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Motherboard: Oktober 2022

Für leicht angedunkelte, milde, melancholische Ambient-Klänge gibt es inzwischen ein überschaubares, aber doch nicht unwesentliches Publikum auf der ganzen Welt und eine weitgehend unüberschaubare Fülle an Produzent:innen und Labels, die definitiv nicht mehr überschaubare Mengen an Veröffentlichungen von fast durchwegs erstaunlich hoher Qualität vorantreiben. In der alten, neuen Unübersichtlichkeit ist es höchst erfreulich, sich auf die Kuration von Labels verlassen zu können, die eine offene, globale Labelpolitik betreiben und veröffentlichen, was sie für gut halten, ohne auf Lokalität, Szene-Herkunft oder Peergroup zu achten. Die Muzan Editions aus Osaka sind so ein Label. Oder näher dran: der Vaagner-Zusammenhang aus Berlin. Selbiger hat zum Beispiel rare Tapes der Motherboard-Favoritinnen Ekin Fil und Clarice Jensen wiederveröffentlicht oder den amerikanischen Country-Experimentalisten J. Carter. Die jüngste Kassetten-Kollektion erweitert den Künstlerstamm weiter um den Manchester Labelbetreiber und Komponisten Craig Tattersall, der unter seinem bekanntesten Alias The Humble Bee zwei langformatige Stücke für das Tape-Sublabel VAKNAR gebaut hat, die diese Philosophie der Offenheit in Introversion wunderbar repräsentieren. Der milde Herbst wird enden, und gegen das, was danach kommt, bietet An Opposite Fall (VAKNAR, 23. September) wenn schon kein Gegenmittel, so doch vielleicht eine unterstützende Immunisierung.

Der Franzose Théo Martin alias THME liebt den brüchigen, manchmal ins Morbide driftenden Lo-Fi-Sound von Kassetten. Sein Tape-Album A Grasp Of Wonder (VAKNAR, 23. September), sein drittes nach Veröffentlichungen auf Seil Records und ROHS! Records (zwei weitere Labels, denen ich eine ähnliche Offenheit und Sorgfalt in der Kuration zuschreiben würde), spielt nahe an der Stille, nahe an der Selbstaufgabe von Magnetband und Erinnerung. Wunderschön und tieftraurig.

Der ebenfalls französische David Lacroix alias Appropriate Savagery hat einen etwas anderen Hintergrund als die restlichen Veröffentlichungen. Ähnlich den vorwiegend dänischen Janushoved-Künstler:innen kommt Lacroix eher von Industrial und Noise, hat sich aber im Laufe der Zeit zunehmend für Stille und instrumentale Schönheit interessiert – die Art von Schönheit, die nach einem langen Zerfallsprozess übrig bleibt, die eine Erinnerung an das Leben mitgibt. Das Tape Inneterre, Reborn (VAKNAR, 23. September) ist trotz der teilweise martialischen Tracktitel der bisherige Höhepunkt dieser Entwicklung.

Wie viel musikalisch gerade geht in Kanada, habe ich in den vergangenen Ausgaben des Motherboard immer wieder angemerkt. Beinahe egal, um welchen Stil es sich handelt, von Jazz über Ambient und Postrock zu Avant-Pop und Neoklassik, finden sich vor allem im frankophonen Kanada tolle Exponent:innen für das Beste was, im jeweiligen Bereich gerade geht. Schickt sich nun Mathieu David Gagnon aus Québec, der sich für sein Kompositionsprojekt das blumige Pseudonym Flore Laurentienne ausgedacht hat, womöglich an, das Erbe Jóhann Jóhannssons anzutreten? Zumindest dessen Soundtrackphase der frühen Zehnerjahre? In der Kombination von sparsamer Elektronik mit üppigster orchestral ausgebreiteter Melodik und genau abgemessenem, gerade noch sinnvollem Pathos dürfte Jóhannssons Werk unerreichbar bleiben, Gagnons Sammlung von Orchesterwerken, Volume II (RVNG Intl., 21. Oktober), arbeitet allerdings schwerstens darauf hin, in diesem Bereich einen eigenen Platz zu finden, niemanden zu ersetzen, sondern eine neue Stimme in alter Stimmung zu werden. Noch ist er nicht ganz da. Aber es wird.

Es muss ein interessanter Blumenladen sein das „Rose Drummond” in Québec, dem nicht nur ein Label und zwei Kompilationen gewidmet wurden, sondern nun auch noch das Album Rose Drummond (DAME/Ambiances Magnetiques, 9. September) der dortigen Jazz-Institution Jean Derome. Der hat das Album zum Anlass genommen, als Hommage eine Art Best Of aus 40 Jahren musikalischer Freiheit zu veröffentlichen. Soundcollagen, Improvisation, Spoken-Word-Poetry, Chansons, traditioneller Jazz, spiritueller Freak-Out, vergrübelter Improv – alles drin, alles kollektiv suchend und individuell freidenkerisch, und doch im Rahmen des musikalisch wie inhaltlich fühl- und verstehbaren. Das erinnert in Temperament und Ausführung nicht selten an den ähnlich hyper-freigeistigen Franzosen Ghédalia Tazartès, der vergangenes Jahr gestorben und immer eine Reminiszenz wert ist.

Die kanadische Perkussionist:in Yang Chen interpretiert auf longing for _ (People Places Records, 11. November) die Werke zeitgenössischer Komponist:innen und Improvisateur:innen. Wobei die Stücke nicht unbedingt für Schlagwerk geschrieben sein und erst recht nicht danach klingen müssen. Interpretieren ist in ihrem Fall also reichlich untertrieben. Die Stücke werden letztlich neu erfunden, so ungefähr zwischen Gamelan-Glitch und Hyperpop, und mit Instrumenten wie Steel Drum, Fahrrad und Barbecue-Grill. Ein beeindruckendes Ding jenseits aller Kategorien.

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