass sie sich mit der Klassik nicht zufrieden gibt und (als Gegenpol oder als dialektisch verstandene Antithese) zur Interpretation noch die Improvisation gefügt hat. Ihre eigenen Arbeiten, solo für Cello und Elektronik, sind radikal frei und verspielt, experimentell ausprobierend, gerne milde disruptiv und fordernd, doch nie abweisend oder sinnentleerter Noise. Red (Redshift Records, 21. Oktober) bringt all dies scheinbar mühelos zusammen.
Dass eine radikal eigenwillige Improvisation an Streichern und Elektronik nicht aus einem klassischen, Improv- oder Elektroakustik-Kontext kommen muss, sondern ebenso gut aus einem Indie/Rock-Zusammenhang stammen kann, beweist die (ebenfalls) Kanadierin Jessica Moss aufs Neue auf Galaxy Heart (Constellation Records, 7. Oktober). Weniger elektrisch, aber ähnlich rau und oberflächenintensiv wie Marina Hasselberg schrabbt und knirscht Moss ihr Instrument, die Violine, in emotionsgeladene Klangextreme.
Dass aus Kanada modernistisch eingefärbter Latin-Pop kommen kann, sollte ja eigentlich keine Überraschung mehr sein. Das Montrealer Trio Lash führt auf seiner Debüt-EP House of Women (Éditions Appærent, 30. September) alte Avantgarde (Garcia de Lorca) und minimalistischen, spanischsprachigen R’n’B-Pop in eine komplexe Zukunft.
Hi-Energy-Ambient-Free-Jazz-Drum’n’Bass. Das ist nicht erst seit Squarepusher ein höchst erfolgreiches Genre im Graubereich von Elektronik und altehrwürdigem Prog. Für den (natürlich) Kanadier Jairus Sharif ist es das Fluidum, in dem er sich auf Water & Tools (Telephone Explosion Records, 21. Oktober) mit äußerster Lässigkeit bewegt. Mit der Präzision und der instrumentalen Tiefenbeherrschung eines Math-Rockers und der psychedelischen Freiheit zum notwendigen Freakout. Wobei Ordnung und Chaos, Energie und Ruhe, Ausbruch und Introspektion hier immer wohlsortiert sind, in jeweils optimaler Dosierung zusammenkommen.
Es gibt natürlich nicht nur in Kanada wagemutige Instrumentalist:innen, die gerne ihren Genrezusammenhang transzendieren. Rechts unten statt links oben auf der eurozentrischen Weltkarte verfolgt der Trompeter Peter Knight eine Verschmelzung von modalem Jazz, Ambient und Elektronik abseits der bekannten Fourth-World-Kanäle und -Ausdrucksformen. In Big-Band-Besetzung mit dem Australian Art Orchestra bis hin zu kammermusikalischen und Solowerken wie nun Shadow Phase (Room40, 7. Oktober), einem Produkt des letzten Lockdowns. Einerseits eine typische Covid-Arbeit also, die die Kollaboration indirekt macht, zeitlich und räumlich abgetrennt, aber eben auch die Möglichkeit bot, die eigene Arbeits- und Ausdrucksweise einmal grundlegend in aller Ruhe zu überdenken, um zu etwas Neuem zu gelangen. Perfekt gelungen in diesem Fall.