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Motherboard: Oktober 2022

Vibes, eine DIY-Haltung als Energiequelle, die experimentell wie eklektisch Alt und Neu verbindet und dabei sorgfältigst Genre und Zugehörigkeit ignoriert, findet sich nicht nur in Provinzamerika. Sogar (oder gerade) im satten München gedeiht ein widerhakelig-borstiges Pflänzchen, das den Geist von Post-Punk und No-Wave in wütend-bunte, elektrische Dringlichkeit übersetzt. Das erweiterte Duo-Quartett von Anna McCarthy und Manuela Rzytki What Are People For? Fragt sich eben das auf dem Debüt What Are People For? (Alien Transistor, 21. Oktober) und findet überraschend unzynische Antworten.

Die australische, mindestens fünf- bis siebenköpfige, anonyme, maskentragende Combo This Is Serious Mom beziehungsweise TISM hat sich den „Seltsam-Seit-1982”-Sticker in aller Würde und Unwürdigkeit redlich verdient. Zum 40. Bandjubiläum gibt es nun die große Retrospektive Collected Versus (Seeland Records, 11. November) mit dem (zumindest für Kölner) adäquaten Releasedatum am Elften im Elften, die von satirischem Anti-Rock in Residents-Manier bis hin zu Gabber-Kabarett im Songformat den Geist von Post-Punk und No-Wave nicht nur heraufbeschwört, sondern einfach lebt, in all der Zeit immer gelebt hat. Dass sie damit sogar mehr als einmal die australischen Charts gestreift haben, ist vielleicht das Erstaunlichste daran.

Das New Yorker Duo Macula Dog scheint dringlich nach einer intensiven Behandlung mit Ritalin oder anderen Substanzen zu verlangen. Wie gut, dass sie es nie bekommen haben. Ihr zweites Großwerk Orange 2 (Wharf Cat, 7. Oktober) haut jedenfalls geniale Micro-Hyper-Pop-Songs raus wie nix Gutes. Zumindest war das wohl der Plan. Was dann wirklich daraus geworden ist: genial hyper-hibbelige Bleeps und Clonks mit Unmengen exzellent unkoordiniert verschüttetem Sinn und Verstand.

Dass sich ausgerechnet der Berliner Kanadier Nicolas Bougaïeff in die Reihe der elektronischen Weirdo-Entertainer einordnen würde, war so nicht zu erwarten. Hat er doch bislang vorwiegend hinter den Kulissen gearbeitet (etwa als Toningenieur für Richie Hawtin) und selbst nur ein Album mit elektroakustisch verfeinertem Dunkeltechno veröffentlicht. Nicht viel davon ist in Begin Within (Mute, 11. November), das die Koordinaten von zeitgenössischem Dark Ambient und schwerer Electronica einmal komplett durchfährt und mit Vocoder-verzerrten oder -gepitchten Trap-Vocals verziert. Eine eigenwillige Entscheidung, die aber irgendwie funktioniert. Ohne Vocals wäre das ganze ein exzellent produziertes Electronica-Album auf der Höhe der Zeit. So ist es etwas deutlich Seltsameres.

Ziellos, aber nicht sinnlos herumblubbern. Mäandern, ohne irgendwo ankommen zu müssen und doch immer genau auf den Punkt richtig zu liegen, das ist die Domäne der Solo-Synthesizerarbeiten des unermüdlichen Chicagoer Musikers und Produzenten Sam Prekop. Der hat im Düsseldorfer Stefan Schneider, auf dessen Label TAL Prekops jüngstes Solowerk erscheint, ein transatlantisches Gegenstück gefunden, das einfach exzellent zusammenpasst. Denn die dubbigen Schleifen und Hüllkurven von The Sparrow (TAL; 7. Oktober) klingen mehr als einmal nach Schneiders Mapstation, ohne dessen Sound zu kopieren. Es ist einfach diese ausgeruhte, lässige Eleganz in Sound und Produktion, die sie drin und drauf haben.

Der Sound des belgischen Komponisten und Rettungsschwimmers (!) Roméo Poirier passt so perfekt in das Portfolio von Faitiche, dass mal wieder der Verdacht aufkommt, hier ein weiteres Alias von Jan Jelinek vor sich zu haben. Doch nehmen wir mal an, dem sei nicht so, dann findet sich auf Living Room (Faitiche, 7. Oktober) eine in feinste Details austarierte Überformung von Sample/Collage/Glitch-Ästhetik und avanciertem Soundprocessing. Etwas, das sich abzüglich der geraden Beats doch sehr, wirklich sehr nach Jelineks feinstofflichem Alias Gramm anhört, das er aber bereits nach einem Album, (Personal_Rock) von 1999, wieder aufgab. Allein die Tatsache, dass überhaupt jemand an diesen Sound wieder andockt und ihn produktionell in die Jetztzeit transferiert, hat einen Wert an sich und für sich. Wunderbares Album.

Nostalgie und Sehnsucht nach den großen Momenten vergangener Euphorie, real oder vorgestellt, das ist in jedem Fall eine sehr leicht verständliche und nachvollziehbare Regung, der der Schweizer Produzent Feldermelder ein ganzes Album gewidmet hat. Für Euphoric Attempts (-OUS, 14. Oktober) bedient sich Manuel Oberholzer den von Pinkcourtesyphone, Stephan Mathieu oder The Caretaker bekannten Stilmitteln, orchestrale Samples mürbe zu machen, digital auszuwaschen, bis nichts mehr übrig ist als ein verwehtes Echo der früheren Stärke. Eines, das aber die ehemalige Quelle seiner Stärke nicht vergessen hat, nämlich genau den großräumigen Überschwang, das Philharmonie/Ballroom-Sentiment. All die verdrängten oder gar nicht erst miterlebten Momente.

Nach der kleinen Fallen-Retrospektive im August legt Lorenzo Bracaloni mit Moonlight Romance (Aural Canyon, 7. Oktober) noch einmal mächtig nach. Ein weiterer Schritt im einzigartig Werden des bereits ziemlich perfekt durchdachten und emotionalen Sounds von Fallen. Eine Essenz mitternächtlicher Melancholie, als warme Erinnerung an vergangene Freuden, abwesende Freunde, verwehte (aber nicht vergessene) Lieben in gewittrig aufgeladenem Schönklang.

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