Erwähnte ich eigentlich in dieser Kolumne, wie ermüdend ich inzwischen die Verwendung des immergleichen Samples dieses genau einen bulgarischen Frauenchors in irgendwie elektronischen Tracks finde? Nun, der polnische Produzent Naptha ist angetreten, hier Abhilfe zu schaffen. Sein Album Żałość (Tańce, 28. Oktober) samplet zwar ebenfalls schwerstens aus der Tradition (der polnischen allerdings) und bringt Balladen, Frauenchöre, Volkstänze und Trauermärsche in einen elektronischen Zusammenhang mit Beats und Bässen. Diese Wechselbeziehung zwischen Sample und Hintergrund stellt Paweł Klimczak allerdings ziemlich originell her. Folklore dient hier eben nicht als Lieferant exotisch würziger Samples, sondern ist grundlegend und tief eingebunden in die Gesamtstruktur. Umgekehrt dürfen die Samples auch mal ganz unbearbeitet spielen. Da klingt sogar die Kombination von Dubstep-Bässen mit verrauschten Samples wieder frisch.
Im erweiterten Sinne die Vergangenheit via Sample einholen und die dunkle Melancholie des Erinnerns (und Vergessens) hervorbringen, das ist das Metier, das Grimório de Abril aus Brasilien meisterlich beherrscht. Ihr zweites Album The Glass Labyrinth (Crash Symbols, 19. August) treibt den Sound-Synkretismus noch um einiges weiter als zuvor. Samples und Soundprocessing sind nur ein Bestandteil von Veridiana Sanchez’ geisterhafter Neuerfindung der klanglichen Wärme der Música Popular Brasileira mit einem kalten Hauch Industrial und post-sowjetischer Synthesizerbastelei. Es sind tatsächlich richtige Songs, die hier in der Nachbarschaft von Mitternachtsmesse, Candomblé-Ritual und Block-Party aus der Isolation sprechen. Dabei sind aber nicht: Gespenster uralter Melancholie und brandneuer Nostalgie.
Wenn Freude am Experiment in fein gesponnenen, ätherischen Popsongs in Shoegaze/Noiserock-Besetzung endet, ist die Motherboard-Redaktion ganz einfach zu begeistern. Wenn noch handwerkliche Perfektion in der Bedienung der Instrumente und Produktion dazukommt wie bei der Kandierin Anna Arrobas, kann tatsächlich nichts mehr schiefgehen. Made To Touch (Éditions Appærent, 14. Oktober), das Debüt der mit der Singer/Songwriterin gleichnamigen vierköpfigen Band, deren Mitglieder ansonsten in Marie Davidsons Post-Wave-Projekt L’Œil Nu spielen, enttäuscht keine dieser Erwartungen. Eine Fortführung der emotional aufreibendsten Stücke der Cocteau Twins, gepaart mit zeitgenössischem Soundprocessing à la Billie Eilish auf der Stimme (mangels tieferem technischen Verständnis hier einfach „der krötige Kehlenfilter” bzw. „das knirschende Sandpapier-auf-Glas-Plugin” genannt) ist hier definitiv immer richtig.
Sogar die Istanbuler Motherboard-Favoritin Ekin Fil hat wieder zur Gitarre zurückgefunden. Auf Dora Agora (The Helen Scarsdale Agency, 7. Oktober) sind die als Songs erkennbaren Stücke aus verhalltem E-Gitarren-Delay und verwaschener Stimme, also im klassischem Grouper-Style, klar in der Mehrzahl. Ja, hin und wieder könnte man sogar beinahe erahnen, was sie gerade singt. Da ist dann aber doch der Spirit des Shoegaze. Feine Rückbesinnung und ein subtil verrauschter Hinweis darauf, dass Ekin Üzeltüzenci, wie sie mit bürgerlichem Namen heißt, eigentlich ein Rockstar sein könnte, ja müsste, in einer besseren (melancholischeren und friedlicheren) Welt.
Etwas konventioneller indierockend, aber nicht weniger hübsch und extrem Lo-Fi-rumpelnd-verrauscht kommt die Skice EP (Fun In The Church/Bertus, 2. September) daher, das Debüt der smarten Berliner Neo-Shoegazer Roomer. Allein schon die Textzeile „I wear silecnce as my crown” feiere ich wie nix Gutes.
Der Franzose Seb Martel ist ein vielgebuchter Session- und Tour-Gitarrist mit großer stilistischer Bandbreite von Fusion-Jazz oder Afrobeat bis French Pop. Solo (aber selten alleine) operiert er an seinem Instrument gerne etwas experimenteller. Für sein jüngstes Album durchmisst er die Klangwelt der E-Gitarre vom frühen Rock’n’Roll bis zur zeitgenössischen Improvisation mithilfe von neun Vintage-Gitarren aus dem Pariser Museé de la Musique, unter anderem der titelgebenden Saturn 63 (Infiné, 16. September) der deutschen Manufaktur Hopf. Das kann in melancholischen Coverversionen alter Songs enden, in Post-Rock-Etüden oder in rhythmisiertem Knarzen. Gemeinsam ist den Stücken der üppig hallende Sound der edlen alten Geräte, die allen Stücken eine leicht melancholische bis nostalgische Note mitgeben. Als Solokünstler ist Martel einer der ganz Leisen und Subtilen.
Im Hause Bytes/Ransom Note pflegt man eine gute Verbindung zu alten Shoegazern und Ex-Rockern von Ride, wie die tanzbar-technoide Electronica von Sänger und Gitarrist Andy Bell alias GLOK bereits mehrmals demonstriert hat. Nun zieht der Bassist der Band mit einem tollen Spoken-Word-Ambient-Projekt nach. Sun Moon Town (Bytes, 14. Oktober) von Steve Queralt & Michael Smith nutzt die markante Stimme des britischen Autoren und Filmemachers Smith über Queralts krautig-schweren Synth-Soundscapes, um spannungsgeladene, hochpoetische Geschichten zu erzählen. Wie neulich erst Catherine Graindorge und Iggy Pop, nur eben elektronischer und britischer.
Dass die skandinavischen Orgeln gerade am lautesten und tollsten dröhnen und dronen, habe ich in diesem Rahmen schon öfter deklamiert. Wollen wir Benelux noch dazunehmen? Denn der Belgier Maxime Denuc fügt der neuen Orgel-Avantgarde noch einen hochinteressanten Dreh hinzu. Seine Stücke Nachthorn (Vlek, 21. Oktober) sind nicht für menschliche Interpreten gedacht, sondern über Fernsteuerung qua MIDI-Protokoll auf der Orgel der St. Antonius Kirche in Düsseldorf-Oberkassel eingespielt. Wobei die Stücke, ein weiterer spannender Twist, im Prinzip alles klassische Early-Techno-Tracks ohne Beat sind. „Strings of Life” all over again.